Rezension über:

Luba Freedman / Gerlinde Huber-Rebenich (Hgg.): Wege zum Mythos (= Ikonographische Repertorien zur Rezeption des antiken Mythos in Europa; Beiheft III), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2001, 214 S., 110 s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2419-1, EUR 52,00
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Rezension von:
Michael Thimann
Kupferstichkabinett, Staatliche Museen zu Berlin
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Michael Thimann: Rezension von: Luba Freedman / Gerlinde Huber-Rebenich (Hgg.): Wege zum Mythos, Berlin: Gebr. Mann Verlag 2001, in: sehepunkte 2 (2002), Nr. 7/8 [15.07.2002], URL: https://www.sehepunkte.de
/2002/07/3456.html


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Luba Freedman / Gerlinde Huber-Rebenich (Hgg.): Wege zum Mythos

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Dies ist der mittlerweile dritte Band der "Ikonographischen Repertorien zur Rezeption des antiken Mythos in Europa", einer Schriftenreihe des Gebrüder Mann Verlags, die sich in interdisziplinärer Form dem vielschichtigen Nachleben der antiken Mythologie widmet. Nach dem 1995 erschienenen - und sofort zum Standard-Nachschlagewerk avancierten - Erstling zur "Rezeption der Metamorphosen des Ovid" sowie dem Nachfolger "Der antike Mythos und Europa (1997)" wird durch das Erscheinen der "Wege zum Mythos" immer deutlicher, dass die ikonographische Rezeptionsforschung mit dieser Reihe ein etabliertes Publikationsforum gefunden hat. Auch ist bereits offensichtlich, dass sich die einzelnen Spezialstudien in der Übersicht zu einem weitgefächerten Panorama der Überlieferungsforschung entfalten, das in der kunstgeschichtlichen Wissenschaftslandschaft seinesgleichen sucht. Im besten Sinne wird damit an die Tradition der ikonographischen Forschung aus dem Kreise der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg angeschlossen.

Eine kunsttheoretisch komplexe Analyse des Begriffs der poesia legt Luba Freedman am Beispiel Tizians vor ("The Poesia: Ovid, Ariosto, and Titian on 'The Heroic Liberation of the Maiden'", 13-38). Wie schon Charles Dempsey nachgewiesen hat, bezeichnete der Begriff poesia bereits seit dem späten Quattrocento einen rein poetischen Bildgegenstand. Zugleich hob poesia die hohe eigenschöpferische Befähigung der Malerei hervor und fand bei Paolo Pino (1548) Eingang in die kunsttheoretische Diskussion.

Freedman geht diesen Spuren nach und untersucht das Wesen einer gemalten poesia an Tizians Gemälde "Perseus und Andromeda", das sich für eine derartige Lektüre anbietet: Tizian hatte in Briefen an seinen Auftraggeber Philipp II. von Spanien, der ihn um eine mythologische Bildserie ovidischer favole gebeten hatte, immer wieder selbst von den poesie gesprochen, die er für den Herrscher anfertigen wolle. Das häufig dargestellte Motiv aus Ovids Metamorphosen (IV, 663-764) deutete Tizian aber im Rekurs auf eine verwandte Szene aus Ariosts Orlando furioso, der Befreiung Angelicas durch Ruggiero, zu einem modernen Seelendrama um: Dies thematisiere zugleich die erotische Liebesverbindung der Protagonisten neben der Errettung vor dem unheilvollen Monstrum. Damit habe Tizian eine gemalte poesia geschaffen, die sich aus verschiedenen literarischen Quellen konstituiert und einen neuen, genuin poetischen Bildsinn erzeugt: Nur Tizian sei es gelungen, den Gefühlsumschwung der an den Felsen geketteten Jungfrau im Übergang von Furcht zu Hoffnung zu veranschaulichen.

Einer spezifisch neuzeitlichen Bildform, welche die humanistische Wiederentdeckung antiken Bildungsgutes mit praktischen Herrschaftsansprüchen verknüpfte, widmet sich der Beitrag von Friedrich Polleroß ("Rector Marium or Pater Patriae? The Portraits of Andrea Doria as Neptun", 107-121). In seinen Studien zum Rollenportrait hatte Polleroß bereits den Typus des "mythologischen Identifikationsportraits" untersucht, der im 16. Jahrhundert in Italien und, wie Françoise Bardon gezeigt hat, auch in Frankreich außerordentlich populär war.

