Rezension über:

Walter Liedtke: Vermeer. The Complete Paintings (= Classical Art Series; Vol. 3), Gent / Amsterdam: Ludion 2008, 208 S., ISBN 978-90-5544-742-8, EUR 100,00
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Rezension von:
Nils Büttner
Staatliche Akademie der Bildenden Künste, Stuttgart
Redaktionelle Betreuung:
Dagmar Hirschfelder
Empfohlene Zitierweise:
Nils Büttner: Rezension von: Walter Liedtke: Vermeer. The Complete Paintings, Gent / Amsterdam: Ludion 2008, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 4 [15.04.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/04/14758.html


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Walter Liedtke: Vermeer

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"Schriftsteller sind eigentlich Leute, die Bücher nicht aus Armut, sondern aus Unzufriedenheit mit den Büchern schreiben, welche sie kaufen könnten, und die ihnen nicht gefallen". [1] An dieser Behauptung Walter Benjamins mag viel Wahres sein. Auf Walter Liedtke lässt sie sich allerdings nur anwenden, wenn man eine andauernde Unzufriedenheit des Autors mit seinen eigenen Arbeiten unterstellt. Die neue, im Verlag Ludion erschienene Vermeer-Monografie fügt sich nämlich in eine ganze Reihe monografisch angelegter Abhandlungen, die Liedtke bereits vorgelegt hat. Als Kurator für Europäische Malerei am New Yorker Metropolitan Museum of Art zeichnete er beispielsweise Ende letzten Jahres für die Ausstellung "Vermeer: The Milkmaid" verantwortlich. Sie setzte sich mit dem Stil, der Bedeutung und der Stellung der "Milchmagd" in Vermeers Œuvre auseinander. Letzteres wurde unter anderem durch die Bilder im Metropolitan Museum repräsentiert, die Liedtkes 2007 publizierter Bestandskatalog erschließt. [2] Bereits im Jahr 2001 hatte Liedtke "Vermeer and the Delft School" eine große Ausstellung gewidmet, nachdem er ein Jahr zuvor sein Buch über "Vermeer and his Contemporaries" vorgelegt hatte. [3] Keine Frage: Der Autor der neuen Monografie ist ein Experte und als solcher von den Herausgebern der Reihe "Classical Art Series" aus gutem Grund mit der Darstellung von Leben und Werk Vermeers betraut worden.

Seit das 19. Jahrhundert ihn für sich entdeckt hatte, ist es um Vermeer, der vorherrschenden Stimmung seiner Bilder zum Trotz, nicht mehr still geworden. Die seither stetig gewachsene Bewunderung fand in Gedichten, Romanen und Filmen ihren Niederschlag und in einer nicht enden wollenden Flut wissenschaftlicher Publikationen. Die Fachliteratur trug wiederum das ihre dazu bei, die in den populären Medien geschürte Begeisterung weiter anzufachen. Die über lange Zeit geführten Debatten um Zu- und Abschreibungen sind inzwischen weitgehend zur Ruhe gekommen. Mit Ausnahme eines in seiner Eigenhändigkeit durchaus zweifelhaften kleinen Bildchens mit einer "Frau am Virginal", von Liedtke 2001 ausgestellt und sonst in der zu einem Hotel in Las Vegas gehörigen "Wynn's Gallery" gezeigt, herrscht Einigkeit über das nur 35 authentische Gemälde umfassende Œuvre. Dafür werden die Debatten um Deutung und Bedeutung der Bilder bis heute fortgeführt. Gerade in den letzten zwei Jahrzehnten hat sich der Interpretationsrahmen dabei um Naturwissenschaften, Philosophie- und Technikgeschichte erweitert, sowie um Deutungsansätze, die ausgehend von phänomenologischen Überlegungen das Überzeitliche in der Kunst Vermeers zu beschreiben versuchen. Dem ist in einer Künstlermonografie längst nicht mehr mit einem umfassenden Anspruch auf Vollständigkeit Rechnung zu tragen.

