Robert Jütte: Geschichte der Sinne. Von der Antike bis zum Cyberspace, München: C.H.Beck 2000, 416 S., 17 Abb., ISBN 978-3-406-46767-7, EUR 29,90
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Robert Jütte, Leiter des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung in Stuttgart und Professor für Neuere Geschichte an der Universität Stuttgart, widmet sich in seiner Studie der Erforschung der Sinne von der Antike über die Gegenwart bis zu einem Ausblick in die Zukunft. Nach eigener Einschätzung liegt er mit seinem Thema im Trend der Zeit. Wurde noch vor zehn Jahren die Entsinnlichung der Welt beklagt, so wird heute in vielfältigen Alltagssituationen wie im Museum, in Ausstellungen, zur Werbung für Wellness- Zentren und andernorts auf die fünf Sinne Bezug genommen. Diese Veränderung inspirierte den Kulturhistoriker Jütte zu einer historischen Auseinandersetzung mit den Sinnen.
Jütte nähert sich der Beschäftigung mit den Sinnen in historischer Perspektive anhand normativer Diskurse wie medizinischer Schriften und pädagogischer Ratgeber, aber auch mit Hilfe von Beispielen aus der Literatur an. Das Thema des Buches ist somit keine Geschichte der Sinne, die den Ansätzen der historischen Anthropologie folgt und angelehnt ist an die Körpergeschichtsforschung der letzten Jahre, sondern eine Geschichte des Umgangs mit Sinneswahrnehmungen und der Beschreibung und Beeinflussung derselben in (größtenteils) normativen Diskursen.
Es ist ein ambitioniertes Vorhaben, einer solch gewaltigen Zeitspanne Herr zu werden. Jütte unterteilt seine Studie in drei gleich gewichtete Abschnitte. Ausgehend von der antiken und frühneuzeitlichen Ordnung der Sinne beschreibt er die Wahrnehmung derselben im 18. und 19. Jahrhundert und widmet den letzten Abschnitt dem Umgang mit den Sinnen im 20. Jahrhundert. Die Schwierigkeit, dem umfassenden Anspruch des Titels gerecht zu werden, zeigt sich bei der Gewichtung der verschiedenen Zeitspannen. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf dem 18., 19. und 20. Jahrhundert, während die übrigen Zeitspannen eher knapp dargestellt werden. Der erste Teil ist mit der schweren Last befrachtet, die Geschichte der Sinne von der indischen über die chinesische, die griechisch-römische, die mittelalterliche und die frühneuzeitliche Naturphilosophie zu beschreiben. Damit wird die Zeitspanne von 1000 vor Christus bis ins 18. Jahrhundert überbrückt. Es ist durch den Forschungsschwerpunkt Jüttes als Frühneuzeithistoriker zu erklären, dass die Gewichtung in dieser Weise ausfällt, anhand des Buchtitels ließe sich aber anderes erwarten.
Zur Bearbeitung der unterschiedlichen Abschnitte werden verschiedene kulturgeschichtliche Quellen herangezogen. Jütte geht seiner Fragestellung anhand medizinhistorischer, pädagogischer, philosophischer und literarischer Texte nach. Für das 20. Jahrhundert zieht er zusätzlich Werbeslogans heran. Das Kapitel über die Sinne von der Antike bis zur Frühen Neuzeit widmet sich der Diskussion des Sinnesvermögens in unterschiedlichen Kontexten, der Klassifikation und somit der Festlegung der Anzahl der Sinne und ihrer Bedeutungsfolge, der Metaphorik und den Sinnesstörungen.
In seiner Analyse der Sinne im 18. und 19. Jahrhundert (im zweiten Teil) gelangt der Autor zu der Einschätzung, dass die Sinne zunehmend dem Verstand unterworfen und nicht, wie vorher, als gegeben, sondern als schulungsbedürftig und verfeinerbar angesehen wurden. Ein vermehrtes wissenschaftliches Interesse an den Sinnen im 18. Jahrhundert führte zu einer Hinwendung der Pädagogik zur Ausbildung und Erziehung der Sinne. Im Zuge der Industrialisierung und der fortschreitenden Technisierung der wissenschaftlichen Erkenntnis entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein verändertes Umgehen mit Sinneswahrnehmungen aus physiologischer Sicht. Empfindungen unterschiedlichster Art wurden aufgezählt und klassifiziert. Laut Jütte führte dies zu einer Vereinzelung der Sinne, die immer weniger in ihrer Gesamtheit als fünf Sinne, sondern vermehrt als einzelne Phänomene aufgefasst wurden. Der dritte Abschnitt schließlich widmet sich der Wiederentdeckung der Sinne im 20. Jahrhundert. Tasten, Schmecken, Riechen, Hören und Sehen werden bewusst neu erlebt und besetzt, wie Jütte beispielsweise am neuen Körperkult und Entwicklungen im Essverhalten, das sich in Fast-Food-Nahrungsaufnahme und dem Slow-Food-Genuss polarisiert, aufzeigt. Abschließend behandelt Jütte in Form eines Ausblicks neueste Entwicklungen der Sinne im Zeitalter zunehmender Vernetzung.
Titel und Einleitung legen es nahe: das Epos über die Sinne ist an ein breites Publikum gerichtet und verzichtet aus diesem Grunde auf einen betont wissenschaftlichen Duktus, lässt aber auch eine ausführliche Darstellung und Reflexion des verwendeten Quellenmaterials vermissen. Im Hinblick auf den Adressatenkreis mag es verständlich sein, dass Jütte neuere Forschungsansätze wie die historische Anthropologie und die Körpergeschichte vernachlässigt. Allerdings hätte man sich beim Lesen des Buches mehr Interpretationen und Zusammenfassungen des von Jütte analysierten Materials gewünscht. Durch die große Zeitspanne wird die Darstellung streckenweise oberflächlich. Der Verfasser verzichtet nicht nur auf neue, Erkenntnis versprechende Ansätze, sondern schöpft auch das Potenzial des eigenen Programms nicht vollständig aus, indem er der Deutung der herangezogenen Quellen wenig Raum gibt.
Eine "Geschichte der Sinne" lädt geradezu dazu ein, einen körpergeschichtlichen Ansatz zu verfolgen. Der Autor aber wählt einen ideengeschichtlichen. Hieraus erklärt sich, dass die subjektive Wahrnehmung nicht untersucht wird. Im letzten Kapitel, das Jütte als Ausblick anlegt, verzichtet er darauf, die Ergebnisse seiner vorhergehenden Analysekapitel zusammenzufassen und zu deuten. Dadurch kann das Buch wahrscheinlich auch die Erwartungen des interessierten Laien, an den es sich offenbar richtet, nicht befriedigen. Ein Verdienst Jüttes im Vergleich mit anderen Studien über die Sinne bleibt es, sich den fünf Sinnen in ihrer Gesamtheit zuzuwenden. Zudem regt er durch die Einbeziehung neuester "sinnlicher" Entwicklungen Reflexionen über die Sinne nicht nur bezüglich der Vergangenheit, sondern auch mit Blick auf die Zukunft an.
Gudrun Heuschen