Joëlle Rollo-Koster: Avignon and its Papacy (1309-1417). Popes, Institutions, and Society, Lanham: Rowman & Littlefield 2015, XIV + 314 S., ISBN 978-1-4422-1532-0, USD 75,00
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Nicht nur die Päpste allein, sondern auch die Stadt, in der sie lebten, ihre Bewohner und Institutionen stehen im Zentrum einer neuen Überblicksdarstellung zur Geschichte des Avignonesischen Papsttums, deren erklärtes Ziel es ist, "[...] to rehabilitate for the English-speaking reader the Avignon papacy from its "black legend"." (289) Unter dieser "black legend" wird all das subsumiert, was Zeitgenossen wie Petrarca und in deren Gefolge große Teile der historischen Forschung bis in die jüngste Vergangenheit hinein immer wieder mit Avignon in Verbindung brachten: Machtambitionen, die weit in den weltlichen Bereich hineinragten, unverschämte Zurschaustellung von Reichtum, vollständige moralische Verderbtheit. Ob der heutige "scholarly consensus" über die Bewertung Avignons sich von demjenigen Petrarcas und seiner Zeitgenossen aber tatsächlich immer nur noch marginal unterscheidet, wie von Rollo-Koster behauptet, sei dahingestellt. Wahr ist allerdings, dass sich das Phänomen als Tiefpunkt der Papstgeschichte ins kollektive Gedächtnis eingeschrieben hat.
Wichtig ist der Verfasserin das komplexe Verhältnis zwischen Papsthof und Stadt. Der Blick richtet sich deshalb ebenso auf Päpste, Kardinäle und weiteres kuriales Personal wie auf all diejenigen, ohne deren Dienstleistungen diese Maschinerie nicht am Laufen hätte gehalten werden können. Geschichte wird nicht allein als "Geschichte von oben", sondern auch als "Geschichte von unten" erzählt. Der Leser gewinnt einen Eindruck davon, was es hieß, in einer überbevölkerten Stadt zu leben - mit allen daraus resultierenden Problemen, die auch der modernen Stadtforschung nicht fremd sind.
Die Hälfte der insgesamt sechs Kapitel ist der Ereignisgeschichte (und damit doch vornehmlich der "Geschichte von oben") in chronologischer Gliederung nach Frühzeit (c. 1: Early Popes) - Entfaltung (c. 2: Papal Monarchy) - Ende (c. 3: Returning to Rome) gewidmet. Hier wird grosso modo das neu aufbereitet, was bereits Bernard Guillemain, Jean Favier oder Bernhard Schimmelpfennig zu sagen wussten. Neuakzentuierungen lassen sich jedoch durchaus finden. So widerfährt beispielsweise Clemens V. Gerechtigkeit: völlig zu Recht sieht Rollo-Koster im ersten von insgesamt sieben Avignon-Päpsten einen fähigen Kirchenpolitiker und Diplomaten, kein tumbes Werkzeug in den Händen des französischen Königs. Auch im Fall Clemens' VI. findet sie die richtigen Worte: "[...] Clement constructed an Avignonese papal identity that paralleled that of Rome." (72) In der Diskussion um die Rückkehr des Papstes nach Rom werden bekannte Argumente anders gewichtet: Vor dem Hintergrund marodierender Söldnertruppen, die die Provence immer wieder verwüsteten, erscheint der Entschluss zur Rückkehr selbst in eine so notorisch unsichere und malariaverseuchte Stadt wie Rom nur konsequent. Einiger Raum wird dem Vorgehen Gregors XI. gegen Florenz eingeräumt. Hier wird deutlich, was "Globalisierung" im Mittelalter beinhaltete, welche wirtschaftlichen Abhängigkeiten sich im Laufe der Zeit ausgebildet hatten und wie unterschiedliche Mächte auf das Interdikt reagierten, das Florenz zum Aussätzigen machte. Gilt Gregor XI. sonst auch als Musterbeispiel herrscherlicher discretio, hier hat Rollo-Koster Recht: "The Pope's ire was certainly to be feared." (139)
Das Neue, Bahnbrechende an der päpstlichen Verwaltung in Avignon wird erst vor dem Hintergrund des Alten verständlich (c. 4: Constructing the Administration: Governance and Personnel). Als "one of the most notable administrative innovations" (151) in Avignon wird von der Autorin die Ersetzung traditioneller, ordentlicher Kollatoren durch den Papst identifiziert. Erst diese Entwicklung verlieh dem Pfründenmechanismus überhaupt den rechten Schwung. Völlig zu Recht sieht sie Johannes XXII. als Architekten päpstlicher Zentralisierung an. Und auch die Bedeutung der Kollektoren wird ausreichend gewürdigt, obwohl sich Rollo-Koster hier - wohl in Unkenntnis deutscher Literatur - zu der Aussage versteigt, es handle sich bei ihnen, um "some of the most powerful but least historically recognized officials of the papacy" (159). In die Verwaltungsabläufe so zentraler Institutionen wie Kammer und Kanzlei wird ebenso knapp wie kompetent eingeführt. Die Produktivität der Kanzlei erstaunt noch heute: von 1305-1378 wurden 300.000 Schreiben ausgefertigt (während es im gesamten 13. Jahrhundert nur 50.000 waren).
