Rezension über:

Carolin Katzer: Konflikt - Konsens - Koexistenz. Konfessionskulturen in Worms im 18. Jahrhundert (= Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte; Bd. 146), Münster: Aschendorff 2022, 508 S., ISBN 978-3-402-26631-1, EUR 62,00
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Rezension von:
Frank Konersmann
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Frank Konersmann: Rezension von: Carolin Katzer: Konflikt - Konsens - Koexistenz. Konfessionskulturen in Worms im 18. Jahrhundert, Münster: Aschendorff 2022, in: sehepunkte 25 (2025), Nr. 2 [15.02.2025], URL: https://www.sehepunkte.de
/2025/02/37423.html


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Carolin Katzer: Konflikt - Konsens - Koexistenz

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Der vorliegenden Untersuchung liegt eine Dissertation zugrunde, die im Wintersemester 2019/2020 im Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Universität Mainz eingereicht und von Prof. Dr. Matthias Schnettger zusammen mit Prof. Dr. Bettina Braun betreut worden ist. In einer umfangreichen Einführung (13-69), die das erste von insgesamt sechs Kapiteln darstellt, verortet die Autorin ihre Untersuchung in der "Regional- wie Reichsgeschichte" (17). Im Fokus steht die "Mehrkonfessionalität" in der Reichs- und Bischofsstadt Worms im 18. Jahrhundert, die von einem "Mit-, Neben- und Gegeneinander" von Reformierten, Lutheranern und Katholiken "gekennzeichnet" gewesen sei (14); die Rahmenbedingungen ihres Zusammenlebens werden in der Einführung ausführlich erläutert (vgl. 53-69). Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der Zerstörung der Stadt infolge des Pfälzischen Erbfolgekriegs durch französisches Militär 1689 bis zur Eroberung des linksrheinischen Gebietes durch die französischen Revolutionstruppen 1792 (vgl. 20f.).

In den folgenden vier, empirisch angelegten Kapiteln wird im umfangreichsten zweiten Kapitel (71-176) unter dem Stichwort 'Duldung einer Minderheit' der mühevolle und konfliktreiche Weg zur Bildung einer reformierten Kirchengemeinde geschildert; sie musste ab 1700 zunächst mit einer hölzernen Notkirche Vorlieb nehmen, bevor ihr dann mit Unterstützung Preußens 1744 die Errichtung der Friedrichskirche gelang. In dem kürzesten, dritten Kapitel (177-248) werden die konflikthaltigen Vorgänge um die konfessionelle Nutzung von drei zentralen Kirchenräumen erläutert: Errichtung der lutherischen Dreifaltigkeitskirche 1725, Beanspruchung der Magnuskirche durch den lutherischen Magistrat und Abhaltung öffentlicher Gottesdienste in der Kapelle zum Weißen Kreuz durch den Johanniterorden. Im vierten Kapitel (249-348) werden verschiedene, von katholischen Obrigkeiten seit 1697 initiierte Prozessionen und auch Versehgänge für Sterbende in den Blick genommen, wobei letztere von lutherischen Stadtbewohnern und selbst vom Stadtrat akzeptiert wurden. Im fünften Kapitel (349-424) werden Mischehen und gemischtkonfessionelles Familienleben einfacher Kirchenmitglieder kontrastiert mit der skeptischen bis ablehnenden Haltung von Obrigkeiten und Geistlichen.

Die in diesen vier empirischen Kapiteln erläuterten Beziehungsformen zwischen den Mitgliedern der drei Amtskirchen würden - so die leitende Hypothese der Untersuchung - erkennbar machen, dass nicht nur Konfession als eine "eigene geschichtsmächtige Kraft" noch im 18. Jahrhundert wirksam gewesen sei (22), sondern auch Konfessionskulturen für einfache Gläubige, aber auch für Obrigkeiten weiterhin als ein hoch symbolischer und sozialer Raum genutzt worden seien und ihre "Erinnerungen, Handlungen, Wahrnehmungen" ganz wesentlich geprägt habe (24). Für die Erschließung konfessionsrelevanter Beziehungsformen und Handlungsräume unterschiedlicher Akteure in Worms nimmt die Autorin heterogene kulturgeschichtliche und soziologische Ansätze in Anspruch, die von Rudolf Vierhaus über Pierre Bourdieu, Rudolf Schlögl, Thomas Kaufmann bis Birgit Emich reichen (vgl. 19-26). Unverkennbar werden soziologische Betrachtungsweisen bevorzugt, um die jeweilige Funktion von Konfession in verschiedenen Konfliktszenarien zu erläutern, insbesondere bei der Inanspruchnahme von Kirchengebäuden, die als "soziale Räume" interpretiert werden und bei allen Akteuren Strategien des "spacings" erkennen ließen (24f.). Diese Betrachtungsweise hat freilich zur Konsequenz, dass Spezifika des jeweiligen amtskirchlichen Konfessionsverständnisses und auch der Konfessionskulturen auffallend vernachlässigt, wenn nicht sogar bewusst ausgeblendet werden (vgl. 351). Dieser Entscheidung liegen verschiedene Annahmen zugrunde, wonach etwa Konfession "keinesfalls eine feststehende Größe" (419) gewesen sei und sich auch "die Grenzen zwischen den Konfessionskulturen" als "emergent" erwiesen hätten (123), wobei die Autorin hierbei vor allem die Praxis einfacher Kirchenmitglieder zum Maßstab wählt.

