Michael Kempe / Thomas Maissen: Die Collegia der Insulaner, Vertraulichen und Wohlgesinnten in Zürich 1679 - 1709. Die ersten deutschsprachigen Aufklärungsgesellschaften zwischen Naturwissenschaften, Bibelkritik, Geschichte und Politik. Ausstellung Zentralbibliothek Zürich, Januar - Februar 2002, Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung 2002, 453 S., XXXII Tafeln, ISBN 978-3-85823-954-9, EUR 32,00
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Zu den Desideraten der Forschungen, die sich den deutschsprachigen Sozietäten der Aufklärungszeit widmen, gehört der Mangel an eingehenden Untersuchungen zu einzelnen Gesellschaften. Meist wird global von den Akademien, den Lesegesellschaften, den Freimaurerlogen, den Deutschen Gesellschaften und so weiter gesprochen, ohne jedoch über eine breitere Anzahl von Darstellungen einzelner Vertreter des jeweiligen Sozietätstyps verfügen zu können. Den allgemeinen Ausführungen fehlt somit oft die Verknüpfung mit der empirischen Forschung, die sich mit der konkreten Existenz von Gesellschaften in bestimmten lokalen und regionalen Räumen beschäftigt. Dass es wiederum an diesen Forschungen mangelt, ist nur teilweise mit dem Fehlen von auswertbarem Quellenmaterial zu begründen. Zu vielen Sozietäten sind sehr wohl Unterlagen vorhanden; nur fehlte es an entsprechenden Aktivitäten, sie der wissenschaftlichen Nutzung zuzuziehen.
Welche Ergebnisse durch eine in die Tiefe gehende Beschäftigung mit den Quellen zu erzielen sind, zeigt die jetzt vorgelegte Untersuchung von Michael Kempe und Thomas Maissen zu drei gelehrten Collegia, die in Zürich um 1700 existierten. Die schon in bezug auf ihren Umfang beeindruckende archivalische Überlieferung zu den Kollegien, von der sich auch der Rezensent mit eigenen Augen mehrfach überzeugen konnte, befindet sich in der Zentralbibliothek Zürich und ist der Forschung längst bekannt. Trotzdem ist es erst der Initiative der genannten zwei jungen Wissenschaftler zu verdanken, dass nun eine erste eingehendere Sichtung dieser Bestände vorgenommen worden ist. Der Band gliedert sich, grob gesagt, in zwei Teile: in die Darstellung der Geschichte und der inhaltlichen Ausrichtung der Kollegien sowie in einen weit mehr als 100 Seiten umfassenden Quellenanhang. Letzterer bietet Kurzbiografien der Mitglieder der Gesellschaften, deren Statuten und eine Übersicht der auf den Versammlungen der Kollegien gehaltenen Vorträge (Datum, Referent, Thema, Sprache, Nachweis des Protokolls). Allein schon die Auflistung der hunderte von Themen, die bei jenen Sitzungen zur Sprache kamen, besitzt einen hohen wissenschaftlichen Wert, erlaubt sie doch einen einzigartig tiefen Einblick in die Arbeit frühaufklärerischer Sozietäten. Es sei hier ausdrücklich auf diese Materialien verwiesen, denn sie bieten weitläufige Anknüpfungspunkte für weitere, unter verschiedenen Gesichtspunkten denkbare Forschungen.
Die drei Collegia existierten nicht zur gleichen Zeit, sondern in chronologischer Folge, wobei im Mitgliederbestand Kontinuitäten zu beobachten sind. Sinn und Inhalt der allwöchentlichen Versammlungen, die meistens in der Zürcher Bürgerbibliothek zusammentraten, bestand in erster Linie in der Darbietung des Vortrages eines Mitgliedes. Meist waren es Referate wissenschaftlichen Inhaltes, die thematisch fast alle damals vorhandenen Disziplinen berücksichtigten. Mitunter waren es aber auch Probleme der aktuellen Politik, die hier zur Sprache kamen; wir werden auf diese Besonderheit noch eingehen müssen. Die Verfasser skizzieren überzeugend und plastisch die politische und kulturelle Situation Zürichs zur Zeit der Gründung des ersten Kollegiums der Insulaner (1679), verfolgen dann dessen Entwicklung und behandeln schließlich die unter jeweils anderen Namen sich vollziehenden Neugründungen von 1686 (Collegium der Vertraulichen) und 1693 (Collegium der Wohlgesinnten, beendet 1709 seine Tätigkeit). Vorgestellt werden die Proposographien der wichtigsten Mitglieder, [1] die soziale Struktur der Mitglieder überhaupt, die Statuten und die Arbeitsweise der Sozietäten.
