Wilfriede Otto: Erich Mielke - Biographie. Aufstieg und Fall eines Tschekisten, Berlin: Karl Dietz 2000, 736 S., Abb. und Audio-CD, ISBN 978-3-320-01976-1, DM 48,00
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Wilfriede Ottos biographische Studie über Erich Mielke, den langjährigen Minister für Staatssicherheit der DDR, hat zwei Stärken und eine Schwäche. Die eine Stärke liegt in der präzisen Rekonstruktion der Lebensstationen Mielkes. Geboren 1907 und aufgewachsen im legendären Roten Wedding in Berlin, kam Erich Mielke schon als Jugendlicher in Kontakt mit der kommunistischen Arbeiterbewegung der Weimarer Republik. Seine Oberschulkarriere brach er ab und lernte Speditionskaufmann, zugleich engagierte er sich im illegalen, militanten Parteiselbstschutz der KPD.
Am Abend des 9. August 1931 erschoß er mit einem Genossen auf dem Berliner Bülowplatz in der Nähe der KPD-Reichszentrale zwei Schutzpolizisten auf Streife - ein Racheakt für einen tags zuvor erschossenen Arbeiter. Beide Täter flohen in die Sowjetunion. Dort nahm Mielkes Kaderkarriere mit dem Besuch der Internationalen Leninschule seinen Anfang. Sie führte ihn nach Spanien zu den Interbrigaden, danach nach Frankreich und Belgien, wo er den Krieg überstand und schließlich 1945 zurück nach Berlin, wo er sich alsbald als kommunistischer Polizeipolitiker einen Namen machte.
Zunächst baute er die Deutsche Verwaltung des Innern als Vizepräsident mit auf; dann half er, die Polizei zur "Volkspolizei" zu transformieren; schließlich schuf er die Voraussetzungen zur Gründung eines eigenen Ministeriums für Staatssicherheit (MfS). Dem diente er 1950 bis 1957 als zweiter Mann unter Wilhelm Zaisser und Ernst Wollweber und stieg schließlich selbst zum Minister auf. In den sechziger und siebziger Jahren baute er das Ministerium zum - gemessen an der Einwohnerzahl der kleinen DDR - größten geheimen Sicherheitsapparat der Welt aus. Fast auf den Tag genau 32 Jahre nach seinem Amtsantritt musste er im November 1989 abtreten und mit ansehen, wie sein Lebenswerk zusammenbrach.
Am 7. Dezember 1989 nahm ihn die DDR-Staatsanwaltschaft in Haft. Von all seinen Verbrechen erwies sich nur das am längsten zurückliegende als prozeßfest: Für die Polizistenmorde vom Bülowplatz 1931 verurteilte ihn das Landgericht Berlin 1993 zu sechs Jahren Haft, die er bis 1995 absitzen musste. Nur das letzte Kapitel der Biographie Mielkes konnte Wilfriede Otto nicht mehr protokollieren - wenige Wochen nach Erscheinen des Buches starb Erich Mielke am 21. Mai 2000 in einem Berliner Pflegeheim.
Vor allem die minutiöse Rekonstruktion dieses Lebensweges macht Wilfriede Ottos Buch unersetzlich. Ergänzend werden auf zweihundert Seiten Dokumente aus Mielkes Leben und Wirken präsentiert (leider fast durchweg als Faksimiles, davon einige kaum entzifferbar). Mielke selbst hatte seine Vita nämlich kräftig vernebelt: Seine Beteiligung am Bülowplatzmord durfte in der Parteigeschichtsschreibung der DDR nicht auftauchen; zudem förderte er durch absichtsvolles Schweigen die vielfach kolportierte Legende, er sei aus dem Spanischen Bürgerkrieg in die Sowjetunion zurückgekehrt und mit der Roten Armee in Berlin einmarschiert.
Diese Fehlinformation glaubten nicht nur seine untergebenen Generäle im Ministerium, sondern malten bis weit in die neunziger Jahre auch westliche Chronisten aus, als hätten sie neben ihm 1945 auf dem einrollenden Panzer gesessen. Wilfriede Otto ermittelt den Grund für diese Umdichtung: Mielke wollte davon ablenken, dass er selbst zu den verpönten "Westemigranten" gehörte, die er 1950 bis 1953 im Auftrag der SED-Parteiführung reihenweise als amerikanische und zionistische Agenten verhaften ließ. Nicht von der Hand zu weisen ist der von der Autorin und dem Historiker Wolfgang Kießling aufgebrachte Verdacht, dass einer von ihnen, der vormalige Reichsbahndirektor Wilhelm Kreikemeyer, für dieses Wissen in der Untersuchungshaft mit dem Leben bezahlen musste.
Der sowjetischen Seite war der wirkliche Lebensweg bekannt. Sie begegnete Mielke deshalb (wiederum entgegen aller Legenden) zunächst mit Argwohn. Zu den Preziosen der Autorin zählt vor diesem Hintergrund ein Artikel aus der sowjetischen Armeezeitung "Krasnaja Swezda" zum 80. Geburtstag des Ministers: Während in der DDR die Pläne zu einer repräsentativen Biographie des Jubilars begraben wurden, weil sich die weißen und schwarzen Flecken seiner Vita nicht zu einem vorzeigbaren Gesamtbild fügen ließen, stand dort auf russisch von seiner nur mäßig heroischen Kriegszeit in Belgien und Frankreich zu lesen. Moskauer Archive blieben der Autorin hingegen verschlossen. Trotzdem destruiert Wilfriede Otto die jahrzehntealte ostdeutsch-positive und westdeutsch-negative Heldenhistorie und öffnet damit den Blick für die Widersprüche seines Lebens als kommunistischer Parteikader.