Polleroß verfolgt jetzt die Entstehungsgeschichte von zwei Hauptwerken dieses Bildtypus - Bronzinos Portrait des "Andrea Doria als Neptun" und Baccio Bandinellis unvollendetes Neptun-Monument für Genua. Erstaunlich für unsere Kenntnis der Werkgenese ist die Feststellung, dass Bronzinos Gemälde (Mailand, Brera) erst nachträglich zu der mythischen Seegottheit umgestaltet worden sei, zunächst jedoch als Darstellung eines römischen "Praefectus Classis" geplant war. In dieser historischen Verkleidung erscheint Andrea Doria noch in der von Tobias Stimmer illustrierten Ausgabe von Paolo Giovios "Elogia virorum bellica virtute illustrium" (Basel 1575).

In Andrea Doria wurde aber auch schon von den Zeitgenossen ein neuer Neptun erkannt, wobei die Tugendanalogie sicher in der schon von Vergil geprägten Vorstellung von Neptun als einem ebenso machtvollen wie bedächtigen Herrscher lag. Denn Neptuns Herrschaft stützte sich nicht nur auf seine Kraft, sondern auch auf seine Begabung als Redner, der einer berühmten Stelle der Aeneis (I, 148-156) zufolge die Wellen - und damit die aufgebrachten Massen - beruhigt hatte. Diese Eigenschaft erhob Neptun über das Sinnbild für militärische Stärke zu einer genuin politischen Identifikationsfigur, die die ideale Regierung repräsentieren konnte.

Andrea Doria, von Karl V. zum Fürsten erhoben und als Patrizier zugleich von den Genuesen zum "pater patriae" erklärt, war 1528 maßgeblich an der wiedererlangten Freiheit der Republik Genua beteiligt, die ihm aus Dank eine öffentliche Statue errichten wollte. Dafür war die Statue Bandinellis vorgesehen. Die nie vollendete Marmorstatue (heute Carrara) wäre die erste öffentlich aufgestellte monumentale Portraitplastik in mythologischem Gewand gewesen, die die italienische Renaissance hervorgebracht hat. Die Nacktheit des Neptun, der zugleich Portraitzüge besitzen sollte, hätte dabei keinen Verstoß gegen das decorum dargestellt, da im Sinne von Ernst Kantorowicz lediglich der "politische Körper" des Prinzen Doria zur Anschauung gekommen wäre, der gerade in seiner Nacktheit die Tugendhaftigkeit versinnbildlicht hätte: Das mythologische Identifikationsportrait des Andrea Doria wäre keineswegs die Selbstdarstellung omnipotenter Herrschergewalt gewesen, sondern ein dezidiert republikanisches Monument zur Erinnerung an die Wiedererlangung der Freiheit. Doch war die mythologische Verhüllung zugleich die einzige Möglichkeit, einer herausragenden lebenden Person ein öffentliches Monument zu errichten, das diese über die praktizierte Gleichrangigkeit der Genueser Mitbürger erhob. Für die verbreitete Verwendung der antiken Mythologie in der politischen Ikonographie des 16. Jahrhunderts bietet der Aufsatz in seiner argumentativen Dichte ein beeindruckendes Exempel, das vergleichbaren Arbeiten, wie Bodo Guthmüllers politischer Analyse der Sala dei Giganti im Palazzo del Tè von 1977, zur Seite zu stellen ist.

Die Geschichte der grafischen Ovidillustration im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert behandelt der Beitrag von Gerlinde Huber-Rebenich, deren Forschungen aus den Vorarbeiten zu einem umfassenden Repertorium der textbegleitenden druckgraphischen Ovidillustration bis zum Jahre 1800 hervorgegangen sind ("Die Macht der Tradition. Metamorphosen-Illustrationen im späten 16. und 17. Jahrhundert", 141-161). Dieses lange erwartete Corpuswerk zur Metamorphosen-Ikonographie wird Max Dittmar Henkels in den "Vorträgen der Bibliothek Warburg" von 1926/27 (Berlin/Leipzig 1930) publizierte Studie ersetzen, die bisher den einzigen, jedoch lückenhaften Überblick bot.

