Rezension über:

Béatrice von Hirschhausen: Les Provinces du temps. Frontières fantômes et expériences de l'histoire, Paris: CNRS Éditions 2023, 397 S., ISBN 978-2-271-14536-9, EUR 22,38
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Rezension von:
Fritz Taubert
Université de Bourgogne, Dijon
Redaktionelle Betreuung:
Christoph Schutte
Empfohlene Zitierweise:
Fritz Taubert: Rezension von: Béatrice von Hirschhausen: Les Provinces du temps. Frontières fantômes et expériences de l'histoire, Paris: CNRS Éditions 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 12 [15.12.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/12/39828.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Béatrice von Hirschhausen: Les Provinces du temps

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Das hier besprochene Buch beschäftigt sich mit "Phantomgrenzen" und der Konstruktion von sozialem Raum; die Autorin Béatrice von Hirschhausen, Spezialistin zur Geschichte des ehemaligen Habsburger-Raums, das heißt der verschiedenen Staaten in Osteuropa, die 1919 entstanden bzw. nach 1990 wieder entstanden sind, forscht am Centre national de la recherche scientifique (CNRS), dem französischen Pendant zum deutschen Max-Planck-Institut, und leitete darüber hinaus von 2011 bis 2017 das Interdisziplinäre Kompetenznetzwerk "Phantomgrenzen in Ostmitteleuropa". In der vorliegenden Publikation werden offenbar die Ergebnisse dieser Forschungen, die bisher vor allem auf Deutsch veröffentlicht wurden [1], in monografischer Form auf Französisch publiziert. Die Verfasserin stellt zu Beginn mithilfe von Karten Beispiele für solche sogenannten Phantomgrenzen dar, etwa das Präsidentschaftswahlverhalten in Polen 2015 (Kandidaten waren Andrzej Duda und Bronisław Komorowski). Die geografische Verteilung der Wählermehrheiten lässt längst verschwundene Grenzen wieder erscheinen: Grenzen, die einstmals existiert haben und eine vergangene Realität widerspiegeln, die aber eben nicht völlig verschwunden sind, somit also "Phantomgrenzen" abbilden.

Ein weiteres Beispiel - von den zahlreichen, die Hirschhausen anführt - für eine "Phantomgrenze" stellt laut Hirschhausen das Wahlverhalten auf dem Territorium der ehemaligen DDR dar, das nun schon relativ lange integraler Bestandteil der BRD ist: dort wird mehrheitlich nicht "bundesrepublikanisch" gewählt, sondern vielmehr AfD beziehungsweise Die Linke, die in der "alten" BRD eher schwach vertreten sind, obwohl die neuen Bundesländer sich der "alten" BRD rein wirtschaftlich bereits stark angenähert haben. [2]

Nach einer ausgiebigen Analyse und Diskussion der Autoren, die sich mit ähnlichen Themen bereits beschäftigt haben (seit den 1970er-Jahren sind "geohistorische" Themen offenbar vielfach in der Forschungsliteratur zu finden), wählt die Verfasserin als theoretischen Hintergrund doch relativ "klassische" Ansätze wie die von Reinhart Koselleck eingeführten Kategorien des "Erfahrungsraums" und des "Erwartungshorizonts". Die Wahl fällt auf diese Begriffe, da sie nicht nur für Phänomene, die historisch gefasst werden sollen, sondern auch für solche, die in die Zukunft reichen können und somit eine offene Entwicklungsperspektive haben, verwendet werden können.

Das Interessanteste an dem Band, jedenfalls für einen Nicht-Spezialisten des spatial turn, sind allerdings die Fallbeispiele, die Hirschhausen wählt, zum Beispiel in Polen: Es ist faszinierend, dass sich bei der Analyse der schulischen Bildung der Bevölkerung "Phantomgrenzen" feststellen lassen (und zwar bis nach der Wende 1989), welche die Teilungen zwischen Preußen, Russland und Österreich im späten 18. Jahrhundert widerspiegeln.

Die Verfasserin interessiert sich in ihrer Untersuchung allerdings jenseits solcher Einzelbeispiele auch für das allgemeine Phänomen, dass sich Verhaltensweisen bestimmter Bevölkerungsgruppen "lokalisieren" lassen, wobei in vielen Fällen die Abgrenzung solcher Verhaltensweisen entlang längst verschwundener Grenzen verläuft.

Im Hauptteil untersucht Hirschhausen zwei in etwa gleich große, sozial ähnlich strukturierte und auch wirtschaftlich vergleichbare Gemeinden in Rumänien, die westlich bzw. östlich der Karpaten liegen. Das westliche Constantin Daicoviciu gehörte bis 1919 zum österreichischen Teil des heutigen Rumänien, das östliche Şişeşti zum russischen Teil. Als Fallbeispiel nimmt die Verfasserin ein wahrhaft alltägliches Thema: die Wassernutzung im Wohnbereich eines Hauses. Festzustellen ist hier, dass in Şişeşti noch zu Beginn des Untersuchungszeitraums im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sehr selten Wohnhäuser mit Zugang zu fließendem Wasser zu finden waren. In Constantin Daicoviciu ist fließendes Wasser dagegen gang und gäbe - und das seit Langem. Erstaunlich sind die Begründungen der Bewohner des östlichen Dorfes für dieses Phänomen. Hier zeigen sich nicht Unwissen oder Unfähigkeit - natürlich könnte "man" sich fließendes Wasser ins Haus verlegen lassen bzw. dies selbst tun. Dass dies nicht geschieht, wird auf unterschiedliche Weise erklärt, so etwa durch Tradition oder auch damit, dass das Wasser aus dem Brunnen im Hof gesünder sei. Der im Sinne der Theorie von Hirschhausen einschlägigste Grund ist allerdings die Aussage des Bürgermeisters von Şişeşti, der "Fortschritt" in dem westlich gelegenen Constantin Daicoviciu, wo fließendes Wasser in den Häusern üblich ist, sei dadurch zu erklären, dass dort Maria Theresia geherrscht habe. Hier zeigt sich also eine "Phantomgrenze" zwischen "denen" und "uns", die zu Beginn des 21. Jahrhunderts über 200 Jahre alt ist.

