Michael Kempe: Fluch der Weltmeere. Piraterie, Völkerrecht und internationale Beziehungen 1500-1900, Frankfurt/M.: Campus 2010, 437 S., ISBN 978-3-593-39291-2, EUR 39,90
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Seit Beginn der menschlichen Seefahrt bilden Piraterie und Seeraub mehr als nur die dunkle Seite des maritimen Abenteuers. Von den plündernden Gegnern eines Pompeius und Caesar, über Störtebeker und Francis Drake bis hin zu den "großen" französischen Korsaren des 17. und 18. Jahrhunderts illustrieren die Akteure dieses Gewerbes die Seiten jeder Schiffahrtsgeschichte. Darüber hinaus erfreuen sich Klein und Groß an den schrecklichen Gestalten mit der Augenklappe, dem Enterhaken als Armersatz und dem Holzbein - von Peter Pan über die äußerst erfolgreichen Errol Flynn-Filme der 1930er und 1940er Jahre bis hin zum schier unendlichen "Fluch der Karibik". Wer sich jedoch, gemütlich und gut unterhalten, bei der Betrachtung dieser mitunter zweifelhaften Idyllen zurücklehnen möchte, dem sei die regelmäßige Lektüre der Tagesnachrichten empfohlen, welche einen dann relativ schnell auf den oft blutigen Boden heutiger Aktualität der Piraterie [1] zurückholt - dies beileibe nicht nur am Horn von Afrika.
Soweit das aktuelle Szenario aus Realität und Imagination. Die historische Wirklichkeit des Seeraubs gestaltete sich - worauf nun schon eine stattliche Anzahl an zum Teil erstklassigen Spezialuntersuchungen hingewiesen hat - wesentlich differenzierter wiewohl auch nüchterner. Es ist keine historiographische Neuigkeit mehr, dass nicht alles, was gemeinhin unter Piraterie lief, auch diesen Stempel verdiente. Die Grenzen zwischen dieser sowie der völkerrechtlich geregelten Kaperfahrt etwa (wiewohl auch diese mehr denn einmal ihre Grauzonen aufwies) waren in der Theorie klar und deutlich abgesteckt, und die Behandlung eventuell gefangener Individuen spiegelte dies wieder: Während mit echten Piraten meist kurzer Prozess gemacht wurde, erfreuten sich die Kaperfahrer zumal wiederum in der Theorie der Segnungen und Schutzklauseln des Völkerrechts.
Kompliziert wurde dieser ohnehin schon verwickelte Kontext aber durch die Existenz ganzer - zum Teil sogar frommer - Institutionen wie etwa dem Malteserorden, welche einen großen Teil ihrer Aktivitäten, durchaus als Teil einer großangelegten und über Jahrhunderte durchgehaltenen Seestrategie, auf Kaperfahrten verlegten. Gerade das südliche Mittelmeer erwies sich über mehrere sæcula hinweg als Schauplatz der verschiedensten, immer wieder auf Raubzüge und Plünderfahrten aller Parteien rekurrierenden maritimen Antagonismen und ihrer Produkte, so nicht zuletzt der 'White Slavery'. [2]
All dies ist mehr oder minder bekannt, Studien dazu liegen (siehe oben) in ausreichender Zahl vor. Die Aufarbeitung dieser Aspekte aber bildete - wie die Seefahrtsgeschichte an sich - bislang kaum einen Schwerpunkt deutscher Geschichtsschreibung. Umso begrüßenswerter erscheint es schon von dieser Perspektive aus, dass diese Lücke mit dem hier anzuzeigenden Werk mehr denn nachdrücklich geschlossen werden konnte.
Die Meriten des Bandes aus der Feder von Michael Kempe, Ergebnis eines 2009 an der Universität Konstanz abgeschlossenen Habilitationsverfahrens, erschöpfen sich beileibe aber nicht hierin. Sein Hauptverdienst liegt in der Tatsache, zum ersten Male eine stringente, umfassende und bestdokumentierte Analyse der Wechselbeziehungen zwischen Seeraub (in all seinen Schattierungen), Völkerrecht und den, nicht zuletzt in der kürzlichen Reform der historischen Studiengänge wiederum verstärkt in ihrer Bedeutung hervorgehobenen, internationalen Beziehungen vorzulegen. Der Betrachtungsrahmen erstreckt sich dabei von den Anfängen der Seerechtsdiskussionen zu Beginn des 16. Jahrhunderts über die große Zeit der Piraterie bis in jenes - auch in dieser Beziehung - so seltsam unbekannte 19. Jahrhundert, in welchem etwa das Problem der Handelsstörungen und Sklavennahme durch die Barbareskenstaaten der nordafrikanischen Küste erneut ins Blickfeld der europäischen [3] und vor allem auch nordamerikanischen [4] Politik rückte, bevor die Pariser Seerechtskonvention unter Ägide Napoléons III von 1856 eine vermeintliche Neuordnung der Verhältnisse bieten konnte.
