Robert Jütte: Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung von der Antike bis zur Gegenwart, München: C.H.Beck 2003, 367 S., ISBN 978-3-406-49430-7, EUR 14,90
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Menschen haben, so eine der Kernaussagen der von Robert Jütte vorgelegten Überblicksdarstellung, zu allen Zeiten versucht, unerwünschten Nachwuchs zu verhindern. In welchem Ausmaß und mit welchen Mitteln, aus welchen Gründen und unter welchen religiösen und moralischen Vorbehalten sie dies taten, davon erzählt das Buch über "Lust ohne Last". Es handelt sich dabei um eine flüssig geschriebene, umfassende und informative Darstellung, wie sie in dieser Form bisher in deutscher Sprache nicht vorlag.
In vier Kapiteln wendet sich Jütte zunächst der Antike, dann dem Mittelalter und der Frühneuzeit, schließlich dem 19. und dem 20. Jahrhundert zu. Die Darstellung konzentriert sich dabei nicht auf die zur Verhütung angewandten Mittel, sie orientiert sich vor allem an den im Zusammenhang mit dem Phänomen "Empfängnisverhütung" stehenden Diskursen.
Besonderes Augenmerk widmet Jütte den religiösen Vorstellungen, wie sie in den Grundlagentexten der Weltreligionen fixiert und dann im Verlauf der Geschichte modifiziert wurden. Bezogen auf die christliche Religion zeigt Jütte, wie sich unter dem Einfluss Augustinus' eine bis in die Neuzeit bestehende, scharf ablehnende Haltung gegenüber der Empfängnisverhütung entwickelte. Ausführlich stellt Jütte dar, wie diese Haltung im Protestantismus verändert und auch innerhalb des modernen Katholizismus infrage gestellt wurde.
War die sittlich-moralische Bewertung der Verhütung vor allem Aufgabe der Kirchen, so wurde Verhütung im 19. Jahrhundert zum Politikum. Während eine Beschränkung der Geburten angesichts des Pauperismus zunächst als politisch wünschenswert galt, führte der im Verlauf des 19. Jahrhunderts im Zuge des demografischen Übergangs in allen westeuropäischen Staaten einsetzende Geburtenrückgang zu einer veränderten Problemwahrnehmung. Staatlicherseits wurde nun (in Deutschland um 1900) mithilfe von Zensurbestimmungen gegen die Verbreitung und Bewerbung von in der Praxis längst etablierten Verhütungsformen vorgegangen (209 ff.). Gleichzeitig setzten sich Neo-Malthusianer und die Sexualreformbewegung für Sexualaufklärung und den Zugang zu Verhütungsmitteln ein. Einen traurigen Höhepunkt erreichte das staatliche Eingreifen in die Sphäre der Fortpflanzung durch die Zwangssterilisierungen der NS-Zeit. Eugenische und rassenbiologische Vorstellungen wurden zum damaligen Zeitpunkt zwar auch in anderen Ländern vertreten, ihre praktische Umsetzung erfolgte aber nirgends mit der gleichen Brutalität wie im 'Dritten Reich' (263 ff.).
Ein weiterer roter Faden, der sich durch alle vier Kapitel zieht, ist die Frage, wo und von wem Wissen über Empfängnisverhütung bereitgehalten und verbreitet wurde. Dabei richtet Jütte den Blick nicht nur auf medizinische Texte, die über die Epochengrenzen hinweg Informationen über empfängnisverhütende Mittel enthielten. Er fragt auch, inwieweit der erotischen Literatur Informationen über Verhütungsmittel entnommen werden konnten. Und er stellt ausführlich die Produktion und Verbreitung von Medien dar, die wie Ehe- und Gesundheitsratgeber, Werbung und Informationsbroschüren der gezielten Popularisierung von Verhütungswissen dienten.
Das jeweils letzte Unterkapitel der chronologischen Großkapitel ist der Darstellung der Techniken der Empfängnisverhütung gewidmet. Hier finden sich Informationen über die Entwicklung des Gummikondoms und zur Geschichte der Pille, aber auch über Kräutertränke oder die Verbreitung von Praktiken wie der Scheidenspülung, der zeitweisen Enthaltsamkeit und des coitus interruptus (Sachlich ungenau fallen allerdings die Informationen zum Diaphragma aus, 308). Jütte legt Wert darauf, die Geschichte der Empfängnisverhütung nicht als eine Erfolgsgeschichte mit dem Fluchtpunkt "Pille" zu schreiben, und betont daher, dass es auch früheren Generationen mit den ihnen zu Gebote stehenden Mitteln gelang, familienplanerische Ziele in die Tat umzusetzen, und dass dabei die Wahl eines Verhütungsmittel nach einer Reihe von Kriterien erfolgte, von denen die Wirksamkeit des Mittels nur eines gewesen sei (223). Wie die einzelnen Mittel wirken beziehungsweise wirkten oder was sie bewirken sollten, ist übrigens nicht Gegenstand der Darstellung. Für in der Vormoderne angewandte Tränke oder Scheidenpessare mag dies auch im Einzelnen kaum möglich sein, für Methoden wie den coitus interruptus oder den Gebrauch von Kondomen mag eine genauere Erklärung überflüssig sein. Mit Blick auf die Pille und die Spirale wäre es aber nach meinem Dafürhalten sinnvoll gewesen, die Wirkweise der Verhütungsmittel kurz zu erklären.