Ganz dezidiert tritt Walter Liedtke in Übereinstimmung mit den Zielen der "Classical Art Series" mit dem Anspruch an, eine Synthese der neueren Forschung zu Vermeer zu versuchen und eine ausgewogene Analyse der Spezifik von dessen Werk. Die Fokussierung auf Vermeers Gemälde bedeutet dabei für Liedtke zugleich den konsequenten Verzicht auf rezeptionsgeschichtliche Fragen, wie die nach den Gründen für die Wiederentdeckung des Malers im 19. Jahrhundert oder die Wahrnehmung seiner Bilder im 20. Jahrhundert. Auch die berühmte Fälschungsgeschichte Han van Meegerens bleibt ausgeklammert. Im Zentrum des Bandes stehen die Gemälde Vermeers, die in einem 36 Nummern umfassenden Katalogteil einzeln vorgestellt werden (Kat. 36 ist das erwähnte Bild in "Wynn's Gallery"). Dem ausführlichen Katalogteil (54-177) ist eine dem Leben von "Johannes Vermeer 1632-1675" gewidmete Einführung (11-53) vorangestellt, in der zugleich die Chronologie des Œuvres begründet wird. Liedtke beschreibt sie einem Entwicklungsmodell folgend, vom Frühwerk über die Werke der Reifezeit bis zum Spätwerk. Dieses immer wieder reproduzierte Darstellungsmuster auf Vermeer anzuwenden, ist dabei nicht unproblematisch. Schließlich sind nur drei datierte Werke erhalten. Zudem hat man es mit einem Künstler zu tun, der in einem auch in zeitgenössischer Perspektive nicht hohen Alter von 43 Jahren starb. Liedtke referiert die dokumentarisch bezeugten biografischen Fakten und zeigt sich bemüht, den in langjähriger Diskussion hergestellten Konsens um die Datierung des Œuvres womöglich zu präzisieren. So datiert er zum Beispiel die "Studie eines Mädchenkopfes" in New York, für die bislang ein breites Spektrum an Datierungen zwischen 1660 und 1674 vorgeschlagen wurde, genauer auf 1665/67 (Kat. 23). Die Begründung dafür wird erst nachvollziehbar, wenn man die in der den Katalognummern vorangestellten Auswahlbibliografie angegebene Literatur und die Aussagen der dort genannten Autoren konsultiert. Nur selten reichert Liedtke die von Kennerschaft getragene Betrachtung der Stilentwicklung auch um Überlegungen zur Inhaltsdeutung an. So fehlt zum Beispiel jeder Hinweis auf die von der Forschung lange diskutierte Fensterscheibe mit dem Allianzwappen von Moses Jansz. van Nederveen und Jannetje Jacobsdr. Vogel, die auf den thematisch verwandten Gemälden in Berlin und Braunschweig (Kat. 8, 10) so explizit vorgeführt wird. Es geht Liedtke weder darum, das zu Vermeers Zeit gültige Bildverständnis zu rekonstruieren, noch darum, neuere methodische Zugänge zu erproben, die Vermeers stilistische Entwicklung naturwissenschaftlich oder philosophisch zu begründen suchen. Liedtkes allgemeiner Hinweis, dass Vermeers Spätstil mit allem möglichen in Verbindung gebracht wurde, "with everything from the camera obscura to Neoplatonic philosophy" (50), findet zumindest teilweise in den Appendices eine nähere Begründung. Dorthin ist nämlich die Diskussion um Vermeer und die Camera obscura ausgelagert (178-189). In weiteren Anhängen sind ausgewählte Dokumente (190) und die Provenienzen der Bilder (194-198) abgedruckt. Auch das für ein benutzbares Handbuch unverzichtbare Personenregister (206-207) und eine Bibliografie (199-203) fehlen nicht. Allerdings dokumentiert das Literaturverzeichnis den wohl programmatischen Verzicht auf neuere Forschungspositionen, so werden beispielsweise die Arbeiten von Karin Leonhard, Thierry Greub oder Christiane Rambach nicht zitiert. [4]

Bei allem Respekt für Liedtkes von profunder Sachkenntnis getragene Darstellung bleibt, dass auch dank Liedtkes Buch der eingangs zitierte Satz Walter Benjamins auf den Rezensenten durchaus zutrifft. [5] Doch mindert das hier kritisch Angemerkte nicht die Freude an einem ausnehmend gut gestalteten Buch mit präzisen Texten und durchgängig hervorragenden Abbildungen. Dem, der nicht Experte ist, liefert der Band eine nützliche Einführung. Der Spezialist gewinnt ein bestechend schönes Buch, das ihn zu einer weitergehenden Beschäftigung anregen kann, indem es plastisch vor Augen führt, was Liedtke daran reizt, sich immer wieder von Neuem mit Vermeers Malerei auseinanderzusetzen.


Anmerkungen:

[1] Walter Benjamin: Ich packe meine Bibliothek aus, in: Werkausgabe. Gesammelte Schriften. Bd. 4/1, Frankfurt a.M. 1980, 390.

[2] Walter Liedtke (ed.): The Milkmaid by Johannes Vermeer. Ausstellungskatalog New York, Metropolitan Museum of Art 2009; Walter Liedtke: Dutch Painting in the Metropolitan Museum of Art. 2 Bde., New Haven u.a. 2007.

[3] Walter Liedtke (ed.): Vermeer and the Delft school. Ausstellungskatalog New York, Metropolitan Museum of Art 2001 / London, National Gallery 2001; Walter Liedtke: A View of Delft. Vermeer and his Contemporaries, Zwolle 2000.

[4] Karin Leonhard: Das gemalte Zimmer. Zur Interieurmalerei Jan Vermeers, München 2003; Thierry Greub: Vermeer oder die Inszenierung der Imagination, Petersberg 2004; Christiane Rambach: Vermeer und die Schärfung der Sinne, Weimar 2007.

[5] Nils Büttner: Vermeer, München 2010.

Nils Büttner