Die vorliegende Untersuchung beachtet jede nur erdenkliche Art von Quelle und historischem Kontext: Von Friedensverträgen, Rechtsmemoranden, juristischen Theoretica bis hin zu Fragen der Wirtschafts- und Expansionspolitik sowie einer keineswegs auf das 21. Jahrhundert beschränkten Globalisierungsdebatte werden alle relevanten Aspekte meisterhaft in die Darstellung eingebunden und dem Leser in sinnvoll unterteilten Unterkapiteln präsentiert. Dies alles erwartet man mehr oder weniger stillschweigend von einer historischen Qualifikationsarbeit; der Text aber offenbart zudem die intime Kenntnis der maritimen Welt und ihrer Eigenheiten seitens des Autors.
Der äußerst umfangreiche bibliographische Anhang an (gedruckten wie ungedruckten) Quellen und einer ausführlichen Bibliographie (insgesamt 55 Seiten) sowie der detaillierte und durchaus weiterführende wie hilfreiche Anmerkungsapparat belegen nicht nur die Kompetenz des Autors, sondern zeugen darüber hinaus von der geleisteten Arbeit.
Im Kontext dieser ganz offensichtlichen wissenschaftlichen Bedeutung und Relevanz des Werkes sei aber mit Nachdruck noch auf einige Punkte verwiesen, welche gerade in diesem Publikationsumfeld nicht selbstverständlich sind. Zum ersten wären das Schreibstil und Diktion des Autors. Diese sind durchwegs so gestaltet, dass auch ein interessierter Laie der Darstellung nicht nur folgen kann, sondern an ihr durchaus seine Freude findet. Um es anders zu formulieren: bei der vorliegenden Studie handelt es sich nicht (nur) um ein Buch, welches in Bibliotheken 'konsultiert' und im 'Kollegenkreis beachtet' werden sollte und möchte, sondern um ein Werk, welches man durchaus zur spannenden Lektüre nachdrücklich empfehlen kann.
Einen weiteren, nicht zu vernachlässigenden Punkt betrifft die hervorragende Aufbereitung durch den Verlag. Nicht nur überzeugen Druck und Schriftbild; die ausgewählten Bilddarstellungen sind sprechend und durchaus mehr denn nur illustrativ.
Als Summe kann man die Studie von Michael Kempe daher zu Recht als Glücksfall bezeichnen - ein in jeder Hinsicht überzeugendes Werk, welches in keiner historischen Seminarbibliothek, aber ebenso in keiner Privatsammlung eines auch nur am Rande mit der Materie Interessierten fehlen sollte.
Anmerkungen:
[1] Piraterie war das Leitthema des diesjährigen 'World Maritime Day'; zu Grundlagen und Problemfeldern vgl. die Rede von Efthimios E. Mitropoulos, Secretary-General of the International Maritime Organization vom 3. Februar 2011 (konsultierbar unter: http://www.imo.org/mediacentre/secretarygeneral/speechesbythesecretarygeneral/pages/piracyactionplanlaunch.aspx); vgl. John S. Burnett: Dangerous Waters. Modern Piracy and Terror on the High Seas, New York 2003.
[2] Vgl. Robert C. Davis: Christian Slaves, Muslim Masters. White Slavery in the Mediterranean. The Barbary Coast, and Italy, 1500-1800, New York 2004.
[3] Vgl. die meisterhafte Studie von: Tom Pocock: Breaking the Chains. The Royal Navy's War on White Slavery, London 2006.
[4] Den Effekt, welches jene Engagement der Vereinigten Staaten im Mittelmeer hatte, ist nicht zu unterschätzen und im vorliegenden Band auch nicht - da nicht Anliegen des Autors - erschöpfend erörtert; vgl. Frederick C. Leiner: The End of Barbary Terror. America's 1815 War against the Pirates of North Africa, Oxford 2006, und v.a.: Joshua E. London: Victory in Tripoli. How America's War with the Barbary Pirates Established the U.S. Navy and Shaped a Nation, New Jersey 2005.
Josef Johannes Schmid