Alfons K. L. Thijs (ed.): Prosper Arents: De Bibliotheek van Pieter Pauwel Rubens: een reconstructie. Bewerking: Frans Baudouin, Lia Baudouin, Elly Cockx-Indestege, Jacques De Bie, Marcus de Schepper (= De Gulden Passer; Bd. 78/79), Antwerpen: Vereniging der Antwerpse Bibliofielen, Museum Plantin Moretus 2001, ISSN 0777-5067, EUR 80,00
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Friso Lammertse / Alejandro Vergara (eds.): Peter Paul Rubens: The Life of Achilles. Ausstellungskatalog Museum Boijmans Van Beuningen, Rotterdam 2003 / Museo Nacional del Prado, Madrid 2003/04, Rotterdam: NAi Uitgevers 2003
Durch die PISA-Studie erschüttert, wendet man in der aktuellen Bildungsdebatte oft wehmütig den Blick zurück auf jene Epochen, in denen es noch möglich war, alles zu wissen. Doch was musste man früher eigentlich wissen, um als gebildet zu gelten? Was immer es war, der Maler Peter Paul Rubens (1577-1640) wusste es. Schon seine Zeitgenossen bescheinigten ihm eine exquisite Allgemeinbildung, "ein sonderbares Ingenium, Witz und Verstand" [1], wie es 1675 Joachim von Sandrart ausdrückte, der dem Meister auf einer Reise begegnet war. Der Kunstgeschichtsschreibung gilt Rubens seit ihren Anfängen als ein Musterbeispiel des "Pictor doctus", des gebildeten Malers. Während Raffael oder Tizian ihre besondere gesellschaftliche Reputation allein ihren Werken verdankten, verfügte Rubens neben seinem hervorragenden Ruf als bester europäischer Maler seiner Zeit noch über den Nimbus eines außerordentlich gebildeten Diplomaten. Aber was wusste Rubens?
In seinen Briefen, die den Gepflogenheiten der Zeit folgend mit geistreichen Anspielungen und Klassikerzitaten gespickt sind, finden sich zahlreiche Belege für seine umfassende Bildung. Daneben gibt es ganz direkte Hinweise auf die Lektüre bestimmter Bücher, wenn Rubens sich etwa bei Autoren für ihm übersandte Werke bedankt. So erlaubt die umfangreiche Korrespondenz des Malerdiplomaten Rückschlüsse auf Rubens' intellektuelle Interessen und seine Lesegewohnheiten. Dieser Umstand brachte den Antwerpener Bibliothekar Prosper Arents (1889-1984), dessen umfangreiche Rubens-Bibliografien (Antwerpen 1940, Brüssel 1943) noch heute ihren Platz in der Forschung behaupten, auf die Idee, die Bibliothek des Malers zu rekonstruieren. Erste Bemühungen in diese Richtung unternahm Arents bereits 1961 [2]. Nach dieser "Inleiding tot de bibliografie" arbeitete Arents mit unermüdlichem Fleiß und einer tief im 19. Jahrhundert verwurzelten bibliothekarischen Akribie weiter an einem möglichst vollständigen Katalog der Rubens-Bibliothek. Eine bedeutende Rolle spielten dabei die im Antwerpener Verlagshaus Plantijn-Moretus bewahrten Dokumente, auf die Max Rooses den Blick gelenkt hatte [3]. In den unerschöpflichen Archiven der Officinia Plantiniana finden sich noch jene Kassenbücher, in denen an Rubens ergangene Zahlungen für Titelillustrationen genauso vermerkt sind wie die an ihn verkauften Bücher. Diesen Quellenfundus systematisch aufgearbeitet zu haben, ist das Verdienst von Prosper Arents, der auch das einzige Exemplar des Auktionskataloges der Bücherversteigerung von Rubens' ältestem Sohn Albert aus dem Jahr 1658 entdeckte. Dem aus diesen Quellen gewonnen Bibliothekskatalog ist Arents' Biografie vorangestellt. In einer rührenden Lebensskizze macht der Herausgeber Alfons K.L. Thijs den posthum edierten Band zu einem Monument des Gelehrtenfleißes (11-42).
Ein zweiter einleitender Beitrag von Frans Baudouin bietet den Versuch einer Bewertung (47-75). Baudouin gelingt es, hinter den trockenen Daten und Fakten der Bibliografie den weitgespannten Horizont der rubensschen Interessen zu erhellen. Unter Einbeziehung der relevanten älteren Forschung vermittelt sein dichter Text einen guten Eindruck von Rubens als Leser. Baudouin erläutert in seinem Essay auch die dem Katalogteil (93-336) zu Grunde liegende Systematik, der zufolge die Bücher - gestützt auf die angeführten Quellen - in verschiedene Kategorien eingeteilt sind. Den Anfang machen solche Bücher, die mit handschriftlichen oder gedruckten Widmungen an Rubens versehen sind. Es folgen Bücher mit Illustrationen nach Entwürfen des Meisters, danach die von Rubens in der Officinia Plantiniana erworbenen Bücher, denen sich die in der Korrespondenz erwähnten Titel anschließen. In größerer Distanz zum Meister selbst stehen dann die als Bücherbesitz der Familie bezeugten Werke. Den Abschluss bildet der als Unikat in der Pariser Bibliothèque Nationale bewahrte Versteigerungskatalog der Bibliothek von Albert Rubens (1657), der dem Band im Faksimile angehängt ist. Wie problematisch dieser Nachlasskatalog des Sohnes als Quelle für den Bücherbesitz des Vaters ist, erweist sich in der Tatsache, dass etliche in der Korrespondenz erwähnte und zitierte Werke in diesem Katalog nicht auftauchen, dafür jedoch andere Bücher, die wohl erst von dem als Jurist tätigen Albert gekauft wurden.
