Kaspar von Greyerz / Hans Medick / Patrice Veit (Hgg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500-1850) (= Selbstzeugnisse der Neuzeit; Bd. 9), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2001, 461 S., ISBN 978-3-412-15100-3, EUR 45,00
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Selbstzeugnisse haben Konjunktur. Dies zeigt nicht zuletzt eine Reihe in den letzten Jahren erschienener, umfangreicher Sammelbände, die - meist als Ergebnis einer Tagung - Bilanz ziehen und Forschungsperspektiven skizzieren. Auch der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück (Centro Stefano Franscini, Monte Verità bei Ascona, 1998) und verfolgt die angesprochene doppelte Zielsetzung. Darüber hinaus soll jedoch auch "einem weiteren wissenschaftlichen Publikum Einblick in einen lebendigen neuen Forschungsbereich" (IX) ermöglicht werden.
Inhaltlich erweist sich dieser Einblick als Tour d'Horizon der Neuen Kulturgeschichte und Historischen Anthropologie, die von Autorinnen und Autoren aus Europa und den USA (darunter auch eine Philosophin und mehrere Literaturwissenschaftler) in 21 Beiträgen unternommen wird. Die Aufsätze sind sieben thematischen Blöcken zugeordnet: Der erste behandelt die 'Konstitution des Selbst und Wahrnehmung des Anderen' (Michael Harbsmeier, Michael Mascuch, Leo Damrosch, Esther Baur), der zweite thematisiert die 'Sozialisierung in Kindheit, Jugend und Familie' (Arianne Baggermann/Rudolf Dekker, Hans Rudolf Velten). Der dritte Teil wendet sich der 'history of emotions' zu (Benigna von Krusenstjern, Lorenz Heiligensetzer, Kaspar von Greyerz, Angelica Baum). Im vierten Teil werden Selbstzeugnisse in ihrer Bedeutung für die Körpergeschichte untersucht (Gudrun Piller, Frédéric Sardet). Die 'Psychologisierung des Selbstzeugnisses' ist Thema des fünften Abschnitts (Sebastian Leutert, Magdalene Heuser, Alfred Messerli). Es folgen sechstens religions- und konfessionsgeschichtlich orientierte Beiträge (Gianna Pomata, Philip Benedict, Rolf Decot) und schließlich die Behandlung des Verhältnisses von 'Stadt, Sozialverband und Selbstzeugnis' (Pierre Monnet, James S. Amelang, Fabian Brändle). Den Rahmen für dieses weite Themenspektrum bildet die Quellengruppe der Selbstzeugnisse und damit zusammenhängend auch immer wieder die Frage nach dem 'Ich', das in allen Selbstzeugnissen in je unterschiedlicher Deutlichkeit und Absicht in Erscheinung tritt.
In einer den Aufsätzen vorangestellten Einführung in die 'Probleme der Selbstzeugnisforschung' unternimmt ein Baseler Autorenkollektiv um den Mitherausgeber Kaspar von Greyerz (3-31) den Versuch, die Fülle an Fragestellungen, die sich bei der Beschäftigung mit Selbstzeugnissen ergeben, und die unterschiedlichen Forschungsfelder, für die Selbstzeugnisse als Quellen ausgewertet werden können, aufzuzeigen. Allerdings erweisen sich die sieben Themenkomplexe des Bandes als so unterschiedlich, dass sie unabhängig voneinander im Hinblick auf die wesentlichen Positionen der neueren Forschung, bestehende Desiderate und mögliche Forschungsperspektiven vorgestellt werden. Die einzelnen Beiträge werden in diese einführenden Erläuterungen nicht einbezogen. Auch fehlt eine genauere Darlegung der Konzeption des Bandes beziehungsweise der Versuch einer Integration der unterschiedlichen Ansätze und Themen, etwa im Hinblick auf eine Geschichte des Individuums beziehungsweise des 'Ich' in der Frühen Neuzeit. Bedauerlich erscheint außerdem der Verzicht auf eine genauere Definition der Quellengruppe der Selbstzeugnisse (einige wenige Andeutungen, 7) insbesondere im Hinblick auf das 'weitere wissenschaftliche Publikum'.
