Andreas Holleczek: Jean-Etienne Liotard. Erkenntnisvermögen und künstlerischer Anspruch (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XXVIII: Kunstgeschichte; Bd. 369), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2002, 260 S., 36 s/w-Abb., ISBN 978-3-631-38919-5, EUR 40,40
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Das Œuvre des Pastellporträtisten, Miniatur- und Emailmalers Jean Etienne Liotard ist in den letzten Jahrzehnten gut erforscht worden. Erste Grundlagen hatte bereits Numan S. Trivas in den 30er-Jahren gelegt. Darauf aufbauend widmeten sich Renée Loche und Marcel Roethlisberger der kritischen Zusammenstellung von Liotards malerischem Werk (1978; derzeit wieder von beiden in Überarbeitung mit einer Ergänzung der Miniaturen), Anne de Herdt der Erfassung des zeichnerischen Oeuvres (1992) und schließlich Hans Boeckh einer ersten Annäherung an die Problematik seiner Emailminiaturen (in: Genava 1989). Diese Forschungssituation bot eine solide Basis für die Untersuchung von Andreas Holleczek zu Jean-Etienne Liotard, die grundsätzlicheren Fragen nachgeht und als Dissertation bei Werner Busch am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin und bei Thomas W. Gaehtgens am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris entstand.
Ausgangspunkt von Holleczeks weit greifender Analyse von Liotards Werk ist die Sonderrolle, die es mit seiner ungewöhnlichen Nähe zur sinnlich fassbaren Welt innerhalb der Malerei des 18. Jahrhunderts einnimmt. Auch verfolgte Liotard ein völlig anderes malerisches Verfahren als die führenden Pastellmaler seiner Zeit. Während Maurice-Quentin de Latour, Jean-Baptiste Perronneau und Jean-Siméon Chardin (in seinem Spätwerk) vielfach eine demonstrative Betonung der Strichführung, des "touche", beabsichtigten, setzte Liotard durch seine jeglichen Duktus vermeidende Vorgehensweise auf eine sich selbst verleugnende Handschrift, die er in den Dienst einer möglichst objektiven Wiedergabe des Gesehenen stellte. Die Qualität von Holleczeks Untersuchung liegt vor allem darin, dass er ausgehend von diesen Beobachtungen danach fragt, inwiefern Liotards Bildbegriff von den einflussreichen empirischen Tendenzen in der Erkenntnistheorie seiner Zeit beeinflusst sein könnte.
In einem ersten Kapitel analysiert Holleczek zunächst exemplarisch einige Hauptwerke, die Liotard in den verschiedenen Gattungen - Genre, Porträt und Stillleben - schuf, um somit seinem besonderen Bildbegriff auf die Spur zu kommen. Einleitend hatte er für diesen bereits hypothetisch den des "sensuellen Bildes" eingeführt, unter dem er die auf einem empirischen Ansatz beruhende, ungebrochene Wiedergabe der sichtbaren Natur verstanden wissen will. Liotards Vorstellung vom "sensuellen Bild" grenzt Holleczek dabei vom "intelligiblen Bild" ab, das sich der idealen Natur zuwendet und sich im Sinne der antiken Philosophie (also insbesondere in der Nachfolge Platons) auf die geistigen Prototypen der sichtbaren Natur bezieht.
Um Liotard als Empiristen zu bestimmen, nähert sich Holleczek seinem Gegenstand- und darin liegt ein wesentlicher Gewinn der Arbeit - aus unterschiedlichen Blickwinkeln. So fragt er in seinem zweiten Hauptkapitel nach dem geistigen Klima in seiner Heimatstadt Genf, die im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einem der europäischen Zentren der Aufklärung aufgestiegen ist und gerade auch auf naturwissenschaftlichem Gebiet große Forscherpersönlichkeiten hervorbrachte. Noch wichtiger als diese geistige Atmosphäre schätzt Holleczek Liotards Reisetätigkeit für die Entwicklung seines Bildbegriffs ein. 1738 hatte sich der Genfer Maler bekanntlich mit einer Gruppe englischer "grands touristes" nach Konstantinopel aufgemacht. Bei seinem vier Jahre währenden Aufenthalt entwickelte er die ihm eigene Präzision in der genauen Schilderung des Gesehenen, zunächst in den Kostümstudien, dann aber auch in den Bildnissen. Liotards charakteristische Malweise kann Holleczek dabei überzeugend mit der aufgeklärten Reiseliteratur verbinden und der darin immer wieder zu findenden Forderung nach einer unvereingenommenen, genauen Beobachtung, die gerade das Fremdartige bei der Wahrnehmung erfordert. In den Blick rückt Holleczek schließlich auch die Auseinandersetzung mit dem holländischen "Darstellungsrealismus", gegen den er Liotards Bemühen jedoch abgrenzt, und, was sich als besonders fruchtbar erweist, seine eigentliche Herkunft von der Miniaturmalerei, vor allem von der Emailmalerei. Deren ästhetische Qualitäten - detailreiche Erfassung des Naturvorbildes, möglichst weitgetriebenes "fini" in der Ausführung und leuchtende Farbenkraft - suchte er offenbar auf das große Format des Pastelle zu übertragen.
