Wolfgang Dobras / Matthias Müller (Hgg.): Residenzstädte in der Transformation. Konkurrenzen, Residenzverlust und kulturelles Erbe als Herausforderung. Tagungsband der 60. Jahrestagung des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung (= Stadt in der Geschichte; Bd. 48), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2024, 414 S., 85 Farb-, 28 s/w-Abb., ISBN 978-3-525-30250-7, EUR 50,00
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Was wird aus einer Residenzstadt, wenn die Residenz nicht mehr da ist? Diese Frage war Gegenstand der 60. Jahrestagung des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung, die Ende 2021 in Mainz stattfand. Die vielen Fragen, die sich mit diesem Thema verbinden, macht Matthias Müller in einem ersten Kapitel zu Mainz deutlich, das neben Mannheim als zentrales Beispiel fungiert. Residenzstädte wurden bewusst gestaltet. Dieser Prozess war vielfach kontrovers, da er die bauliche Umsetzung von Herrschaftsvisionen darstellte, die auch im Gegensatz zu Vorstellungen der Bewohnerinnen und Bewohner der Stadt stehen konnten. In Mainz schlug sich das in der mächtigen Burganlage zum Schutz des Erzbischofs vor der Stadt nieder. Während ihrer Zeit als Residenz wurden Residenzstädte durch Paläste, Adelsresidenzen, Parks und Hauptstraßen sowie durch Befestigungen geprägt; diese mussten gebaut, unterhalten und mit Luxuswaren aller Art versorgt werden. Dabei standen sie, zumal in der politisch kleinräumigen Welt des Alten Reichs, in einer dauerhaften Konkurrenz zu anderen, gegebenenfalls angeseheneren oder prächtigeren Residenzen. Baute ein Herrscher neu, sahen sich alle, die sich ihm gleich erachteten, in der Pflicht, nachzuziehen - Mainz gegen Koblenz und Wien etwa. Nach der Zeit als Residenz galt es, mit dem baulichen Erbe umzugehen, sei es ablehnend, durch den Abriss von Palästen, sei es durch Versuche, die Erinnerung aufzunehmen und wachzuhalten, etwa durch architektonische Anklänge, wie sie einzelne neue Bauten in Mainz (das neue Rathaus oder das Allianz-Gebäude) auch nach dem Zweiten Weltkrieg versuchten.
Der erste größere Abschnitt des Bandes beschäftigt sich mit der Konkurrenz zwischen Residenzstädten. Harm von Seggern thematisiert einführend die Fülle möglicher Formen von Residenzstädten. Nach seinem plausiblen Vorschlag der Kategorisierung erforderte eine Residenz die länger dauernde Anwesenheit eines Herrschers und zentraler Institutionen, eine einigermaßen umfassende Bebauung und Bevölkerung im näheren Umfeld des Schlosses, einen Markt sowie die Interaktion zwischen dem Hof und der Bevölkerung der jeweiligen Stadt. Dabei wird aus seinen Ausführungen deutlich, wie viele unterschiedliche Muster es im Alten Reich gab: über Jahrhunderte, aber auch nur über eine Generation genutzte Residenzen, Residenzen, die sich zu Vororten entwickelten (so Linden bei Hannover), Residenzen, die nur geplant, aber nie realisiert wurden, mehrere Residenzen in einem Territorium oder rasch wechselnde, aber zu diesem Zeitpunkt außer Konkurrenz stehende Orte, ja sogar Residenzdörfer.
Die folgenden Aufsätze beschäftigen sich mit einigen dieser Konstellationen: der Konkurrenz zwischen Stuttgart, Tübingen und Bad Urach in Württemberg (Oliver Auge), den ganz unterschiedlichen Rollen von Innsbruck als Haupt-, Neben-, Kinder- und Frauenresidenz zwischen 1420 und 1665 (Nicole Riegel), den wechselnden Aufgaben Heidelbergs vor dem Umzug des Hofs nach Mannheim (Heike Hawicks) sowie Gotha im Verhältnis zu Coburg nach 1826 (Alexander Krünes).
Der nächste Abschnitt befasst sich mit den Folgen des Abzugs einer Residenz aus einer Stadt - für Bad Urach 1482 (Nina Gallion), für Celle 1714 (Heiko Lass), für Mannheim 1778 (Hiram Kümper), für Mainz 1797 (Wolfgang Dobras zu den Gewerben und Georg Peter Karn zu den Palästen) und für Koblenz seit 1797 (Katharina Thielen). Der letzte Abschnitt widmet sich dem Umgang mit dem baulichen Erbe der Residenzzeit, zweimal am Beispiel des Mannheimer Schlosses (Harald Stockert zum Gebäude sowie Uta Coburger zu Identität und virtueller Realität) sowie am Beispiel Weimar zwischen 1918 und der Gegenwart (Sebastian Dohe).