Die zweite Stärke der Studie liegt in der intimen Milieukenntnis der Autorin. Sie war lange Jahre im Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED als Parteihistorikerin tätig und engagiert sich heute in der historischen Kommission der PDS in Fragen der DDR-Geschichte. Wie kaum jemand aus ihren Kreisen hat sie sich seit 1990 der Aufarbeitung von stalinistischen Verbrechen gestellt und einiges dazu beigetragen, die düstere Frühgeschichte der SED zu durchleuchten. Die Autorin ist also vertraut im kommunistischen Milieu, indem sie forscht, und diese Nähe öffnete ihr viele Türen bei ehemaligen MfS-Leuten und anderen Zeitgenossen des Ministers - auch wenn ihr der greise Mielke selbst ein Gespräch an der Wohnungstür verweigerte. So zählen ihre Ermittlungen zur Rolle Mielkes in den innerparteilichen Verfolgungen und den Machtkämpfen in der SED-Parteispitze der fünfziger Jahre zu den stärksten Passagen des Werkes.
Aus der Nähe der Autorin zu ihrem Untersuchungsgegenstand resultiert jedoch zugleich die Schwäche des Buches. Wie viele andere ehemalige Parteihistoriker hadert sie mit ihren verflossenen Gewissheiten auf der Suche nach einer tragfähigen eigenen Bewertung der "Jahrhundertbiographie" des Erich Mielke. So charakterisiert sie ihn zurecht als unverbesserlichen Stalinisten, beklagt den "unsägliche[n] Mißbrauch des Parteibegriffs" durch die kommunistische Führung und hebt die "Grundverantwortung" aller Parteimitglieder für ein "selbstkritisches Vergangenheitsbekenntnis" hervor (277).
Die fehlende demokratische Legitimation der DDR und damit auch des Ministeriums für Staatssicherheit bereitet ihr hingegen keine Probleme. Stattdessen sucht sie Zuflucht bei der allgemeinen Staatsräson: "Der DDR stand zu, bestimmte Grundfunktionen wie die Gewährleistung der Sicherheit der DDR und die Festigung des Staates durch das MfS wahrnehmen zu lassen. Ebenso Aufgaben wie die Ausschaltung von wirklichen Staatsfeinden und die Anwerbung verschiedener Inoffizieller Mitarbeiter." (278) Ähnliches dürften die Geheimdienste aller Länder, und deren Abschaffung widerspräche den "Realitäten der Welt". Je genauer man sich in diese Argumentationsgänge hineindenkt, desto schwieriger fällt es zu erkennen, worin die Autorin den Kern des von ihr konstatierten "nicht zu rechtfertigende[n] politische[n] Unrecht[s]" (499) von SED und Staatssicherheit sieht. Zu sehr ist Mielkes DDR offenbar auch die ihre gewesen.
Diese nicht durchreflektierte Befangenheit macht die abwägenden, analytischen Passagen des Buches inhaltlich inkonsistent und sprachlich schwer verdaulich. Aus Furcht vor "Subjektivismus" (10) verweigert sie sich den Interpretationsangeboten der neueren Kommunismusforschung und der biographischen Täterforschung. Was hätte sich beispielsweise an Anregungen gewinnen lassen aus Klaus-Michael Mallmanns und Eric Weitz' Studien zu Milieu und Gewaltkultur der Weimarer KPD? Welche Analogien finden sich zu den von Nikita Petrov erforschten NKWD-Kadern der dreißiger Jahre, welche Erfahrungen sammelte der Emigrant im Moskauer "alltäglichen" Stalinismus, wie ihn Sheila Fitzpatrick untersucht hat? Was hätte der Blick in Ulrich Herberts Biographie des SS-Führers Werner Best, der nur vier Jahre jünger war als Mielke, an Parallelen und Differenzen offenbaren können?
Zugegeben, der tiefere Blick in die Prägungen der Jugend ist schwierig, weil es an zeitgenössischen Selbstzeugnissen fast völlig fehlt. Aber er wäre vermutlich zugleich der Schlüssel zum immobilen Feindbilddenken des Ministers in den siebziger und achtziger Jahren gewesen. In Ottos Darstellung dieser späten Phase verschwindet Mielke fast ganz hinter der Apparatgeschichte des Ministeriums. Wie der Minister in diesen Jahren sein Imperium führte, lassen in erster Linie die Ausschnitte aus seinen jovialen und autoritären, paternalistischen und zuletzt nachgerade grotesk senilen Reden erahnen, die dem Buch auf Audio-CD beigegeben sind.
Alles in allem: Wilfriede Otto hat mit ihrer Biographie eine gewichtige und solide Basis geschaffen, um sich mit Erich Mielke als Person auseinander zu setzen. Als Repräsentant seiner Generation wird er die Historiker jedoch auch in Zukunft beschäftigen.
Jens Gieseke