Rezension über:

Kilian Heck / Bernhard Jahn (Hgg.): Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; Bd. 80), Tübingen: Niemeyer 2000, 264 S., 61 Abb., ISBN 978-3-484-35080-9, DM 124,00
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Rezension von:
Wolfgang Schmid
Fachbereich III, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Rita Voltmer
Empfohlene Zitierweise:
Wolfgang Schmid: Rezension von: Kilian Heck / Bernhard Jahn (Hgg.): Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen: Niemeyer 2000, in: sehepunkte 1 (2001), Nr. 1 [15.01.2001], URL: https://www.sehepunkte.de
/2001/01/2981.html


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Kilian Heck / Bernhard Jahn (Hgg.): Genealogie als Denkform in Mittelalter und Früher Neuzeit

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Die Mittelalterforschung hat sich in den letzten Jahren erfolgreich mit der Aufarbeitung von Denk- und Deutungsschemata der Wirklichkeit befasst, zum Beispiel mit den Spielregeln der Politik oder mit der Repräsentation der Gruppen. Die Bedeutung der Genealogie als Mittel der Geschichtsschreibung, der Herrschaftslegitimation und der Wirklichkeitsdeutung wie auch -konstruktion ist in der Mediävistik von einzelnen Autoren zuletzt herausgearbeitet worden (G. Melville, J.-M. Moeglin), auch die Kunstgeschichte hat sich mit der Umsetzung von Herrscher- und Bischofsreihen mehrfach beschäftigt (U. Nilgen, Chr. Sauer). Früher verbreitete Vorurteile, Genealogie sei eine Art Ahnenforschung, die Quellen fiktive Texte, Märchen, mehr oder minder frei erfundene Geschichten, haben längst der Einsicht Platz gemacht, dass sie uns wesentliche Einblicke in die Konstruktion und Deutung von Wirklichkeit ermöglichen, dass sie zudem ein wichtiges Instrument der Identitätsstiftung und der Politik waren. Nicht nur Herrscherfamilien, auch Bischöfe, Klöster und Städte verfassten ihre Abstammungslegenden, wetteiferten mit ihrem hohen Alter. Insofern ist es sehr zu begrüßen, wenn aus einer Zusammenkunft der Teilnehmer des Marburger Graduiertenkollegs "Kunst im Kontext" und der Hamburger Doktorandenvereinigung "Politische Ikonographie" ein Band hervorgegangen ist, der das Thema weniger aus der Perspektive der Mittelalterhistoriker als der von Germanisten, Kunst- und Wissenschaftshistorikern angeht, die zudem einen deutlichen Schwerpunkt im Bereich der Frühen Neuzeit setzen.

Eine Einleitung der Herausgeber führt in das Thema ein, entwickelt die Konzeption der drei Teilbereiche und skizziert die Inhalte der einzelnen Aufsätze. Ausgehend von der Definition J. H. Zedlers, Genealogie sei die Wissenschaft, die Vorfahren in der richtigen Reihenfolge anzugeben, wird der Bogen von diesem Modell verwandtschaftlicher Abstammung zu einem allgemeineren Denksystem der Ordnung und Ableitung einzelner Phänomene beschrieben. Hierbei kommt natürlich der Frage des Anfangs eine besondere Bedeutung zu, dann der Konstruktion der genealogischen Kette, die eben nicht auf direkte Abstammungsverhältnisse beschränkt bleibt, und schließlich wird in der umfangreichsten Sektion nach dem Verhältnis von Genealogie und Raum gefragt.

Den Auftakt bilden zwei Aufsätze zu einem Phänomen, das es eigentlich streng genommen gar nicht geben dürfte, dem genealogischen Anfang. Bezeichnend für die Bedeutung des Denkschemas der Genealogie ist die Tatsache, dass aufwändig nach einem Spitzenahn gesucht wurde, nach einer bedeutenden Persönlichkeit, die als legendärer Gründer einer Dynastie, einer Stadt oder eines Klosters verehrt wurde. Mit viel Aufwand wurde vor allem nach einem heiligen Ahnherrn gefahndet, auf den nahezu alle europäischen Herrschergeschlechter verweisen konnten; die Genealogie Kaiser Maximilians mit 123 Heiligen und 47 Seligen ist ein außergewöhnliches, aber aufschlussreiches Beispiel. Zwei Aufsätze sind hier zu nennen, Beate Keller befasst sich mit der Rolle der Genealogie in der Melusinengeschichte und Wolfgang Brückle untersucht die Rolle der Trojasage für die französische Staatstheorie des ausgehenden Mittelalters.