Ausgesprochen instruktive Seiten werden der Topographie Avignons, seinen sieben Pfarreien (mit Saint-Symphorien an der Spitze), den Klöstern, dem Straßennetz, der berühmten Brücke Saint Bénézet, den Befestigungsanlagen und den Kardinalslivréen gewidmet (c. 5: Avignon: The Capital and its Population). Einblicke erhält man auch in die städtische Verwaltung, sowohl während der Präsenz der Päpste als auch nach ihrer Rückkehr nach Rom. Deutlich wird, dass Avgnon nach 1378 weiterhin von großer Bedeutung für die Päpste war. Tatsächlich entfalteten sie am Tiber stärkere Bemühungen, die wirtschaftliche Prosperität Avignons zu sichern als zu Zeiten ihres Aufenthalts in der Provence.
Im 13. Jahrhundert überstieg die Einwohnerzahl Avignons kaum die 5000, 1370 lebten aber rund 30.000 Menschen in der Stadt. Dies machte neue Organisationformen und eine Neudefinition des juristischen Status nötig. Eine lebenswerte Stadt war das überbevölkerte Avignon nur für die happy few. Gewalt zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen und Nationalitäten war an der Tagesordnung, die hygienische Situation katastrophal, der dank einer hochentwickelten lederverarbeitenden Industrie allgegenwärtige Gestank infernalisch. Rollo-Koster pflegt hier eine "Geschichte von unten", in der die für viele triste Lebenswirklichkeit ausgesprochen anschaulich beschrieben wird.
Nach Betrachtungen zur Rolle Avignons während des Großen Schismas (c. 6: The Great Western Schism and Avignon) fast eine kurze Schlussbemerkung die wesentlichen Punkte noch einmal zusammen.
Insgesamt fallen kleinere inhaltliche Fehler [1] oder ärgerliche Verallgemeinerungen [2] nicht allzu sehr ins Gewicht, doch erstaunt die Nonchalance, mit der auf die Angabe deutsch- und italienischsprachiger Titel in den sich an jedes Kapitel anschließenden Endnoten weitestgehend verzichtet wird. Selbst vor dem Hintergrund des avisierten Leserkreises nötigt dieser Verzicht in seiner Konsequenz schon fast wieder Bewunderung ab. Sicher, die großen Editionen eines Kirsch vom Übergang vom 19. ins 20. Jahrhundert werden zitiert, doch alles, was jüngst zur Geschichte einzelner Päpste und Pontifikate veröffentlicht wurde, wird, wenn auch nicht gänzlich übergangen, so doch aber dergestalt zitiert, dass man sich schwerlich eine umfassende Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Werk vorstellen kann. Einige Autoren schätzt die Verfasserin außerordentlich, so beispielsweise Jérôme Hayez (vgl. 21). Dessen (vergleichsweise schmales) Oeuvre wird breit zitiert. Anderes dagegen wird nur kursorisch zur Kenntnis genommen (so die wichtigen, maßstabsetzenden Arbeiten von Étienne Anheim oder Armand Jamme). Mit dieser Vorgehensweise steht die Verfasserin sicherlich nicht allein. Ein kursorischer Blick auf viele der in den vergangenen Jahren nicht nur bei den Sehepunkten veröffentlichten Rezensionen angloamerikanischer Titel genügt. Dort wird die selektive Kenntnisnahme von Literatur nicht-englischer Zunge immer wieder wortreich beklagt.
Trotz dieses caveat (bzw. planctus) ist der Band als einführende Lektüre im Grundstudium durchaus zu empfehlen.
Anmerkungen:
[1] 70: Clemens pendelt zwischen "Paris and his alma mater", doch was ist Paris anderes als seine alma mater?; 115: was immer Johann II. von Frankreich und Urban in Avignon diskutiert haben mögen: 1350 kann dies nicht geschehen sein, erfreute sich Urbans Vorvorgänger Clemens VI. zu diesem Zeitpunkt doch noch guter Gesundheit.
[2] "Cardinals were arrogant, ostentatious, and vain. As such, they followed the lifestyle of magnates and aristocrats, men who considered magnificence their duty." (183); vgl. auch 201.
Ralf Lützelschwab