Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler (= Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa; Bd. 7), Göttingen: Wallstein 2000, 488 S., ISBN 978-3-89244-350-6, DM 82,00
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Mittlerweile hat sich in der Forschung die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Verdikt Lessings im 17. Literaturbrief, das ja ohnehin nur die Rolle Gottscheds im Hinblick auf die "deutsche Schaubühne" betraf, bei weitem nicht dessen Wirkung im 18. Jahrhundert zu umschreiben vermag. Es mangelt nicht an Würdigungen der aufklärerischen Leistungen des Leipzigers, an differenzierenden biografischen Arbeiten, an Herausarbeitungen einzelner Tätigkeitsbereiche. Eine detaillierte Beschreibung des Wirkens als Zeitschriftenherausgeber fehlte indes. Diese liefert nun Gabriele Ball mit ihrem lesenswerten Buch, das, ausgehend von der "These vom unmittelbaren Konnex zwischen Gesamtwerk und öffentlichkeitswirksamer Zeitschrift" (18), die journalistischen Anfänge Gottscheds von den Moralischen Wochenschriften bis zum Büchersaal, der Mitte des 18. Jahrhunderts also, untersucht. Die Herausgebertätigkeit, so Ball, begriff Gottsched von Anfang an als Erziehung des Lesepublikums "zur Urteilsfähigkeit auf der Basis von Vernunft und Tugend" (42). Mit Recht sieht die Autorin Gottscheds Wirken als "Popularisator" und "Organisator" (positive Konnotierung in der Forschungsliteratur) beziehungsweise als "Geschmacksdiktator" (negative Konnotierung) in der "Einheit" beider Elemente: "Der Geschmacksdiktator treibt gleichsam den Großorganisator zu unterschiedlichen Projekten an" (48).
Die journalistischen Anfänge Gottscheds werden anhand der Tadlerinnen, Gottscheds erster Zeitschrift, vorgestellt. Es war dies das erste Journal überhaupt in Deutschland, das sich vorwiegend an ein weibliches Publikum wandte, um es "durch Literatur moralisch und ästhetisch" (67) zu schulen. Dieser aufklärerischen Programmatik, das sei am Rande festgestellt, ist auch die Titelgebung des Buches verpflichtet. Der in der Zeitschrift vorgestellte Diskurs um den 'richtigen' Kuss endet mit der Favorisierung des 'moralischen Kusses'.
Im Biedermann erweitert Gottsched seine journalistischen Bemühungen dahingehend, dass er, neben "gelehrten Aktivitäten poetologischer Natur" (94), auch sprachwissenschaftliche Fragestellungen in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit seiner Leser rückt. Kritisch ist in diesem Kontext anzumerken, dass die Autorin, die ansonsten stringent wissenschaftlichen Methoden folgt, hier in die Nähe der Spekulation gerät, wenn sie an die Stelle des Beweises die Behauptung setzt: "Das Ziel, den Rationalisten mit dem Popularisator zu versöhnen, gelingt während der Profilierungszeit als Gelehrter nicht immer" (99).
Hinsichtlich der Critischen Beyträge hebt Ball deren "Sonderstellung" innerhalb "eines gelehrten Journals" (120) heraus, die vorzugsweise in deren "Hinwendung zur Erforschung deutscher Sprache und Kultur" (120) beobachtet werden kann.
Im Zentrum des gesamten Buches stehen Untersuchungen zum Büchersaal. Hier wird nachgewiesen, dass Gottsched wieder stärkere Bezüge zu der Programmatik der Moralischen Wochenschriften sucht, das heißt, es wird erneut die Hinwendung zum breiteren Publikum in den Vordergrund der Wirkungsstrategie gestellt. Was in der Forschung bislang größtenteils als Rückschritt gekennzeichnet wurde, lässt Ball stattdessen als Vorzug erscheinen. Er bestehe in dem hohen pädagogischen Wert der Zeitschrift, der sowohl dem gebildeten als auch dem ungebildeten Leser in einem wohlabgewogenen docere beziehungsweise delectare Leselust vermittele. Ball arbeitet anhand des Streites Gottscheds mit Vertretern der Berliner Akademie, namentlich mit Leonhard Euler, die "Kontinuität" (170) in Gottscheds Weltbild heraus, das konsequent an den Vorgaben von Leibniz und Wolff ausgerichtet war.