Der zweite Teil der Aufsätze ist einem auf den ersten Blick selbstverständlich erscheinenden Bereich gewidmet, der genealogischen Kette. Gefordert, aber in der Praxis selten problemlos zu realisieren ist eine linea, eine durchgängige Kette vom Spitzenahn bis in die Gegenwart. Dieses Denkmodell konnte auf biblische Vorbilder zurückblicken und wurde dann im 12. Jahrhundert in der Historia Welforum erstmals zur dynastischen Legitimation und als Mittel der Politik instrumentalisiert. Die Konstrukteure einer linea konnten sowohl mit Geblütslinien als auch mit Ämterreihen (Bischöfe, Äbte, Bürgermeister), mit agnatischen oder cognatischen Modellen arbeiten. Dabei mussten nicht selten Lücken kaschiert und mühsame Umwege eingeschlagen werden. Drei Beiträge befassen sich mit der Rolle von Theologie und Philologie als Korrektive im Werk des Cyriacus Spangenberg, eines sächsischen Chronisten des 16. Jahrhunderts (Bernhard Jahn), mit den Schwierigkeiten, aus der Sicht der Medizin genealogisch verwertbare Argumente für Vaterschaft und Mutterschaft zu gewinnen (Sara Paulson Eigen) und mit Erklärungsversuchen für die Unterschiedlichkeit von Pflanzen im 18. Jahrhundert, mit dem Verhältnis von Naturgeschichte und Naturgesetz bei Carl von Linné und G. L. L. de Buffon (Staffan Müller-Wille).

Die dritte Sektion schließlich widmet sich dem Thema des genealogischen Raumes, der Nutzung von Architektur zur Inszenierung genealogischer Konzepte und herrschaftlicher Propaganda. Hat man Wappen bisher in der Regel nur als Dekorationselemente sowie als Hilfsmittel zur Rekonstruktion der Bauchronologie und zur Identifizierung der Bauherren genutzt, so ermöglichen die fünf Aufsätze wünschenswerte Einblicke in die große Bedeutung genealogischer Programme bei der Raumgestaltung. Den Auftakt macht Ulrich Schütte mit einem hochinteressanten Aufsatz über Schlosskapellen, Fürstenbegräbnisse und Genealogie in thüringischen Schlössern um 1700 (Eisenberg, Weimar, Weißenfels, Zeitz, Sonderhausen, Schwarzburg). Es schließt sich Kilian Heck mit Untersuchungen über den Festsaal des Schlosses in Güstrow an; die Ahnenprobe der Mecklenburger erschließt sich vom Eintrittspunkt des Herrschers aus, Genealogie und Zeremoniell werden hier miteinander verbunden. Mit einem etwas skurril anmutenden Thema aus dem England des 18. Jahrhunderts, mit einer Baumreihe als Begräbnisstätte, befasst sich Frank Druffner; sie soll Familie, Stammsitz und Herrschaft verbildlichen. Mit Baumsprache und Sprachbaum beschäftigt sich Jörg Jochen Berns; sein epochenübergreifender Überblick hat die künstlerische Umsetzung von Genealogien zum Inhalt. Den Abschluss bildet ein Beitrag von Wolfgang Kemp, der dann wieder zur Thematik der Sektion zurückführt: Die Darstellung Frankfurter Familienverbände der Zeit um 1400 in den Gewölben Madern Gertheners sind das Thema seines lesenswerten Aufsatzes.

Die Aufsätze ermöglichen eine ganze Reihe hochwillkommener Einsichten in ein in Mittelalter und Früher Neuzeit weit verbreitetes Denk- und Deutungsschema. Zwei Kritikpunkte seien am Ende noch angesprochen: Welchen Sinn das einseitige "Personenregister" am Ende des Bandes erfüllen sollte, blieb dem Rezensenten verborgen. Es handelt sich offenkundig weder um ein Register der im Texte erwähnten Personen noch der Autoren. Zum Zweiten war es nicht immer ein Vergnügen, die anspruchsvollen Texte in einer so kleinen Schrift zu lesen.

Wolfgang Schmid