Joëlle Rollo-Koster (ed.): Medieval and Early Modern Ritual. Formalized Behavior in Europe, China and Japan (= Cultures, Beliefs and Traditions. Medieval and Early Modern Peoples; Vol. 13), Leiden / Boston: Brill 2002, 310 S., ISBN 978-90-04-11749-5, EUR 88,00
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Obwohl die Geschichte von Ritualen inzwischen zu einem etablierten Thema von Mediävistik und Frühneuzeitforschung avanciert ist, blieb sie bislang meist auf den europäischen Kulturraum beschränkt. Der anzuzeigende Band hat es sich zur Aufgabe gesetzt, diese Lücke zu füllen und den Untersuchungsraum auf das vormoderne China und Japan ausgeweitet. Eingeleitet wird der Band mit einem Beitrag der amerikanischen Ritualforscherin Catherine Bell, auf deren Forschungen in den Beiträgen des Bandes immer wieder Bezug genommen wird.[1] Hinsichtlich der Gretchenfrage, was eigentlich unter einem Ritual zu verstehen sei, weist Bell dabei gleich zu Beginn auf die teilweise paradoxe Eigenart entsprechender Publikationen hin: "the rhetoric of ritual can bring together, but in so doing ritual itself appears to dissolve in nearly chaotic heterogenity" (1).
Der Band ist in vier Sektionen untergliedert, die sich jeweils dem Zusammenhang von Ritualen und "Gender", Recht, Identität und Herrschaftslegitimation widmen. Martha Rampton behandelt die Rolle von Frauen in magischen Ritualen am Beispiel eines Textes aus dem Decretum des Burchard von Worms. Unter Aufwendung eines breiten Repertoires an theoretischen Referenzen gelangt die Autorin dabei zu dem relativ simplen Fazit, dass Burchard den Frauen ihre spirituelle und rituelle Kompetenz - die Fähigkeit zum "richtigen" Vollzug magischer Praktiken - abspricht und so gleichzeitig die damit verknüpften Bilder mächtiger und autonomer Frauen dekonstruiert. Die Initiation chinesischer Prinzessinnen der Song-Dynastie (960-1126) in den Kreis der Erwachsenen wird von Ann Waltner aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive untersucht. Das Ritual bestand bei den Frauen im Wesentlichen im Aufstecken der Haare und bei den Männern im Aufsetzen eines bestimmten Hutes, was jeweils symbolisch den Übergang in den Erwachsenenstatus markierte. Waltner gelangt zu dem Ergebnis, dass die Tatsache, dass geschlechtsspezifische Unterschiede offenbar kaum von Bedeutung waren, sich durch den höfischen Charakter des Rituals begründet. So stellten die untersuchten Initiationen weniger eine Inszenierung des Übergangs von einem Lebensabschnitt in einen anderen dar als vielmehr die Aufnahme in den Kreis der mit einer besonderen Aura umgebenen Herrschenden.
Marguerit Ragnow widmet sich den Ritualen der Schenkungen an Klöster im Anjou des 11. Jahrhunderts, während Kathryn Reyerson die Rituale des mittelalterlichen Handels- und Geschäftslebens am Beispiel notarieller Aufzeichnungen aus dem Montpellier des 14. Jahrhunderts behandelt. Ökonomische Transaktionen sind dabei bis in die Gegenwart offenbar in besonderem Maße auf rituelle Stabilisierungs- und Legitimationsleistungen angewiesen. Angesichts der Alltäglichkeit und Routine entsprechender Handlungen wäre es hier möglicherweise sinnvoller von formalisierten oder ritualisierten Verhaltensweisen zu sprechen als von Ritualen. Andrée Courtemanche beschreibt anhand eines französischen Gerichtsfalles vom Ende des 14. Jahrhunderts die Rolle eines medizinischen Gutachtens für die Urteilsfindung. Eine des Giftmordes an ihrem Mann angeklagte Frau wird schließlich nach langen Verhandlungen aufgrund eines ärztlichen Gutachtens freigesprochen. In dem an ein Theaterstück erinnernden Prozess der Urteilsfindung wandelte sich der Status der Angeklagten von einer unehrenhaften Verdächtigen zu einer Unschuldigen, deren Ehre wiederhergestellt ist. Der gleichsam performative Charakter der ärztlichen Begutachtung, die ihre Legitimität vor allem aus dem Verweis auf medizinische Autoritäten wie Galen oder Avicenna bezog, spielte dabei laut Courtemanche die entscheidende Rolle innerhalb der rituellen Inszenierung des Statuswechsels. Alle drei Beiträge zum Verhältnis von Recht und Ritual betonen demnach vor allem die legitimitätsstiftende Wirkung der Rituale.