An den Oviddrucken vom Ende des humanistischen Zeitalters beobachtet Huber-Rebenich eine zunehmend mangelnde Originalität bei der Neuerfindung ikonographischer Muster. Vielmehr sei die "Macht der Tradition" wirksam, wenn sich die Illustratoren vornehmlich auf die Wiederholung weitaus älterer Kompositionstypen berufen. Auch können einzelne Elemente älterer Kompositionen isoliert und in einen neuen Zusammenhang gebracht werden, wie die Autorin anhand einer 1619 in Paris erschienenen, illustrierten Metamorphosen-Übersetzung ins Französische nachweist. Nicht nur die Darstellungen von Antonio Tempesta (1606) und Pieter van der Borcht (1591) wurden kopiert, sondern zudem mit Zitaten nach Giacomo Franco und Crispijn van de Passe kombiniert: Die Verfasserin bildet aussagekräftige Motivketten, die die repetierende Filiation von einzelnen Bilderfindungen verdeutlichen und das umfassende Kopierverfahren in der späthumanistischen Ovidillustration begreifbar machen. Sollte die Ovidillustration um 1600 etwa in eine Krise geraten sein, wenn die Kraft künstlerischer invenzione gänzlich zum Erliegen gekommen erscheint? Interessant wäre es, die mangelnde Innovation des motivischen Repertoires im Zusammenhang mit dem geschmacksgeschichtlichen Wandel in gegenreformatorischer Zeit zu untersuchen. Denn mit dem christlichen Ritterepos Torquato Tassos war um 1600 der lange unangefochtenen Vorrangstellung der antiken Mythologie im Bereich der profanen Ikonographie eine wirkungsmächtige Konkurrenz erwachsen

Den praktischen Nutzen des an den Universitäten Jena und Mannheim ansässigen Repertoriums der Ovidillustrationen spiegelt auch der Beitrag von Hermann Walter ("Luca Giordano und die Illustrierung der Metamorphosen des Ovid in der Druckgraphik des 16. und 17. Jahrhunderts", 163-182). Walter untersucht zwei Gemälde mythologischer Thematik von der Hand des Luca Giordano (1639-1705). Die bisher vage beziehungsweise falsche ikonographische Bestimmung der Bilder kann Walter mithilfe der Motivtraditionen in der Druckgrafik korrigieren: So handelt es sich bei einem Gemälde in der Galleria Querini Stampalia in Venedig nicht um eine Darstellung von "Diana und Actaeon", sondern um die seltene "Übergabe der Geschenke von Procris an Cephalus", womit zugleich eine Perspektive auf den ursprünglichen Kontext eröffnet sein könnte. Denn wie Irving Lavin in einem grundlegenden Aufsatz von 1954 gezeigt hat, wurde das "Cephalus und Procris"-Thema in der frühen Neuzeit häufig im Zusammenhang mit Eheschließungen bemüht, da es vor der unmäßigen Eifersucht warnen konnte.

Auch im Falle von Giordanos Gemälde im Palazzo Chigi in Rom, das bisher als "Diana, die Niobes Kinder tötet" galt, bietet Walter eine überzeugende Neulektüre: Namentlich der Vergleich mit einem Stich aus der Metamorphosen-Serie des Antonio Tempesta von 1606 macht die Identifikation des Gemäldes als "Diana tötet Chione" überzeugend.

Weit mehr als eine Miszelle ist auch Hans-Jürgen Horns Studie über Christian Gottlob Heynes Rezension von Johann Gottlieb Lindners "Lehrreiche[m] Zeitvertreib in Ovidianischen Verwandlungen" (Leipzig 1764), einer in der Forschung nahezu vergessenen illustrierten Ovidbearbeitung mit moralisierendem Anspruch ("Eine neue Verwandlung der 'Verwandlungen'", 183-191). Heyne als Begründer der kritischen Philologie in Deutschland musste diese Ovidparaphrase einer vernichtenden Kritik unterziehen, da sie mit dem dichterischen Stil und der literarischen Intention Ovids nur wenig gemein hatte: Jedoch zeigt Lindners Unternehmen, wie sehr die Tradition der moralischen Ovidbearbeitung auch noch am Ende der Aufklärung präsent war. Es ließe sich hinzufügen, dass selbst die barocke Ovidübersetzung Joachim von Sandrarts, modernisiert durch die rationalistische Mythendeutung des Abbé Banier, noch 1772 im Rahmen der Neuedition der Teutschen Academie durch Johann Jacob Volkmann wiederaufgelegt wurde: Die nachweisliche Präsenz der altertümlichen Tradition moralisch-erbaulicher Mythenlektüre dürfte also auch für die Kunstgeschichte von Interesse sein, solange die Metamorphosen als "Malerbibel" auch noch im späten 18. Jahrhundert der wichtigste Referenztext für die Darstellung von Stoffen aus der klassischen Mythologie waren.

Es bleibt nur zu hoffen, dass in der Reihe noch weitere Nachfolgebände vergleichbaren Charakters vorgelegt werden. Wünschenswert wäre etwa eine Sammelpublikation über die kunsthistorische Relevanz der mythographischen Literatur und das Fortleben der antiken Mythologie in den ikonologischen Handbüchern und in der Emblematik.


Michael Thimann