In dem dritten und letzten Hauptkapitel geht es Holleczek darum, Liotards Zielsetzungen vor dem Hintergrund des epochalen Wandels zu diskutieren, den die empiristischen Tendenzen seiner Zeit für die erkenntnistheoretischen Vorstellungen gebracht haben. Da es keine konkreten Hinweise dafür gibt, dass sich der Genfer mit dem Hauptvertreter des neuen erkenntnistheoretischen Ansatzes John Locke auseinandergesetzt hat, und auch Liotards intellektuelle Fähigkeiten - dies zeigen seine theoretischen und kunstkritischen Äußerungen - eher als schlicht einzuschätzen sind, geht der Autor richtigerweise davon aus, dass Liotard mit dem empirischen Erkenntnisansatz seiner Zeit nur "unausgesprochene Voraussetzungen" teilte. Bei dem von ihm eingeschlagenen Weg konnte er sich methodisch auf Michel Foucault stützen, der in "Les mots et les choses" (1. Auflage 1966) hervorhebt, dass der wissenschaftliche Diskurs immer auch auf einer nicht reflektierten Ebene von fächerübergreifenden unartikulierten Gemeinsamkeiten geprägt ist. Vor allem anhand der Analyse von Liotards theoretischen Äußerungen in seinem "Traité des principes et des reglès" (1781) kann Holleczek zeigen, dass sich der Pastellmaler in den Grundmustern seiner Argumentation ganz als "Kind des Empirismus" erweist, dass er wie diese die Lehre von den idealen Prototypen ablehnt und dass es für ihn nur eine Natur gibt, nämlich die, die sich vor den Augen befindet: "On ne doit jamais peindre ce que l'on ne voit pas", gibt er deshalb als wichtigste Regel den Malern für den Nachahmungsprozess zur Hand.
Der prinzipielle Ansatz der Untersuchung überzeugt in vielen Punkten und gibt Liotard seinen Platz in der Epoche der Aufklärung. Angemerkt sei jedoch, dass Holleczek die Position seines Protagonisten in manchen Fällen wohl zu stark von dessen Malerkollegen abgrenzt, etwa wenn er nahe liegender Weise Liotards Selbstbildnis, entstanden um 1749 (Genf, Musée d'art et d'histoire) mit dem letzten Selbstbildnis Chardins aus der Zeit um 1779 (Paris, Musée du Louvre, Cabinet des dessins) vergleicht, wobei er mehr Unterschiede sieht, als tatsächlich vorhanden sind. Sicher ging es auch Chardin in seinem Selbstbildnis um die unmittelbare Übersetzung des Gesehenen, wenn er hierfür auch andere Gestaltungsmittel, vor allem die von ihm so meisterhaft gehandhabte "manière heurtée" einsetzte. Eine psychologisierende Erkundung seines Charakters, wie dies Holleczek vermutet, steht meines Erachten bei Chardin eher im Hintergrund. [1]
Überhaupt erweist sich Liotards malerischer Ansatz, lässt man sich auf die von Holleczek so intensiv herausgearbeitete grundsätzlichere Ebene ein und beachtet nicht nur die ästhetische Besonderheit seines Werkes, als weniger isoliert und exzeptionell, als dies der erste Blick vermuten lassen würde. So bringt etwa Michael Baxendall Chardins Frühwerk "Dame beim Tee" (1735, Hunterian Art Gallery, University of Glasgow) mit der im 18. Jahrhundert von John Locke geprägten Strömung einer empirischen Physiologie zusammen und geht methodisch ganz ähnliche Wege, wenn er feststellt: "Chardin brauchte Locke gewiss nicht zu lesen: seine Kultur war von Locke geprägt". [2]
Auch sollte man im Zusammenhang mit der Wirklichkeitsnähe in Liotards Werk und seinen theoretischen Äußerungen nicht vergessen, dass er als Porträt- und im Spätwerk schließlich auch als Stilllebenmaler in Gattungen arbeitete, die - im Unterschied zur ersten Gattung der Historienmalerei - traditionell weniger einer Idee als einer rigorosen Naturnachahmung verpflichtet waren. Unter dieser Perspektive erscheint Liotards wichtigste Regel für den Maler, sich dem unmittelbar Anschaulichen zu widmen, durchaus auch von den überlieferten Prinzipien der so genannten niederen Gattungen geprägt. Schon Roger de Piles Feststellung in "Les premiers éléments de la peinture pratique" (1684) erinnert deshalb nicht von ungefähr an die oben zitierte Ermahnung Liotards: "... dans l'imitation d'une teste, de quelques fruits, de quelques fleurs, & d'autres choses semblables ... il n'est question que d'imiter ce que l'on voit."
Anmerkungen:
[1] Vergleiche zuletzt Claudia Denk, "Chardin n'est pas un peintre d'histoire, mais c'est un grand homme". Les autoportraits tardifs de Jean-Siméon Chardin, in: Thomas W. Gaehtgens und andere, L'art et les normes sociales au XVIIIe siècle, Paris 2001, 279-299.
[2] Bilder und Ideen. Chardins Dame beim Tee. In: Ursachen der Bilder, Berlin 1990, 58.
Claudia Denk