Unter den in den verschiedenen Beiträgen untersuchten Quellen finden sich sowohl retrospektiv erinnernd angelegte Texte wie Autobiografien, Chroniken und Reisebeschreibungen als auch aus dem täglichen und häufig gegenwartsbezogenen Schreiben hervorgegangene Dokumente wie Tagebücher und Briefe. Diese lassen sich ohne weiteres unter der von Benigna von Krusenstjern vor einigen Jahren vorgelegten Definition von Selbstzeugnissen subsumieren, nach der es sich hierbei um Texte handelt, in denen eine "Selbstthematisierung durch ein explizites Selbst" zu finden ist, das heißt, "die Person des Verfassers beziehungsweise der Verfasserin tritt in ihrem Text selbst handelnd oder leidend in Erscheinung oder nimmt darin explizit auf sich selbst Bezug" [1].
Darüber hinaus werden im vorliegenden Band aber auch Texte in die Diskussion einbezogen, die nicht von einem 'Selbst' verfasst wurden, sondern nur indirekt ein Bild des 'Ich' zeichnen. So beschäftigt sich Gianna Pomata (323-352) mit der spirituellen und physischen Mutterschaft Elena Duglioli Dall'Olios, wie sie uns in mehreren Heiligenviten überliefert ist: "A way of trying to get closer to Elena's own voice through the medium of her hagiographer's texts is to look for aspects of these texts that depart in significant ways from the standard hagiographic patterns of the times" (332). Der auf diese Weise in den untersuchten Texten ermittelte "ego-content" (331) ermöglicht einen spannenden Einblick in Elenas Selbstsicht und -interpretation. Zugleich legt Pomatas Analyse aber auch Motive und Intentionen der Hagiographen Elenas beim je unterschiedlichen Umgang mit ihren Visionen wie auch deren Einbindung in literarische Traditionen offen. Der von Benigna von Krusenstjern betonte Aspekt, dass Selbstzeugnisse selbst verfasst und aus eigenem Antrieb heraus entstanden sind [2], ist auf diese Texte freilich nicht anwendbar. Ähnliches gilt für die von Michael Mascuch (55-75) paradigmatisch untersuchte religiöse Biografie der Katherine Stubbe, die von ihrem Mann Philip Stubbe verfasst und 1591 unter dem programmatischen Titel 'A Christal Glasse for Christian Women' veröffentlicht wurde. Mascuch liest diesen Text über eine tugendhafte fromme Frau vor allem im Hinblick auf den vom Verfasser intendierten Prozess der Selbstreflexion und Identifikation des Lesers mit der im Buch beschriebenen Person. Untersucht wird dabei weder das 'Ich' des Autors noch das des beschriebenen Subjekts, sondern ausschließlich dasjenige des Lesers in seinem Verhältnis zum Medium Buch. Gerade das Lesen sei in der Frühen Neuzeit als die dominante Form 'autobiografischer Praxis' anzusehen. Im Gegensatz zu späteren Zeiten, in der das (autobiografische) Schreiben das Selbst hervorgebracht habe, erfolgte dieser selbstreflexive Vorgang bis ins frühe 18. Jahrhundert in der (lesenden) Auseinandersetzung mit einem literarischen Gegenüber, etwa in einer religiösen Biografie: "In the ideal encounter with this textual mirror, it is the reader who becomes animated, and reflective [...]. In effect, the book produces a 'copy' of itself on the countenance of the impressionable - that is to say, self-reflective - reader." (67)
Die Beiträge von Mascuch und Pomata konterkarieren mit der Untersuchung von für die Selbstzeugnisforschung unorthodoxen Texten das übergreifende Prinzip des Bandes, in dem es doch - wie der Untertitel sagt - um 'Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen' gehen soll. Die Erweiterung beziehungsweise Ergänzung der ausgewerteten Quellen um indirekte Zeugnisse des Selbst erscheint allerdings als ein wichtiger Impuls, vor allem, wenn man bedenkt, wie gering die Zahl der Schreibfähigen vor 1800 und insbesondere derjenigen war, die ihre diesbezüglichen Kenntnisse zur Aufzeichnung persönlicher Belange nutzten. Im Hinblick auf die Erforschung des Individuums beziehungsweise des 'Ich' in der Frühen Neuzeit ist daher die Sprengung des engen Korsetts 'Selbstzeugnis' überaus begrüßenswert und fordert zur Neudiskussion des vielleicht vorschnell und zum Teil aus eher pragmatischen Gründen verabschiedeten Konzepts der 'Ego-Dokumente' heraus.
