Dana Dvořáčková-Malá / Jan Hirschbiegel / Sven Rabeler u.a. (Hgg.): Räume höfischen Lebens. Sammelband zur internationalen Konferenz des Forschungszentrums Höfe und Residenzen am Historischen Institut der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, des Projekts Corona regni Bohemiae/Krone der Königsreichs Böhmen, Ostfildern: Thorbecke 2023, 284 S., 17 Farb-, 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-7995-1593-1, EUR 39,00
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Werner Paravicini / Jan Hirschbiegel / Jörg Wettlaufer (Hgg.): Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe, Ostfildern: Thorbecke 2005
Reinhardt Butz / Jan Hirschbiegel (Hgg.): Hof und Macht. Dresdener Gespräche II zur Theorie des Hofes, Münster / Hamburg / Berlin / London: LIT 2007
Gerhard Fouquet / Jan Hirschbiegel / Werner Paravicini (Hgg.): Hofwirtschaft. Ein ökonomischer Blick auf Hof und Residenz in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Ostfildern: Thorbecke 2008
Die Forschung zu mitteleuropäischen Höfen der Vormoderne hat sich durch Initiativen aus Deutschland, Polen sowie Tschechien institutionalisiert und ist durch verstärkte Vernetzung charakterisiert. Der vorliegende Sammelband ist insoweit Ausdruck dieser Entwicklung, als er Beiträge einer tschechisch-deutschen Tagung zusammenführt, die 2021 unter der Überschrift "Räume und Siedlungen" als Online-Veranstaltung stattgefunden hat. Die Lektüre der Publikation macht aber auch darauf aufmerksam, dass es gerade bei einem international-interdisziplinären Anspruch erheblicher konzeptioneller Anstrengungen bedürfte, um spürbare Synergieeffekte zu erzielen. Diese bleiben - das sei vorab verraten - im rezensierten Band weitgehend aus, und so reicht dessen weiterführender Erkenntnisgewinn nur wenig über die in der Mehrzahl sehr interessanten Einzelbeiträge hinaus.
Dass ein roter Faden zwischen den zwölf deutsch- und englischsprachigen Aufsätzen nicht erkennbar ist, hängt mit dem Fehlen einer strukturierenden Einleitung zusammen, sodass man sich bei der Suche nach einer verbindenden Konzeption auf das knappe Vorwort verlassen muss. Dort wird "die Frage nach den sozialen Interaktionen an den Höfen" als leitend definiert, der "in einem breiten sozialen und zeitlichen Rahmen" (7) nachgegangen werde. Gerade angesichts des Ausdifferenzierungsgrads der rezenten Hofforschung erscheint diese Selbstverortung zu vage, zumal sich nur ein überschaubarer Teil der Beiträge mit sozialer Interaktion - auch im weiteren Wortsinn - befasst. De facto werden methodisch heterogene Analysen zu Residenzen vom 12. bis zum 18. Jahrhundert vorgelegt, die sich auf dem Gebiet des Heiligen Römischen Reiches befanden, wobei ein Schwerpunkt auf Böhmen liegt.
Strukturell ist der Band in drei Teile gegliedert. In der ersten Sektion versammeln sich unter dem Titel "Residenzen als soziale Räume" fünf Beiträge, die diverse Höfe prosopographisch, akteurszentriert und baugeschichtlich erschließen. Den Auftakt macht Dana Dvořáčková-Malá, die Wege der (tschechischen) Residenzforschung kartiert, um im Zuge dessen auch Fachkulturen anderer Nationen herauszuarbeiten. "Residential-spatial context and everyday life at court" (17) sowie die Kontakte zwischen Hof und Stadt werden als übergreifende Forschungsinteressen definiert. Als für die Zukunft entscheidend identifiziert Dvořáčková-Malá ein besseres Verständnis des Konzepts "Haushalt", sei dieser doch "the core of all residences across social strata" gewesen, "where the basic needs of people, families, and lines were primarily met without distinction" (33). Jan Zelenka geht anschließend der Organisation des sozialen Raumes aus Sicht fürstlicher Dienstleute nach und wertet Passagen in der "Ministeria curie Hanoniensis" sowie der "Gesta Danorum" aus. Er belegt, dass die Raumordnung gesellschaftliche Hierarchien symbolisch abzubilden hatte und sich zugleich in tägliche sozioökonomische Interaktionen einfügen musste. Nach dieser Analyse kollektiver Praktiken wendet sich Jakub Razim einem Einzelakteur zu, um Albert von Aichach in seiner Funktion als Schreiber Heinrichs von Kärnten zu untersuchen. In seiner aufschlussreichen Studie regt Razim zur Neudeutung des bislang primär negativ portraitierten Meinhardiners Heinrich an. So sei diesem wegen seiner stabilitas loci Antriebslosigkeit vorgeworfen worden. Tatsächlich aber lassen Spuren, die Albert im Tiroler Lehenbuch hinterlassen hat, andere Schlüsse zu. So stehe der Schreiber exemplarisch dafür, dass Dienstleute in die Nähe des Fürsten zogen, da dieser das Schloss Tirol bewusst zu einer bürokratisierten Zentrale ausgebaut habe. "Purposeful and long-term efforts to build a larger property complex around Tyrol" (56) sprächen für die Bindung administrativer Kräfte an die Residenz der Meinhardiner. Die Aufsätze von Pavel Drnovský sowie František Záruba ergründen mit Befestigungen als Element der Herrschaftssicherung und neuen Erkenntnissen zum Přemysliden-Palast der Prager Burg stärker baugeschichtlich-architektonisches Gebiet.
