Lars Döpking: Fiskalische Herrschaft. Steuern, Staat und Politik in Italien seit 1945, Hamburg: Hamburger Edition 2023, 512 S., ISBN 978-3-86854-371-1, EUR 45,00
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Steuern sind im Wirtschaftsleben moderner Gesellschaften nahezu allgegenwärtig. Der Charakter dieser "fiskalische[n] Verpflichtungsbeziehungen" (27), so der Ausgangspunkt der vorliegenden Studie, wird jedoch durch das permanente Aushandeln um ihre Natur und ihre Geltendmachung geprägt. Am Beispiel Italiens seit 1945 entfaltet Lars Döpking eine historische Fiskalsoziologie, die diese Prozesse zu greifen versucht.
Der historischen Analyse geht die Entwicklung eines umfangreichen Begriffsapparats voraus. Ziel ist es zu verstehen, "was [der Steuerstaat] für ein Gebilde ist und wie er sich wandelt" (25 f.). Dafür verflicht der Autor verschiedene Theorien steuerstaatlichen Wandels mit einem Neo-Weberianischen Staatsbegriff. Er kommt zu dem Ergebnis, dass der Steuerstaat sich am besten als "politischer Anstaltsbetrieb" (83) begreifen lasse, dessen Transformation anhand von vier ineinandergreifenden "Makroprozesse[n] steuerstaatlichen Wandels" (91) zu erklären sei: Professionalisierung, Durchstaatlichung, Politisierung und Geofiskalisierung. Die soziologische Herangehensweise will historischer Kontingenz nicht vorgreifen, vielmehr erscheint der Steuerstaat bei Döpking als ein vielschichtiges Phänomen, das gerade durch seinen Wandel erklärbar wird.
Mit Italien als Fallstudie ist ein Land gewählt, das großen Anteil am europäischen Nachkriegsboom hatte, die Strukturkrisen seit den 1970er Jahren besonders zu spüren bekam und ab den 1990er Jahren heftige politische und ökonomische Brüche verkraften musste. An den Wendepunkten dieser Entwicklung identifiziert Döpking historische Wegmarken, die die Transformation des Steuerstaates prägten: zunächst die Nachkriegszeit mit den Vanoni-Reformen der 1950er Jahre, dann die große Steuerreform um 1973 und schließlich der Zusammenbruch des alten Parteiensystems in den 1990er Jahren. Ob die Bewältigung der Staatsschuldenkrise in den 2010er Jahren einen neuen Umbruch darstellt, erörtert ein Epilog ohne abschließendes Urteil.
An diesen Übergängen, so Döpkings Argument, kreuzten und verschränkten sich die vier Makroprozesse immer wieder auf neue Weise. Diese "Konjunktionen" (35) gaben dem Wesen fiskalischer Herrschaft jeweils einen neuen Charakter. So erbte die junge Republik einen vergleichsweise rudimentären Steuerstaat mit kleiner Steuerbasis. Diese defizitäre Durchstaatlichung habe trotz des Bemühens um effektivere Steuerverwaltungen und der Etablierung einer fiscal citizenship durch Ezio Vanoni zunächst nicht überwunden werden können. Allerdings drängten die Verpflichtungen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft auf Modernisierung, was sich unter anderem in der Einführung des Mehrwertsteuersystems anstelle der vorigen Umsatzsteuer zeigte. Auch politisierte sich der Steuerstaat bis in die 1970er Jahre schrittweise, jedoch wurde die große Steuerreform vor allem von Finanztechnokraten vorangetrieben.
Mit der Reform erwuchs der Anspruch, eine breite Steuerbasis zu schaffen, mithin also die Durchstaatlichung der Gesellschaft zu intensivieren. Dies gelang zunächst selektiv, da die Professionalisierung der Verwaltung fragmentiert und die Geltung der Steuerordnung vor allem im agrarischen und von Kleinselbstständigkeit geprägten Süden des Landes prekär blieb. Im industriellen Norden hingegen konnten sich die Arbeiter und Angestellten weniger dem Zugriff des Fiskus entziehen. Damit entstanden fiskalische Klassenkonflikte zwischen Tartassari (Norden) und Evasori (Süden), woraus zugleich eine triadische Politisierung erwuchs: In ihr positionierten sich die Regierungen der so genannten Partitocrazia immer wieder strategisch zwischen den beiden Lagern. Fiskalische Harmonisierungsbestrebungen in Europa dagegen wurden nunmehr eher blockiert. Der weit verbreiteten Steuerflucht versuchte der italienische Staat mit Kapitalverkehrskontrollen entgegenzutreten, doch diese geofiskalische Isolation habe sich als instabil erwiesen.