Bei der Lektüre dieses Buchs lässt sich sehr viel lernen: über zeitgenössische Auseinandersetzungen um Verhütung und über die damals gebräuchlichen Praktiken, aber auch über mögliche Quellen und wissenschaftliche Kontroversen innerhalb der Geschichtswissenschaft. Souverän wählt Jütte den geografischen Bezugsrahmen seiner Ausführungen in Abhängigkeit von dem jeweils behandelten Gegenstand und kann so nationale wie regionale Unterschiede thematisieren, aber auch Gemeinsamkeiten und Transferprozesse in den Blick nehmen. Die Zugänglichkeit dieses auch für interessierte Laien geschriebenen Buchs wird durch einen allgemein verständlichen Stil und ein Sach- und Personenregister gewährleistet. Aus fachhistorischer Sicht wäre allerdings ein breiterer Fußnotenapparat wünschenswert gewesen, ebenso wie eine reflexivere Schreibweise, die Prämissen und theoretische Vorannahmen in die Darstellung einbezogen hätte. Stattdessen lässt Jütte die Struktur des Textes und die Auswahl der Themen und Quellen unkommentiert. So bleibt unklar, ob Schwerpunktsetzungen und Auslassungen in der Themenwahl systematischen Überlegungen oder einer lückenhaften Forschungslage geschuldet sind. Warum etwa widmet sich ein mehrseitiger Abschnitt den Kastraten der Frühen Neuzeit, obwohl die freiwillige "Entmannung" (142), wie Jütte selbst ausführt, wohl kaum zum Zweck der Empfängnisverhütung erfolgte? Warum spielt das Thema "Abtreibung" kaum eine Rolle und wird fast nur für die Vormoderne erwähnt? Warum lassen sich der Darstellung demografische Daten für das 19. Jahrhundert, nicht aber für das 20. Jahrhundert entnehmen? Und warum fehlt ein Abschnitt über die Sexualaufklärung von Kindern und Jugendlichen?
Irritierend ist außerdem die Weigerung Jüttes, die Einheit des von ihm bearbeiteten Gegenstandes infrage zu stellen. Nicht nur der Klappentext, sondern auch die Einleitung behaupten, dass "Empfängnisverhütung" ein universales, historische Zeiten überdauerndes Phänomen sei. Mit gleichem Recht ließe sich aber auf der Basis der von Jütte zusammengetragenen Informationen argumentieren, dass sich die den Praktiken zugeschriebenen Bedeutungen etwa mit der Entwicklung des medizinischen Wissens, mit veränderten Körpervorstellungen, mit sich wandelnden Ehe- und Familienkonzeptionen so stark verschoben, dass eine Zusammenfassung scheinbar ähnlicher Praktiken unter der Rubrik "Empfängnisverhütung" zumindest problematisch ist. Dass dieser Begriff, wie Jütte ausführt, erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt wurde, belegt vielleicht, dass vorher ein sprachliches Tabu herrschte, dass man sich nur "sprachlich verhüllt" zum Thema Verhütung äußern konnte (11). Die Neuschöpfung dieses Begriffes (sowie konkurrierender Bezeichnungen) zeigt aber auch, dass sich das wissenschaftliche und politische Interesse an Verhütungspraktiken auf eine spezifisch moderne Art neu formierte. "Empfängnisverhütung" als Konzept steht damit für eine historisch neue wissenschaftliche Betrachtungsweise kontrazeptiver Praktiken, die selbst der Historisierung bedarf.
Robert Jüttes "Geschichte der Empfängnisverhütung" wird historische Laien und Studierende interessieren und sehr gut informieren. Sie wird auch als Referenzwerk für weitere historische Forschungen dienen. Die empirisch dichte Darstellung hätte jedoch von einer stärkeren Kontextualisierung des Themas, von einem bewussteren Brückenschlag zur Familien-, Geschlechter-, Körper-, Sexualitäts- und Wissenschaftsgeschichte und von einer deutlicheren Historisierung sexualwissenschaftlicher Kategorien profitiert.
Christina Benninghaus