Magdalena Vinco: Jiddische und polnischsprachige Familienromane nach dem Ersten Weltkrieg. Literarische Auseinandersetzungen mit einer Krisenzeit (= Beiträge zur slavischen Philologie; Bd. 24), Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2023, 345 S., ISBN 978-3-8253-4984-4, EUR 54,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Bei dem zu besprechenden Band handelt es sich um die Druckfassung der 2022 an der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg angenommenen Dissertation von Magdalena Vinco. Sie behandelt Fragen zu der jiddischen und polnischen Literatur der Zwischenkriegszeit, dem Genre des Familienromans und der gemeinsamen Geschichte der jiddischen und polnischen Kultur in Osteuropa. Der Band gliedert sich in drei Kapitel: methodischer Ansatz (Kapitel I), Darstellung der Romane und ihrer Protagonisten (Kapitel II) und Vergleich zwischen polnischen und jiddischen Romanen (Kapitel III). Besonders gelungen ist der synchrone Ansatz, literarische Werke einer bestimmten Epoche auf die ihnen immanente Geisteshaltung hin zu vergleichen und in den zeitlichen Kontext ihrer Entstehung zu stellen. Es werden unter anderem auch Werke jener jiddischen Autoren analysiert, für die Polen nicht nur zur geografischen Heimat wurde, sondern die von dem polnischen Volk umgeben lebten und Polnisch sprachen. Die gut durchdachte Struktur der Monografie sorgt dafür, dass sich der Leser schnell angesprochen fühlt.
Einleitend wird die Berechtigung des Vergleichs zweier Literaturen erörtert. Perspektivisch weiterführend ist die These, dass jiddische Literatur immer in einem anderssprachigen Umfeld entstanden ist und entsteht (15). Die jiddische Sprache und Osteuropa haben eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte, die die Verbindung zwischen jiddischen Schriftstellern und der europäischen Literatur gestärkt hat. Der jüdische Schriftsteller Sholem Asch meinte sogar, dass er der polnischen Literatur seinen Beruf verdanke. Nicht nur stammten die ersten Bücher, die er las, von polnischen Schriftstellern, sondern er erlernte bei ihnen auch sein Handwerk, und sie hätten ihn sogar ermutigt, auf Jiddisch zu schreiben (17). Für beide Literaturen war ihre Lage zwischen der westeuropäischen und der sowjetischen Literatur außergewöhnlich. Die zentrale Problematik des Bandes betrifft zwei Aspekte: Es wird nach der polnischen und jiddischen literarischen Verarbeitung der gemeinsam erlebten Ereignisse jener Zeit gefragt und nach der Wahrnehmung des Zeitgeschehens durch zwei kulturelle Gruppen in demselben Land. Es handelt sich um eine anspruchsvolle Fragestellung, die eine eindringliche Auseinandersetzung mit dem literarischen Material erfordert.
Die Autorin hat für den Vergleich drei jiddische Familienromane ausgewählt: Di brider Ashkenazi von Israel Joshua Singer, Dray doyres von Yoel Mastboym und Di brider Nemzar von Zusman Segalovitsh. Aus der polnischsprachigen Literatur wurden zwei Romane gewählt: Krauzowie i inni von Herminia Naglerowa und Noce i dnie von Maria Dąbrowska. Hinsichtlich der darin erzählten polnisch-jiddischen Lebenswelt der Zwischenkriegszeit konzentriert sich Vinco auf Religion im Kontext kultureller Tradition, auf nationale und religiöse Identität und die daraus resultierende gegenseitige Wahrnehmung von Juden, Nichtjuden und Christen sowie auf die gemeinsame Geschichte beider Völker. Die Wahl des Genres "Familienroman" ermöglicht es ihr, die Verflechtung von individueller, familiärer und nationaler Geschichte zu untersuchen, da die Familie in beiden Glaubenstraditionen eine zentrale Rolle spielt. Der Kerngedanke von jedem der fünf ausgewählten Familienromane bleibt, dass Abstammung und Verwandtschaft untrennbar zusammengehören. Ein weiterer Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf dem Raum: den Handlungsorten, den Gegensätzen zwischen Zentrum und Peripherie und den Gemeinsamkeiten osteuropäischer Kleinstädte (Kapitel III.5).