In einem zweiten Komplex wird das Vortragsprogramm eingehend analysiert, und zwar im Hinblick auf die drei Schwerpunkte Theologie und Kirche, Naturgeschichte und Naturphilosophie, Geschichte und Politik. Ein letztes Kapitel behandelt die Verbindung der Kollegien zur Zürcher Reformbewegung von 1713.
Die schon unübersehbar im Untertitel formulierte These der Autoren besteht in der Feststellung, es handele sich bei den Zürcher Kollegien um die ersten deutschsprachigen Aufklärungsgesellschaften. Der Stichhaltigkeit dieser Behauptung soll nun nachgegangen werden: Festgehalten sei zuerst, dass die betonte besondere Einmaligkeit jener Collegia innerhalb ihrer Zeit so nicht gegeben ist. In einer Notiz zur Gründung der "Insulaner" (1679) heißt es: "Dieweilen durch die Erfahrenheit, allzusicherste Lehrmeisterin der Wellthändeln, erlehrnet wird, das vermittelst der Conversation, Kunst und Tugendliebender Persohnen öffters mehr wüssenschafft, alls auß den Büchern selbs geschöpfft werde, [...], alls sein bey wenig Jahren fast in allen Theilen Europae gewüße Collegia entstanden, da persohnen von verschiedenen Professionen in wöchentlichen Zusammenkunfften Sich in allerhand Materien erspraachet, und einander deßen theilhafft gemachet, was ein Jeder in seinem objecto [...] anzubringen gewüßt...". [2] An welche Collegia "in allen Theilen Europae" der Autor hier denkt, wird nicht deutlich. Tatsache ist, dass es vor und neben den Zürcher Sozietäten im Reichsgebiet zahlreiche Collegia gab, die in ihren Statuten, in ihrer Arbeitsweise und in ihrer inhaltlichen Ausrichtung den "Insulanern" und deren Nachfolgern stark ähnelten. Kempe und Maissen haben dies in ihrer Entdeckerfreude übersehen und schreiben daher "ihren" Gesellschaften eine Singularität zu, die in diesem Grade ganz sicher nicht vorhanden ist. So sind die formalen Kriterien, nach denen die Schweizer Collegia als Gesellschaften der Aufklärung definiert werden (284f.), auch schon bei Kollegien zu finden, die Jahrzehnte zuvor gegründet worden sind, was die Frage nach der Typologie der Sozietäten aufwirft - was ist tatsächlich eine aufklärerische Gesellschaft?
Zu fragen ist gleichwohl, ob es doch markante Unterschiede zwischen den reichsdeutschen und den schweizerischen Sozietäten gibt? Besonders auffällig ist, dass die deutschen Beispiele fast immer in Universitätsstädten angesiedelt sind, während Zürich zu jener Zeit bekanntlich über keine Hochschule verfügte, sondern lediglich über das Collegium Carolinum, das sich im Wesentlichen allein der Theologenausbildung widmete. Das spiegelt sich auch in der sozialen Zusammensetzung der Mitgliedschaft wieder. In Deutschland sind es fast durchweg Angehörige der Universitäten, die sich in den Kollegien versammeln. In Zürich sind es wohl auch Theologen des Collegium Carolinum, die den Sozietäten angehören; in der Hauptsache aber stoßen wir auf Mediziner, Kaufleute, Offiziere und Angehörige des städtischen Magistrats. Damit hängt vermutlich auch die im Vergleich zu Deutschland unübersehbare Besonderheit zusammen, dass in Zürich aktuelle Probleme der politischen Situation der Stadt, der Schweiz und Europas insgesamt zur Sprache gelangen. Nicht umsonst hat eine Reihe von Mitgliedern der Collegia Anteil an der Regierung Zürichs genommen, bis hin zur Ausübung des Bürgermeisteramtes. Die Mitglieder der deutschen Kollegien haben in der Regel eine universitäre Laufbahn eingeschlagen, oder sie rückten in die Reihe der Honoratioren ihrer Heimat auf. Weder existierte so die Notwendigkeit politischer Erörterungen, noch bestand in den meistens zur fürstlichen Territorien gehörenden Universitäten die Möglichkeit solcher Diskussionen.