Inhaltlich fügen sich die Beiträge von Mascuch und Pomata mit der Betonung des prägenden Einflusses von Texten und literarischen Vorbildern auf die Selbst-Sicht beziehungsweise Selbst-Konstituierung des Lesers sowie der Differenzierung von hagiografischer Tradition und originärer Vision in den Viten Elenas in gewisser Weise wieder in den größeren Interpretationsrahmen des Bandes ein: Selbstzeugnisse werden von fast allen beteiligten Autoren als "Texte zwischen Erfahrung und Diskurs" (3) untersucht und gedeutet - als Texte, die zwar subjektive historische Erfahrungen artikulieren, hierbei aber zugleich eingebunden beziehungsweise abhängig sind vom jeweiligen zeitgenössischen Diskurs. Dieser Zusammenhang wurde freilich schon von manchem Selbstzeugnisautor reflektiert, so etwa, wenn die von Esther Baur (95-109) behandelte Anna-Maria Preiswerk-Iselin 1815 in ihrem Tagebuch notiert, dass sie bei der neuerlichen Hölderlin-Lektüre "Jdeen fand die mit dem übereinstimmten was ich vor einiger Zeit H.F. hierüber geschrieben. Beym Nachdenken wurde meine Freude gedämpft, in dem ich mir sagte vermutlich waren deine Jdeen hierüber eine Folge dessen was du in vorigen Zeiten aus diesem Aufsatz geschöpft, obwohl du dich dessen gar nicht mehr erinnertest, und nicht aus dir selbst genommen!" (104)
Dies heißt natürlich nicht, dass zeitgenössische Diskurse das 'Ich' oder 'Selbst' eines Autors völlig verdecken oder unkenntlich werden lassen. Der Verfasser eines Selbstzeugnisses ist nicht lediglich Schnittpunkt von Diskursen oder deren Repetitor. Vielmehr handelt es sich um einen Prozess der Aneignung und Verarbeitung, der je nach subjektiver Erfahrung und Wahrnehmung ganz unterschiedlich verläuft und sich dementsprechend auch auf verschiedene Weise in den Texten und Textformen widerspiegelt. Es gilt also nicht hinter, sondern in den - subjektive Erfahrungen und zeitgenössische Diskurse integrierenden - Texten die dargestellte Person oder das erinnerte Ich freizulegen. Der vorliegende Band liefert hierfür eine Reihe gelungener Beispiele und verdeutlicht insgesamt das überaus reiche und anregende Spektrum gegenwärtiger Selbstzeugnisforschung. Der angedeutete Interpretationsrahmen ließe sich allerdings nicht nur auf freiwillig entstandene Selbstzeugnisse, sondern auch auf viele unfreiwillig entstandene Aussagen zur Person, etwa auf Verhörprotokolle, anwenden. Denn auch hier wird das 'Ich' - wenn überhaupt - nur im Zusammenspiel von Erfahrung und Diskurs greifbar.
[1] Benigna von Krusenstjern, Was sind Selbstzeugnisse? Begriffskritische und quellenkundliche Überlegungen anhand von Beispielen aus dem 17. Jahrhundert, in: Historische Anthropologie 2 (1994), 462-471, hier 463.
[2] Ebd., 470.
Andreas Rutz