Durch Einbeziehung des bislang noch nicht publizierten Briefwechsels Gottscheds gewinnen die von Gustav Waniek (Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit, Leipzig 1897) bereits vermittelten Kenntnisse über den Mitarbeiterkreis am Büchersaal festere Konturen. Als 'Entdeckung' kann der Nachweis der zentralen Rolle Friedrich Groschuffs, die dieser im Mitarbeiterkreis des Büchersaals spielte, gelten.
Nicht sicher nachgewiesen werden kann der quantitative Anteil der Rezensionen durch die Gottschedin. Ihrer Arbeit am Büchersaal ist ein Abschnitt gewidmet, in dem Ball gleich anfangs feststellt, dass "auf der öffentlichen Ebene der Zeitschrift keine Normabweichungen vom rationalistischen Programm ihres Mannes feststellbar" (180) seien. Neben einigen, unter Zuhilfenahme der Briefsammlung nachweisbarer Arbeiten aus der Feder der Gottschedin kann auch Ball - ausgenommen die mit den Kürzeln der Gottschedin gekennzeichneten eindeutig zuweisbaren Rezensionen - nur Vermutungen über deren Autorschaft anstellen. Ball macht aus der Not eine Tugend und stellt deshalb die Rezensionen des Gatten über die Übersetzungen seiner Frau in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, wobei sie den Beitrag der Gottschedin zur "England-Rezeption" (199) hervorhebt.
Als praktikable Hilfe für den Umgang mit dem Büchersaal erweisen sich die im Anhang mitgeteilten Korrespondenten, deren Briefe sich unmittelbar auf den Büchersaal beziehen beziehungsweise die Auflistung der rezensierten Buchtitel der Jahre 1745 bis 1750.
Die Auswertung der Korrespondenz Gottscheds - einschließlich der eingehenderen Behandlung der Briefe ausgewählter Beiträger zum Büchersaal - erwecken beim Leser Spannung auf das Projekt der Edition des Briefwechsels durch eine Arbeitsgruppe der Sächsischen Akademie der Wissenschaften.
Einzusehen ist, dass die Autorin auf eine genauere Darstellung jener Zeitschriften verzichtet hat, an denen Gottsched mitgearbeitet beziehungsweise deren Publikation er maßgeblich beeinflusst hat, diese aber nicht direkt als Herausgeber betreute. Die Leipziger Belustigungen oder die halleschen Bemühungen wären da beispielsweise zu nennen. Nicht einleuchtend aber erscheint dem Rezensenten die Eingrenzung der Herausgebertätigkeit auf die Jahre 1725 bis 1750. Damit entfällt eine Vorstellung des Nachfolgers des Büchersaals, nämlich der Zeitschrift Das neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Immerhin erschien diese in einem Zeitraum von über zehn Jahren, genau von 1751-1762. Gerade hier wäre zu zeigen gewesen, wie Gottsched nunmehr versucht, einerseits Positionen von Leibniz und Wolff gegenüber popularphilosophischen Ansätzen zu retten und andererseits literaturtheoretisch Charles Batteux und dessen Mimesispostulat dem deutschen Leser schmackhaft zu machen.
Hinsichtlich der Streitpositionen, die Gottsched mit seinen Zeitschriften naturgemäß auch befördern wollte, fällt eine Undifferenziertheit der Urteile ins Auge. Es fehlt eine klare Positionsbeschreibung, die auch die Hallenser Gruppierung um Baumgarten, Meier, Pyra und Lange einbezieht, die sich, vornehmlich in der Frage nach dem Wert der anakreontischen Dichtung, deutlich von den Urteilen der Leipziger und der Züricher unterschied. Da wirkt eine Bemerkung in einer Fußnote geradezu euphemistisch, wenn man bedenkt, dass sich die Hallenser und Leipziger bis aufs Messer bekämpften: "Gottscheds Verhältnis zu Pyra und Lange [...] ist in den Vierzigerjahren nicht als gut zu bezeichnen" (132).
Hans-Joachim Kertscher