Die allesamt sehr gut geschriebenen, reich illustrierten und mit neuen Rechercheergebnissen oder Quellen aufwartenden Aufsätze legen insgesamt eine Reihe von Schlüssen nahe. Tendenziell scheint der Verlust der Residenz umso schwerwiegender gewesen zu sein, je früher er erfolgte. Zwar beklagten sich Einwohner, vor allem Handwerker, in den betroffenen Städten immer über den Verlust von Nachfrage und Wohlstand, und die abziehenden Herrscher bemühten sich - wenn sie dazu in der Lage waren und ihnen die Städte nicht durch Eroberung abhandengekommen waren - darum, die Folgen ihres Abzugs zu mildern. Das konnte durch Privilegien und Steuerbefreiung (Urach), die Ansiedlung von Gericht, Zuchthaus und Gestüt (Celle), die Zuweisung anderer Aufgaben (Innsbruck) oder Bauvorgaben, welche die Stadt attraktiver machen sollten (Heidelberg), geschehen. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts lässt sich aber nicht mehr nachweisen, dass der Abzug des Hofes die beklagten Folgen für die Bevölkerung auch wirklich hatte. Sowohl in Mannheim als auch in Mainz blieben selbst die meisten Luxushandwerker vor Ort - erstens, weil das einheimische oder französische Militär teilweise die Nachfragelücke schloss, die der Hof gelassen hatte, zweitens, weil selbst der Umzug von Mainz nach Aschaffenburg am Widerstand der Zünfte der anderen Residenz scheitern konnte, drittens, weil sich die Berufsbilder veränderten, etwa vom exklusiven Perückenmacher zum allgemeiner zugänglichen Friseur. Wichtiger wurde nun ohnehin das industrielle Potential der Städte und ihr Ruf - was den weiteren Aufstieg von Mannheim, das nun eher durch den Wasserturm aus dem späten 19. Jahrhundert als durch das Schloss symbolisiert wird, aber auch die schleichende Abwertung Gothas erklären mag. Das Beispiel Koblenz, das die erzbischöfliche Residenz verlor, aber dafür preußische Verwaltungsaufgaben und eine Art Nebenresidenz Wilhelms I. anzog, macht deutlich, dass der Abgleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart der Regierung bei der Selbstwahrnehmung ebenfalls eine bedeutende Rolle spielte.
Weniger klar wird aus den Beiträgen, wie sich die Beziehung zwischen Stadt und Hof im Einzelnen gestaltete oder welche Teile der Stadt ein Hof anzog und welcher mit ihm abzog. Die Beiträge markieren das selbst als Forschungslücke; einige bieten erste Hinweise. So wird am Beispiel Innsbruck deutlich, dass konkrete Bautätigkeit wichtiger war als die prinzipielle An- oder Abwesenheit eines Hofs; für Mannheim liegt der Schluss nahe, dass das Ausmaß der wirtschaftlichen Verflechtung zwischen Hof- und Stadtgesellschaft leicht überschätzt werden kann.
Der Verlust der Residenz führte wohl nicht nur in Mainz dazu, dass die spezifisch mit ihr assoziierten Gebäude alsbald einer anderen Nutzung zugeführt wurden; für die Mainzer Adelshöfe wird die rasche Umnutzung aber besonders detailliert belegt. Eine Rolle als Museum vergangenen Glanzes wurde allenfalls den Residenzen selbst zugewiesen, wenn auch meist nur für Teile der Anlagen. An diesem Punkt wird die Fragestellung des Bandes allgemeiner - schließlich sind am Anfang des 21. Jahrhunderts alle deutschen Residenzstädte ehemalige Residenzstädte. Es ist nicht das kleinste Verdienst dieses Bandes, eine vergleichende Perspektive auf den Umgang mit diesem Erbe über eine sehr viel längere Zeit als die Jahre seit 1918 zu präsentieren und deutlich zu machen, wie viele Fälle zu behandeln und zu vergleichen wären - und wie viele mögliche Anregungen sie für das Problem des Umgangs mit einer vergangenen Residenz geben können.
Andreas Fahrmeir