Die Autoren sind sichtlich bemüht, bei der Analyse der Diskussionen innerhalb der Kollegien die Modernität, den aufklärerischen Charakter vieler diese Vorträge und Gespräche herauszustellen. Der Anspruch, es mit den ersten Aufklärungsgesellschaften im deutschsprachigen Bereich zu tun zu haben, soll so nicht nur durch den Hinweis auf die äußere Struktur der Sozietät belegt werden, sondern auch eine inhaltliche Begründung erfahren. Dies kann im einzelnen nicht immer überzeugen. Ich beschränke mich im folgenden auf die Analysen der Referate zum Bereich der Religion und der Theologie. [3] Hier begeben sich die Autoren schon deshalb auf eine angreifbare Position, indem sie die reformierte Orthodoxie als engstirnig, düster, vernunft- und lebensfeindlich schildern. Vor diesem Kontrasthintergrund erscheinen dann Erörterungen innerhalb der Collegia als neuartig, die tatsächlich auch innerhalb der weitaus differenzierter zu beurteilenden Orthodoxie zu verfolgen sind. So kommt zum Beispiel den besonders herausgestrichenen bibelexegetischen Untersuchungen eben nicht die Neuartigkeit zu, erstmals mit Hilfe der menschlichen Vernunft die Texte zu betrachten; das tut auch die Bibelexegese der Orthodoxie. Im übrigen bildet die Beschäftigung mit den Texten des Alten und des Neuen Testamentes oder der Theologie und der Religion einen Schwerpunkt auch vieler anderer Kollegien, stellt hier also keine Besonderheit dar. Das Plädoyer wiederum der Kollegiaten für die gegenseitige Anerkennung der lutherischen und der reformierten Kirche ist eine schon seit dem 16. Jahrhundert innerhalb des Calvinismus vertretene Auffassung. Andererseits werden den Mitgliedern Meinungen zugeschrieben, die für das ausgehende 17. Jahrhundert radikal erscheinen, so, wenn behauptet wird, man habe in Zürich die natürliche Religion zur "universalen Basisreligion" erklärt, die das irdische und überirdische Heil vermitteln könne (161f.). Samuel Pufendorf, der hier als Zeuge für ein solches Denken bemüht wird, hat nachweislich in dieser Frage eine ganz andere Position vertreten.
Die aufgeführten Schwächen des Buches mindern freilich nicht seine Bedeutung als Pionierleistung in der quellenbezogenen Erforschung mitteleuropäischer Sozietäten der Aufklärung. Vor allem in methodischer Hinsicht sollte die Untersuchung als Vorbild Beachtung finden: In der Fortsetzung des hier beschrittenen Weges kann und wird die Sozietätsforschung eine neue Qualität erlangen.
Anmerkungen:
[1] Das einzige, über einen regionalen Bereich hinaus bekannte Mitglied war Johann Jacob Scheuchzer im Collegium der Wohlgesinnten. Die große Zahl der von ihm gehaltenen Vorträge lässt vermuten, dass er wohl das aktivste aller Mitglieder war. Dass diese - bisher ungenutzte - Quelle neues Licht auf Scheuchzers frühe Entwicklung werfen wird, zeigt die Dissertation von Michael Kempe, die sich mit Scheuchzers Sintfluttheorie beschäftigt (Publikation steht vor dem Abschluss).
[2] Zentralbibliothek Zürich, MS L 3, Bl. 378r (Rede vom 12. 4. 1679).
[3] Es lassen sich auch im naturwissenschaftlichen Abschnitt der Arbeit Urteile finden, die den Diskussionen innerhalb der Collegia eine Bedeutung zuschreiben, die ihnen in Wirklichkeit nicht zukommt. So wird behauptet, Scheuchzer habe auf einem geologischen Vortrag im Jahre 1708 erstmals in der Wissenschaftsgeschichte ein Stratifikationskonzept entwickelt (173). Dies ist bereits 1669 von Niels Stensen in seiner berühmten Studie "De solido intra solidum" geschehen, und das bei Kempe/Maissen wiedergegebene Zitat aus Scheuchzers Rede lässt die Vermutung aufkommen, dass hier Stensens erwähnte Abhandlung hinzugezogen worden ist.
Detlef Döring