Die seit 1992 neu gebildeten Regierungen konnten sich nicht mehr dem Konsolidierungsdruck entziehen, der von den Maastrichter Verträgen und der Einführung des Euro ausging. Außerdem entstand nunmehr ein bipolares Parteiensystem: Während die Tartassari eher die sozial-liberale Modernisierung und Ausweitung der Steuerbasis auf alle Bevölkerungsgruppen befürworteten, unterstützten die Evasori tendenziell die Steuersenkungsversprechen der Mitte-rechts Regierungen. Die Professionalisierung der Steuererhebung, beispielsweise durch den Umbau der Finanzverwaltung oder durch den Einsatz einer computergestützten Steuererfassung, verstärkten die Geltungskraft der bestehenden Steuerordnung.
Insgesamt sei es seit 1945 gelungen, "fiskalische Herrschaft selektiv zu konstituieren" (13): Stets habe der Steuerstaat expandiert, immer wieder jedoch "entglitten die Ereignisse den Akteuren, katalysierten Prozesse, interferierten kontingent, zeitigten nicht intendierte Konsequenzen und verstrickten sich wieder aufs Neue zu folgenreichen Konjunktionen" (448). Diese Entwicklung sei "weder einer inneren Notwendigkeit noch einer Serie von Zufällen geschuldet" (445). Stattdessen sei immer wieder fallabhängig zu untersuchen, welche Kombinationen welcher Prozessverläufe steuerstaatliche Transformationen vorantreiben.
Die theoretischen und empirischen Aspekte der Studie sind auch jeweils für sich lesenswert. Womöglich wäre die intensive methodische Vorarbeit nicht für jedes Einzelargument der Fallstudie zwingend erforderlich gewesen. Allerdings ermöglicht gerade das Ineinandergreifen beider Teile eine frische Betrachtungsweise, die verallgemeinernde Fortschritts- und Krisennarrative zu nuancieren hilft. Das gilt sowohl für die Wirtschaftsgeschichte Italiens als auch für die Bereiche der historischen und der Neuen Politischen Ökonomie, die sich mit Steuern beschäftigen. Ein komplexer Untersuchungsgegenstand über 70 Jahre hinweg bleibt dadurch analytisch greif- und nachvollziehbar. Die (bewusst) anekdotisch gewählten Beispiele aus den verschiedenen Steuerkonflikten bieten dabei auflockernde Anschaulichkeit - ein willkommenes Gegengewicht zu den komplexen soziologischen Wortkonstruktionen.
Durch die strikte Fokussierung auf steuerliche Phänomene bleibt die Studie stringent und begrifflich präzise, bewusst blendet Döpking weitere wirtschaftspolitische Problemfelder aus. Mitunter hätte die Ausweitung staatlicher Aktivität als zweite Seite der fiskalischen Staat-Bürger-Beziehung noch ein paar Zeilen mehr verdient. Insbesondere die Rolle des Haushalts- und Schuldenvolumens, also die sich erweiternde Aufgabenpalette staatlichen Handelns, kann nicht immer abgeschätzt werden.
Anzuerkennen ist Döpking schließlich der Umgang mit einer schwierigen Quellensituation: Forschende zur Wirtschaftsgeschichte Italiens wissen, dass die Bestände des Finanzministeriums praktisch unzugänglich sind. Alternativ greift die Studie unter anderem auf Zeitungsartikel, Statistiken, Gesetzestexte und -debatten sowie auf zeitgenössische Veröffentlichungen zurück. Aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive hätte diese Quellenlage allerdings einer deutlich stärkeren Reflexion bedurft. Fraglich bleibt hierbei, wie aussagekräftig eine fiskalsoziologische Studie letztlich ist, die das Innenleben des betreffenden Steuerstaates jenseits der veröffentlichten Diskurse kaum ausleuchten kann. Das erschwert auch die Zuschreibung konkreter agency in den Wandlungsprozessen. Neben gesellschaftlichen Großgruppen treten zumeist nur Regierungschefs und ihre Finanzminister als Protagonisten auf, mitunter auch Finanzwissenschaftler.
Es bleibt aber zu unterstreichen, dass dies kleinere Kritikpunkte angesichts einer insgesamt gelungenen Studie sind, die sowohl für die historische Italienforschung als auch für die Finanzsoziologie eine willkommene Bereicherung ist.
Tobias Scheib