Ob man bei den von Véronique Plesch behandelten Graffiti in der Kapelle von San Sebastiano in Arborio von einem Ritual sprechen kann, bleibt mehr als fraglich. Obwohl die Schriftzüge nach ähnlichen formalen Kriterien konstruiert sind, kann dies wohl kaum ausreichen, die individuelle Praxis des Graffito als Ritual zu betrachten. Zudem wird nicht klar, welchen Erkenntnisgewinn die bemühte Anwendung der Terminologie der Ritualforschung (Liminalität) für die durchaus interessante Beschreibung entsprechender Gedächtnisorte bringen soll. Dylan Reid beschreibt in einem Beitrag über den Karneval in Rouen im Jahr 1541 die Aneignung und Parodierung von herrschaftlichen Ritualen - wie etwa dem Adventus - durch die Stadtbürger. Als eine wesentliche Funktion des Karnevals arbeitet Reid dabei die rituelle Selbstvergewisserung der städtischen Oberschicht heraus. "The reproduction of the triumphal style in carnival, and the integration of elements of elite literature and ritual, was an assertion of status through a demonstration of the Conards' sophistication, their mastery of the culture of the elite" (168). Das ambivalente Verhältnis von Ritual und Theater wird von Eric C. Rath am Beispiel von Schauspieltruppen gesellschaftlicher Randgruppen im Japan des 15. und 16. Jahrhunderts thematisiert. Die Rolle des Rituals im Jesuitenorden steht im Zentrum des Beitrags von Michael W. Maher S.J., der in erster Linie die Stellung des Ordens zum Messritual behandelt. Entgegen der dem Autor zufolge landläufigen Ansicht, die Jesuiten seien nicht gerade Experten in Ritualfragen gewesen, bemüht er sich zu zeigen, wie sehr dem Orden die individuelle und elaborierte Gestaltung des Gottesdienstes am Herzen lag. Damit ist insgesamt jedoch nur ein kleiner Teil des viel versprechenden, bislang noch wenig erforschten Themas der Haltung der Societas Jesu zu Ritualen und der symbolischen Praxis innerhalb des Ordens berührt.
Virginia A. Cole behandelt die Rituale der Demuts- und Freundschaftsbezeugungen königlicher Kinder im England des 13. Jahrhunderts, die so genannten "maundies", in deren Zentrum das Waschen der Füße (pedilavium) von Armen oder Kranken stand. Die Einbeziehung der Kinder in ein ansonsten dem König vorbehaltenes Ritual wird von Cole als langfristig angelegte Strategie der Herrschaftslegitimation interpretiert, die einerseits zur Sozialisation der Nachkommen in die symbolische Praxis des Königtums diente und andererseits bereits frühzeitig den Herrschaftsanspruch der königlichen Familie manifest werden ließ. Die Zeit der Sedisvakanz während des päpstlichen Interregnums in Avignon wird von Joëlle Rollo-Koster als liminale Phase im Sinne Viktor Turners gedeutet. Das Kardinalskollegium bediente sich offenbar bewusst der mit der Sedisvakanz verknüpften symbolischen Praktiken, die ihren brutalen Höhepunkt in der Plünderung des Papstpalastes im Jahr 1398 fanden, um seinen Anspruch auf Vorrang zu begründen. Angesichts einer gelungenen Darstellung der politischen Strategien der Kardinäle im Medium symbolischer Kommunikation stellt sich dennoch auch hier wieder die Frage, ob hier wirklich sinnvollerweise von einem Ritual - im Sinne einer zeitlich und räumlich fest umgrenzten Handlungssequenz - gesprochen werden kann. In seinem Beitrag über die Beziehungen der chinesischen Kaiser zu den Lamas im 18. Jahrhundert betont James L. Hevia die Bedeutung des Empfangszeremoniells für die Herstellung politischer Beziehungen und Machtverhältnisse. Die zeremoniellen Akte erfuhren dabei eine unterschiedliche historiografische Deutung durch die jeweiligen Parteien. Dabei zeigt sich eine erstaunliche Parallelität zu den Begegnungen zwischen Papst und Kaiser im europäischen Mittelalter.[2]
Die eingangs zitierte Problematik scheint sich zu bestätigen. Angesichts einer bunten Palette von Formen symbolischen Handelns neigt "das Ritual" dazu, sich mehr und mehr in einem "Panritualismus" aufzulösen, der eigentlich kaum noch etwas erklärt. Schließlich bleibt zu fragen, ob die vorliegenden Beiträge wirklich etwas Neues zur Geschichte der Rituale und weitergefasst der Geschichte symbolischer Praktiken beitragen können oder ob sie lediglich die Beispielsammlung um einige interessante Fälle bestimmter Formen von ritueller Praxis in dieser Stadt oder an jenem Hof erweitern. Ein wichtiger Schritt dazu, nicht bei Letzterem stehen zu bleiben, liegt sicherlich in der hier vorgenommenen diachronen Zusammenschau mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Beispiele. Insgesamt liegt der besondere Reiz des Sammelbandes nicht zuletzt in der interkulturellen Perspektive, welche die Erforschung vormoderner Rituale nicht allein auf Europa beschränkt. Für den deutschen Leser etwas erstaunlich bleibt lediglich, dass offenbar kaum neuere Veröffentlichungen deutschsprachiger Mediävisten zur Geschichte der Rituale zur Kenntnis genommen wurden.[3]
Anmerkungen:
[1] Catherine Bell: Ritual Theory, Ritual Practice, New York 1992; Dies.: Ritual: Perspectives and Dimensions, New York 1997.
[2] Zuletzt Achim Thomas Hack: Das Empfangszeremoniell bei mittelalterlichen Papst-Kaiser-Treffen (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters; Bd. 18), Köln / Weimar / Wien 1999.
[3] Hier wären vor allem die zahlreichen Arbeiten von Gerd Althoff und Klaus Schreiner zu nennen; siehe den Überblick bei Hans-Werner Goetz: Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, S. 212-218 und S. 362-365.
Marian Füssel