Obwohl das Vorwort als Leitthema der zweiten Sektion soziale Interaktionen im Umfeld landesherrlicher Residenzstädte ausgibt, beschäftigt sich der Beitrag von Robert Šimůnek - dem widersprechend - mit adeligen Residenzstädten im Spätmittelalter. Zu dieser Gruppe werden für die Zeit um 1500 etwa 150 Orte in Böhmen gezählt, von denen nur ein Bruchteil als Residenz der Landesherren fungierte. Stattdessen arbeitet Šimůnek plastisch die "innere Heterogenität" der oft "zwischen Kleinstadt und Dorf" (120f.) stehenden Residenzorte heraus. Als übergreifendes Muster identifiziert er deren Relevanz für adlige Selbstrepräsentation und modelliert dies anhand von Fallskizzen zu Jungbunzlau und Neuhaus. Da es sich bei der Analyse der Bezüge zwischen Stadt und Hof um ein Kerninteresse der deutschen Forschung handelt, überrascht es nicht, dass in dieser Sektion Sven Rabeler und Jan Hirschbiegel als Vertreter des Residenzstädte-Projekts mit methodisch fundierten Beiträgen aufwarten. Rabeler entwickelt im längsten Aufsatz des Bandes einen gewinnbringenden Überblick über die Gestaltung physisch-sozialer Kontaktzonen zwischen höfischen und kommunalen Räumen. Normativ bestand ein Interesse an der "Separierung des fürstlichen Haushalts von seiner städtischen Umwelt" (172), doch war diese praktisch kaum aufrechtzuerhalten. Vielmehr überwog bis in die Frühe Neuzeit - ungeachtet gegenläufiger baulich-zeichenhafter Grenzmarkierungen - die Verzahnung der Sphären. Dies lässt sich etwa über die Nutzung städtischer Räume für performative, fürstlich-höfische Repräsentation belegen. Hirschbiegel folgt einem ähnlichen Ansatz und deutet kleine Residenzstädte des Alten Reiches als "Räume der Begegnung von Herrschaft und Gemeinde, von Stadt und Hof" (188) aus.
Auf diese in sich geschlossen wirkende Sektion folgt der dritte Teil des Bandes, der unter "Residenzen in der Landschaft" thematisch weit gestreute Beiträge zu Residenznetzen gruppiert. Lenka Bobková befasst sich mit von König Karl IV. errichteten königlichen Sitzen sowie dem Verlust ihrer Funktionalität aufgrund des Wandels sozial-politischer Kontexte im 15. Jahrhundert. Nur ein Teil der Bauten wie die Ortenburg oder das Kaiserschloss in Breslau bewahrten ihren Zweck als Zeichen von Herrschermacht bis in die Frühe Neuzeit. Beiträge von Petr Kozák zur Residenzlandschaft des jagiellonischen Prinzen Sigismund, von Jiří Hrbek zu habsburgischen Nebenresidenzen in Böhmen und von Michal Vokurka zu Kulturtransfer beim Bau der Residenzen des Hauses Sachsen-Lauenburg in Böhmen beschließen das Buch.
Auch wenn deutlich geworden sein sollte, dass viele Beiträge eine empfehlenswerte Lektüre darstellen, bleibt doch ein wenig zufriedenstellender Gesamteindruck. Aufgrund der fehlenden Leitidee werden selbst naheliegende Bezüge zwischen den Themen kaum verfolgt, und es fehlt an übergreifenden Synthesen, die langfristige, teilgebietübergreifende Entwicklungsprozesse kenntlich machen. Das ist umso bedauerlicher, als sich dafür Möglichkeiten geboten hätten. Erwähnt sei hier nur die im Band rein implizit praktizierte Überwindung tradierter Denkschranken zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Um die Attraktivität dieses Verfahrens deutlich und es analytisch nutzbar zu machen, hätte es jedoch expliziert werden müssen. Im Widerspruch zu Aristoteles' bekanntem Diktum bleibt das Ganze im Fall dieses Sammelbandes also bedauerlicherweise nur die Summe seiner Teile.
Georg Kaulfersch