Diana Siebert: Die Territorialisierung der Belarus als BSSR 1918-1941. Politische Willkür, Geografismus oder Ethnizismus? (= Historische Belarus-Studien; Bd. 10), Wiesbaden: Harrassowitz 2024, 452 S., 16 z. T. Farb-Abb., ISBN 978-3-447-12201-6, EUR 78,00
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Nach der Niederschlagung der Protestbewegung in Belarus im Jahr 2020, der anschließenden andauernden Repressionswelle und der Mitwirkung des autoritären Lukaschenko-Regimes am russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erlebt die internationale Belarus-Forschung derzeit keine einfachen Zeiten: Obwohl das Interesse an der Republik Belarus und ihrer ambivalenten historischen wie politischen Entwicklung insbesondere in den frühen 2020er Jahren deutlich zugenommen hat, bleiben Kontakte mit belarussischen Kolleginnen und Kollegen sowie Recherchen in Archiven und Bibliotheken des Landes - insbesondere für deutsche und andere westliche Forscherinnen und Forscher - auf absehbare Zeit kaum möglich oder zumindest stark eingeschränkt.
Angesichts der aktuellen politischen Lage kommt der neuen Studie der Kölner Historikerin Diana Siebert, ihrem dritten umfangreichen Werk über Belarus, besondere Bedeutung zu. Siebert gehört zur Avantgarde der modernen europäischen und deutschen Belarus-Forschung und ist eine der führenden Expertinnen der belarussischen Geschichte zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Bereits 1998 veröffentlichte sie ihre Dissertation über bäuerliche Alltagsstrategien und die Zerstörung der patriarchalischen Familienwirtschaft in der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) zwischen 1921 und 1941. 2019 folgte eine Abhandlung über die bis dahin in der Forschung weitgehend vernachlässigte Sumpfregion Polesien im belarussisch-ukrainischen Grenzgebiet vom Ersten Weltkrieg bis zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion. In ihrer neuesten Studie befasst sich Siebert nun mit dem Prozess der Territorialisierung von Belarus als BSSR zwischen 1918 und 1941 - ein Thema, das in der deutschen und europäischen Historiografie bislang jedoch nur selten behandelt wurde.
In ihrem Buch wertet Siebert zahlreiche veröffentlichte Quellen und die umfangreiche Forschungsliteratur aus. Die Arbeit besteht aus insgesamt vier Teilen. Sie beginnt mit einer Einleitung, in der die Autorin ihre methodische Herangehensweise, zentrale Begriffe sowie die besonderen historischen und politischen Rahmenbedingungen von Belarus erläutert. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Begriff "Geografismus" (15). Darunter versteht die Autorin eine territoriale Begründung von Staatlichkeit bzw. eine Ideologie, die "Grenzen und Territorien zu etwas Konstituierendem, ja Determinierendem" macht (20). Belarus erscheint in diesem Zusammenhang als europäischer Sonderfall: Vor dem Ersten Weltkrieg, so hebt Siebert treffend hervor, ließen sich die belarussische Identität und das belarussische Territorium "weder durch Religion/Konfession, noch historisch, noch ethnisch, noch sprachlich, noch wirtschaftsgeographisch, noch nach der Verwaltungsgliederung im Zarenreich, noch nach der Agrarverfassung, noch nach naturräumlichen Gegebenheiten wie Küsten, Wasserscheiden/Gebirgen oder Flüssen" eindeutig definieren (411).
Teil II: "Grenzen", der den Kern der Studie bildet, beleuchtet zunächst die Entwicklung der belarussischen Gebiete vor dem Ersten Weltkrieg. Dabei geht die Historikerin auch auf ein nicht umgesetztes Projekt ein, das von Teilen der belarussischen Nationalbewegung unterstützt und von den deutschen Besatzern indifferent wahrgenommen wurde: die Konföderation des Großfürstentums Litauen aus dem Jahr 1915, die aus heutigen litauischen und belarussischen Gebieten bestehen sollte. Anschließend thematisiert Siebert die Entstehung der Belarussischen Volksrepublik unter den Bedingungen der deutschen Okkupation im Jahr 1918. Danach steht das 1919 ins Leben gerufene sowjetische Projekt einer Belarussischen Sowjetrepublik im Fokus. Obwohl belarussische Akteure - sei es in der Volksrepublik oder später in der BSSR - versuchten, eine eigene politische Agenda zu verfolgen, etwa bei der Grenzziehung im Süden, Osten und Nordosten, standen bei Entscheidungen über das Schicksal der belarussischen Peripherie stets die innen- und außenpolitischen Interessen des sowjetischen Zentrums im Vordergrund. Dieses widersprüchliche Faktorenbündel prägte die Territorialisierung in den 1920er und 1930er Jahren und wird von Siebert in einem breiten historischen Kontext mit großer Sorgfalt analysiert.
Besonders gelungen erscheint dabei Kapitel 14, in dem sich Siebert mit dem in der Russischen Föderation und in der Republik Belarus häufig politisch und propagandistisch instrumentalisierten Hitler-Stalin-Pakt auseinandersetzt. Die in Belarus seit den frühen 2020er Jahren offiziell gefeierte Okkupation und Annexion westbelarussischer Gebiete Polens durch die UdSSR im Herbst 1939 sowie die in der offiziellen belarussischen Geschichtsschreibung weitgehend ausgeblendeten Fragen zur territorialen Zugehörigkeit von Białystok, Łomża und Vilnius werden kritisch reflektiert.
Teil III: "In die Fläche" analysiert die Landwirtschaft, die Arbeit der Standesämter, die außergewöhnliche sprachliche Situation in der BSSR mit insgesamt vier Amtssprachen in den späten 1920er Jahren (Belarussisch, Russisch, Jiddisch und Polnisch) sowie weitere zentrale Aspekte der Territorialisierung. Abschließend stellt die Verfasserin treffend fest, dass die Territorialisierung vor allem von kommunistischen Kräften ausgegangen sei. Sie spricht in diesem Zusammenhang vom "Geografismus der Herrschenden" (415). Das bedeutet nichts anderes, als dass die bolschewistische Führung über die BSSR und ihre Grenzen auf der Grundlage ihrer kurz- und langfristigen politischen Ziele entschied. Lokale Gegebenheiten spielten dabei unter den Bedingungen der bolschewistischen Diktatur allenfalls eine zweitrangige Rolle.
Diana Siebert hat eine lesenswerte und sowohl methodisch als auch inhaltlich überzeugende Studie vorgelegt, die neue Impulse für die Erforschung der belarussischen und sowjetischen Geschichte in der Zwischenkriegszeit setzt und einen wertvollen Beitrag zur internationalen Belarus-Forschung leistet.
Alexander Friedman