Bei dem über Jahrzehnte sich hinziehenden Wiederaufbau der Stadt musste der lutherische Stadtrat als anerkannter Reichsstand fortwährend alle ihm zur Verfügung stehenden Rechtsmittel mobilisieren, um sich als Stadtobrigkeit zu behaupten und insbesondere seine Gerichtshoheit gegenüber den anderen politischen und kirchlichen Obrigkeiten durchzusetzen; zudem verweigerte er fortwährend den reformierten und katholischen Stadtbewohnern das Bürgerrecht und missachtete ihnen gegenüber auch das Reichskirchenrechtsprinzip der Parität. Die verbindliche Regelung und Steuerung innerstädtischer Konfessions- und Religionsangelegenheiten barg ein erhebliches Konfliktpotential, das in den 1720er und 1730er Jahren infolge von zwei Umständen reichsweit offensichtlich wurde. Diese beiden Umstände werden von der Autorin aber nur teilweise in den vier empirischen Kapiteln beachtet. So berücksichtigt sie zwar verschiedentlich die von dem pfälzischen Kurfürsten Karl Philipp betriebene Politik massiver "Rekatholisierung" am gesamten Oberrhein mit ihren Konsequenzen für Worms (49, 51f., 68f., 202, 264, 300), verkennt aber vor allem die verfassungspolitische Tragweite konfessionspolitischer Konflikte, die sich nach Verabschiedung des Rijswijker Friedens 1697 abzeichnete. Hierbei ging es um die Auslegung der Bestimmungen des Friedensvertrages, zumal eine Klausel, mit der die aktuellen katholischen Religionsverhältnisse festgeschrieben werden sollten, der Festlegung des sogenannten Normaljahrs 1624 im Westfälischen Frieden widersprach. Nach Einschätzung von Gabriele Haug-Moritz bildete dieser Dissens den Ausgangspunkt für die allmähliche Ausprägung konfessionsspezifisch konträrer Interpretationen des Reichskirchenrechts durch mächtige Reichsstände und auch durch das Kaiserhaus, so dass nicht nur eine Polarisierung der Reichspolitik einsetzte, sondern sukzessive auch die Delegitimierung der Reichsverfassung offensichtlich wurde. [1] Denn die evangelischen Reichsstände forderten zu Beginn der 1720er Jahre erstmals geschlossen und nunmehr unmissverständlich, dass zukünftig allein der Reichstag und nicht mehr - wie bisher üblich - der Kaiser in allen Religionsangelegenheiten zu entscheiden habe. Dieser Verfassungskonflikt wurde so virulent und folgenreich, dass ihn Haug-Moritz als wesentliche Ursache einer "rekonfessionalisierten Reichspolitik" zwischen 1719 und 1778 beurteilt hat. [2]

Diese Betrachtung hat die Autorin vor allem in der Einführung, hingegen bemerkenswerterweise gerade nicht im sechsten Kapitel, dem Gesamtfazit (425-442), zu einer reichlich überzogenen epochalen Einschätzung verleitet, die zuweilen ihre Beurteilung des Stellenwertes der Konfession in den lokalen Konflikten in Worms insofern beeinträchtigt, als sie andere Beweggründe zumeist nicht in Erwägung zieht; in dieser Hinsicht bildet das fünfte Kapitel über Mischehen eine Ausnahme. Denn die Autorin geht, erstens, von einem reichsweiten Vorgang der "Rekonfessionalisierung" aus und interpretiert das gesamte 18. Jahrhundert als "Zeitalter der Rekonfessionalisierung" (45-52), und, zweitens, beansprucht sie nichts Geringeres als eine zeitliche Erweiterung und sachliche Modifikation des älteren Forschungskonzepts der Konfessionalisierung. Denn es sei auf Vorgänge des 16. und frühen 17. Jahrhunderts mit dem Westfälischen Frieden als Schlusspunkt zugeschnitten und beschränkt worden (vgl. 45f.). Zudem seien überwiegend politische und amtskirchliche Aspekte der Konfessionskulturen beachtet, hingegen deren symbolische und kommunikative Aspekte - insbesondere unter Einschluss der einfachen Kirchenmitglieder - vernachlässigt worden (vgl. 23f.). Das so umrissene "Forschungsdesiderat [...] in der Konfessionsforschung" glaubt die Autorin mit ihren vier kulturgeschichtlich motivierten und stadtgeschichtlich verankerten Fallstudien über konflikthaltige Vorgänge anhand des "mehrkonfessionellen Zusammenlebens" in Worms eingelöst zu haben (15). Jedoch bleibt sie gerade bei der Beurteilung des konfessionellen Selbstverständnisses einfacher Kirchenmitglieder insbesondere des 18. Jahrhunderts auffallend vage (vgl. 301-306, 326f., 347f., 376, 397f., 401f. 417f., 422) und vor allem hat sie diesen für sie leitenden Gesichtspunkt nicht systematisch ihrer Untersuchung zugrunde gelegt, um ihn in den empirischen Kapiteln operationalisiert in Anwendung zu bringen.


Anmerkungen:

[1] Gabriele Haug-Moritz: Kaisertum und Parität. Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, in: Zeitschrift für Historische Forschung 19 (1992), 445-482.

[2] Ebd., 472.

Frank Konersmann