Im angeblich durch Maria Theresia geprägten Vergleichsdorf im Westen beobachtet die Autorin denn auch, dass Errungenschaften, die fließendes Wasser benötigen, wie zum Beispiel eine Waschmaschine, zum Lebensstandard selbst bescheiden lebender Personen gehören, die solches aus ihrer Vorstellung von "anständigem" Leben weder wegdenken wollen noch können - und dabei auf den Lebensstandard im "Westen" verweisen.

Hirschhausens Untersuchung ist mikrohistorisch und geografisch ausgerichtet, doch erschöpft sie sich nicht in solch allgemeinen Charakterisierungen. Die wissenschaftliche Originalität des Buchs besteht nicht nur im Untersuchungsgegenstand, sondern vor allem auch in der Methode: Raum und Zeit, Geografie und Geschichte, werden in einem gemeinsamen Konzept zusammengeführt, das die Möglichkeit bietet, zu erforschen, welche Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft auf welchem historischen Erbe beruhen. Die Erfahrungen sind - im Sinne von Koselleck - durch einen gemeinsam erlebten Raum geprägt, dessen Geschichte gleichsam im Unterbewusstsein "überlebt". Die Untersuchung unterschiedlicher Verhaltensweisen in ehemals getrennten Staaten (ehem. BRD bzw. DDR) oder innerhalb eines heutigen Staates, der in zwei Jahrhunderten viele Grenzverschiebungen zu verzeichnen hatte (verschiedene Landesteile Rumäniens), weist auf Grenzen zurück, die rein politisch längst nicht mehr existieren, aber anlässlich bestimmter Ereignisse (Wahlen) oder auch mit Blick auf alltägliche Praktiken (zum Beispiel Bauweise von Häusern, Umgang mit alltäglichen Gebrauchsgütern wie Trinkwasser) wieder aufscheinen - eben "Phantomgrenzen".

Die Einführung von Neologismen wie géorécit unter anderem wirkt übrigens keineswegs aufgesetzt oder gar hinderlich; die dahinter erkennbare Intention der Autorin, bestimmte neue methodische Elemente auch neu zu benennen, überzeugt.

Hirschhausens Buch produziert mit der originellen Verknüpfung von Geschichte und Geografie (die in Frankreich eher üblicher ist als in Deutschland) einen "Mehrwert", der auch darauf beruht, dass sie sich auf Objekte/Phänomene konzentriert, die in dieser Weise nicht häufig verbunden werden. Dem Buch ist somit in Frankreich auch wegen des interdisziplinären Zugriffs eine weitere Verbreitung zu wünschen. Der Rezensent gesteht, das Buch mit Skepsis zu lesen begonnen und mit immer größer werdendem Interesse beendet zu haben - mit Gewinn!


Anmerkungen:

[1] Béatrice von Hirschhausen / Hannes Grandits / Claudia Kraft / Dietmar Müller / Thomas Serrier: Phantomgrenzen - Räume und Akteure in der Zeit neu denken, Göttingen 2015; Michael G. Esch / Béatrice von Hirschhausen (Hgg.): Wahrnehmen, Erfahren, Gestalten. Phantomgrenzen und soziale Raumproduktion, Göttingen 2017; Béatrice von Hirschhausen: Leçon des frontières fantômes. Les traces du passé nous viennent (aussi) du futur, in: L'Espace géographique 46 (2017), 2, 97-105. - Da der Rezensent keinen Zugriff auf diese Publikationen hatte, ist er nicht in der Lage zu vergleichen, inwiefern das hier besprochene Buch den auf Deutsch erschienenen Bänden der Autorin und anderer Teilnehmer an dem Projekt ganz oder teilweise entspricht.

[2] Der Rezensent mag in diesem Fall der Autorin nicht folgen. Die ablehnende Haltung vieler DDR-Bürger gegenüber den Parteien der "alten BRD" scheint sich ihm nicht mit georécit (in etwa: "Geoerzählung" - einem von mehreren von Hirschhausen eingeführten Neologismen, mit dem sie den geohistorischen Aspekt ihrer Studie betont) erklären zu lassen: Das ursprüngliche Wahlverhalten der "Neubürger" aus der DDR entsprach nicht unbedingt dem heutigen Verhalten, sondern folgte mehr oder weniger dem Wahlverhalten des "Kolonisators", als welcher die BRD heute bisweilen gesehen wird. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die AfD mittlerweile auch im "Westen" in Wahlumfragen bei etwa 20 % liegt - im Gegenteil.

Fritz Taubert