Überhaupt kann man natürlich nie wissen, ob ein Werk, das sich in einem Verzeichnis findet oder das im Briefwechsel erwähnt wird, tatsächlich Seite für Seite von Rubens gelesen wurde, außer wenn - was leider nicht der Fall ist - ein mit handschriftlichen Randglossen versehenes Exemplar auf uns gekommen wäre. Doch lässt sich allen Zweifeln zum Trotz in vielen Fällen mit Sicherheit feststellen, dass Rubens bestimmte Bücher besessen hat, sodass sich - mit den notwendigen Vorbehalten - schließen lässt, welche Interessen er verfolgte. Elizabeth McGrath hat schon 1997 gezeigt, wie sich Rubens mit Blick auf bestimmte Projekte Literatur zum Thema beschafft hat [4]. Vor dem Hintergrund der engen Zusammenhänge seiner literarisch-historischen, philosophischen, politischen und künstlerischen Interessen leistet die Rekonstruktion der Bibliothek unzweifelhaft einen gewichtigen Beitrag zum Verständnis von Leben und Werk des Malers und Hofmanns Peter Paul Rubens. Denn gerade mit Blick auf sein ikonographisch so komplexes Œuvre eröffnet das Wissen um den konkreten Bildungshorizont der Forschung neue Möglichkeiten.
Die Rekonstruktion der Rubens-Bibliothek reiht sich darüber hinaus in die neuen Studien zur Leserforschung ein und in die noch spärlichen Untersuchungen zum Bücherbesitz von Künstlern. Untersuchungen über Lesegewohnheiten, Literarität und Bücherbesitz im Allgemeinen sind noch nicht sehr alt, und was die südlichen Niederlande betrifft, stehen systematische Felduntersuchungen noch generell aus [5]. Der Vergleich mit anderen Bücherkollektionen des 17. Jahrhunderts erweist, dass die Bibliothek des Malerfürsten in ihrer Zeit absolut außergewöhnlich war. Zwar fanden sich in Antwerpen in den meisten Haushalten des gehobenen Bürgertums mehr als dreißig Bücher, doch die Rubens-Bibliothek zählte mit ihren zirka 500 Titeln sicher zu den größeren Antwerpener Büchersammlungen, auch wenn Kollektionen von 200 und mehr Bänden keine Seltenheit waren [6]. Das Inventar des Druckers und Verlegers Plantijn verzeichnete beispielsweise im Jahre 1592 insgesamt 728 Werke und ist damit die wohl größte Büchersammlung der Stadt [7]. Die Rekonstruktion der Rubens-Bibliothek bedient nicht nur die spezialistischen Interessen biografischer Forschung, sondern stellt vielmehr einen wichtigen Beitrag zur niederländischen Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit dar.
Die Nützlichkeit des Bandes wird durch die sorgfältigen Register gesteigert, die einen schnellen Zugriff erlauben. Der breiteren Rezeption zuträglich ist sicherlich die Tatsache, dass die beiden die Bibliografie einleitenden Beiträge mit einer englischsprachigen Zusammenfassung versehen sind (43-45; 76-80).
Im vollen Respekt vor der Leistung der Herausgeber sei lediglich angemerkt, dass man sich die Verzeichnung von Rubens' Schullektüre gewünscht hätte, zu deren Rekonstruktion schon Max Rooses erste Versuche unternahm [8]. Es bleibt zu hoffen, dass in einem zu erwartenden Nachtrag auch die Erschließung des Lesestoffes an der von Rubens 1587-90 besuchten Lateinschule geleistet wird.
Anmerkungen:
[1] Joachim von Sandrart: Teutsche Academie, II. Theils, III. Buch, Nürnberg 1675, 290f.
[2] Prosper Arents: De bibliotheek van Pieter Pauwel Rubens, in: Noordgouw 1 (1961), 145-178.
[3] Max Rooses, in: Rubens Bulletijn 1 (1882), 203-219, 275-299; 2 (1885), 48-80, 125-148, 176-211.
[4] Elizabeth McGrath: Rubens: Subjects from History, Bd. 1, London 1997, 55-67, bes. 63f.
[5] Sehr nützlich: H.W. de Kooker / B. van Selm: Boekcultuur in de Lage Landen 1500-1800, Utrecht 1993. Einen Überblick versucht: Christian Coppens: Der Bürger liest - liest der Bürger?, in: Stadtbilder in Flandern. Spuren bürgerlicher Kultur, 1477-1787. Ausstellungskatalog, Schallaburg 1991, 210-218.
[6] Jan A. Goris: La bibliothèque d'un marchand milanois à Anvers au XVIe siècle, in: Revue Belge de Philologie et d'Histoire 3, 1924, 851-856.
[7] Leon Voet: The Golden Compasses, Bd. 1, Amsterdam 1969, 344.
[8] Max Rooses: Rubens' leven en werken, Antwerpen 1903, 29.
Nils Büttner