Der Vergleich ist innovativ und in vielerlei Hinsicht bahnbrechend, hinsichtlich sowohl des Genres als auch der Auswahl der untersuchten Romane, wie Vinco anhand einer Auflistung der bisherigen Arbeiten zum Vergleich jiddischer und polnischsprachiger Werke in Anmerkung 11 (17-18) zeigt. Der methodische Ansatz ist interkulturell, literaturwissenschaftlich und komparatistisch. Im Mittelpunkt der Argumentation steht die Maxime, dass die Literatur und insbesondere der Familienroman das Fenster ist, durch das man in das Herz einer anderen Nation blicken kann: "Ich weiß nicht, ob Ihr uns dann mehr lieben oder hassen werdet. Aber ich weiß, dass Ihr uns dadurch verstehen werdet" (Sholem Asch, 24). Die Verfasserin geht davon aus, dass Literatur ein phänomenales Speichermedium ist und wie "ein Spinnennetz alles aufnimmt, was kreucht und fleucht" [1] und dass es wissenschaftliche Methoden gibt, das Gespeicherte auszuwerten. Als Beleg dafür kann die Autorin aus den Romanen einen reichen Bestand an Personen, Orten, Sitten, Erfahrungen und Gedanken extrahieren. Die Protagonisten werden jeweils namentlich vorgestellt und mit aussagekräftigen Zitaten charakterisiert. Den Schauplätzen, die große Zentren waren - Łódź, Warszawa, Kaliniec (ein Stadtteil von Kalisz) - werden Orte aus der Provinz gegenübergestellt: Dombrowke, das Schtetl N., das Schtetl Sh., Krępa, Serbinów und Pamiętów. Landschaften und Räume eröffnen sich dem Leser in der Opposition nicht nur von Stadt und Provinz, sondern auch von Inland und Ausland. Der Topos von Metropole und Provinz markiert unterschiedliche Lebensräume, Lebensgefühle, die sich zwischen städtischer Aufklärung, Entwurzelung und Ökonomie und der Reinheit und Ignoranz der Kleinstädte ergaben (268). In beiden Literaturen wird die Natur als Element der Verbundenheit mit der Tradition dargestellt.
Von originellem Wert ist der vergleichende Teil (Kapitel III), der sich auf den in den Romanen dargestellten Alltag bezieht: die Vielfalt der weltanschaulichen Wege des Judentums und die Wahrnehmung der Andersartigkeit durch die nichtjüdische Außenwelt, verkörpert von christlichen Polen. In den polnischen Familienromanen wird die Religion zum Ausdruck von Traditionalismus und nationalen Bräuchen (152) oder von sozialer Sicherheit (154). Der Vergleich wird vertieft, indem Vinco den Familienroman als Fiktionalisierungsstrategie historischer Umbrüche zeigt. Einzelne Romane werden in unterschiedlichen Konstellationen miteinander verglichen.
Ein konzises Resümee fasst die Ergebnisse zusammen, die für die weitere Erforschung der jiddisch-polnischen Literaturbeziehungen vielversprechend sind. Beide Literaturen verbindet die Auseinandersetzung mit einer Gesellschaft im Umbruch und die Darstellung neuer gesellschaftlicher Strukturen und Werte im Kontext einer Familie sowie die Frage nach Identität und einem damit verbundenen sinnvollen Lebensentwurf in einem polnischen Milieu, das sich politisch und soziokulturell veränderte. Es werden auch die Auswirkungen davon auf das Konzept "Familie" gezeigt, einschließlich der Darstellung ihres Verfalls, der Haltlosigkeit der Charaktere, ihrer Entfernung von familiären Werten. Nicht minder interessant erscheinen die untersuchten Unterschiede: Verlust der Religion und der nationalen Identität durch jiddische Assimilation an die polnische Gesellschaft. Für die polnischen Autorinnen sind dagegen philosophische Überlegungen wichtiger: Fragen der Lebensleistung, wie zum Beispiel das Konzept der sogenannten organischen Arbeit (praca organiczna). Die Werke der jiddischen Autoren enden, anders als die polnischen, in Emigration und Tod. Geschichte als Familiengeschichte scheint die größte Stärke des Familienromans in beiden Sprachen zu sein.
Der Band wirkt stellenweise zu schulisch geschrieben, aber das ist ein verzeihlicher Makel von Doktorarbeiten. Weniger verzeihlich ist, dass die Kapitel I und II zu ausführlich sind. Vor allem die Darstellung der einzelnen Protagonisten führt zu Wiederholungen, in weiteren Analysen (Kapitel III). Wertvoll ist die sehr gute Übersetzung der jiddischen und polnischen Texte ins Deutsche durch die Autorin.
Anmerkung:
[1] Theodor W. Adorno: Minima Moralia, Frankfurt am Main 1951, Aphorismus 51.
Maria Wojtczak