Melissa Hyde: Making Up the Rococo. François Boucher and His Critics (= Texts & Documents), Los Angeles: Getty Publications 2006, x + 255 S., 18 color, 53 b&w ills., ISBN 978-0-89236-743-6, USD 49,95
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Bis heute werden im Zusammenhang mit François Bouchers Malerei vorschnell Diderots Salons zitiert, in denen er von seiner "mignardise, sa galanterie romanesque, sa coquetterie, [...], ses carnations fardées, sa débauche" (Salon 1761) spricht und ihm sogar unterstellt, seine Bildfindungen würde er aus seinem Leben mit Prostituierten schöpfen (Salon 1765). Längst überfällig unternimmt daher Melissa Hyde mit ihrem Buch eine Neubewertung des im 18. Jahrhunderts zu den erfolgreichsten Künstlern zählenden Malers. Es fügt sich, dass es in der Serie "Texts & Documents" des Getty Research Institutes erschienen ist, das sich unter anderem die Aufgabe gestellt hat, "promoting experimental and multidisciplinary research, and opening unexpected avenues of understandig". Unter dem Zeichen einer Rehabilitierung Bouchers steht auch der zeitgleich erschienene Sammelband mit dem programmatischen Titel "Rethinking Boucher", den Hyde zusammen mit Mark Ledbury ebenfalls beim Getty Research Institute edierte.
Lange Zeit blieb Boucher vor allem kennerschaftlichen Untersuchungen vorbehalten, so dass die unter der Ägide von Alastair Laing, J. Patrice Marandel und Pierre Rosenberg sorgfältig erarbeitete monografische Ausstellung (1986) und das zuvor 1976 entstandene Werkverzeichnis von Alexandre Ananoff die Standardwerke bildeten. Derzeit steht Hyde mit ihrer erneuten Würdigung Bouchers allerdings nicht allein. Parallel erarbeitete Jo Hedley eine Monografie zu Boucher, die eine Reihe von Ausstellungen der Londoner Wallace Collection begleitete. Beide Autorinnen setzten für ihre Neuwertung auf eine fruchtbare Kontextualisierung. Während Hedley jedoch eher werkbezogen zu beachtlichen Ergebnissen u. a. zu Bouchers Hauptwerken "Sonnenauf- und Sonnenuntergang" (1853) kommt [1], geht Hyde eher von seiner Künstlerpersönlichkeit aus, der sie sich "from the perspective of his own cultural and artistic setting" nähert. Hierfür sucht sie den Weg über die Kunstkritiken, wobei sie sich nicht nur, wie bislang üblich, auf die Negativbeurteilungen konzentriert, sondern auch seine Verteidiger würdigt, um somit einen Schlüssel für Bouchers großen Erfolg zu bekommen. Indem sie die kunstkritischen und -theoretischen Besprechungen seiner Werke mit zeitgenössischen sozialen Debatten verbindet, lässt sich ihr Zugang methodisch als diskursanalytisch beschreiben, wobei sie, hierfür erscheint die Wahl Bouchers besonders geeignet, diesen mit Fragestellungen der Genderforschung verbindet. Dabei versteht sie Boucher als den Rokokokünstler schlechthin, über dessen Malerei sich, wie der Titel ihres Buches "Making up the Rococo" bereits verrät, die Epoche gewissermaßen auch als ein "Gemachtes" erschließen lässt.
In den ersten beiden Kapiteln "Boucher, Boudoir, Salon" und "Making up the Rococo" untersucht Hyde die in den reformorientierten Kunstkritiken insbesondere an Boucher festgemachte Rokoko-Polemik, wobei sie sich der Konstellation von Begriffen wie Frauen, Schminke, Malerei, schlechter Geschmack, Frivolität und künstlerischer Niedergang zuwendet. Dem Vorwurf, seine Malerei sei "feminisiert" geht sie in zweifacher Weise nach: Zum einen kann sie zeigen, dass seine Auftraggeber vor allem aus Männern bestanden und sich die Gemälde für männliche und weibliche Auftraggeber im Grad der "Feminisierung" nicht unterschieden. Zum anderen kann sie darauf verweisen, dass die Kultur des 18. Jahrhunderts, so auch in der Mode, insgesamt eher feminin geprägt war.
Diese Überlegungen fokussiert ihr drittes Kapitel "The Make up of the Marquise" zu Bouchers berühmtem Bildnis der Marquise de Pompadour bei ihrer Toilette (1758?, Fogg Art Museum). Dieses will Hyde als Bouchers Antwort auf die zeitgenössische Polemik verstanden wissen, die seinen forcierten Einsatz von Rottönen mit "Schmink-Kunst" verband. In dem sich zwei Rollen in dem Bildnis überschneiden - die des Malers, der das Porträt "macht" und die der Marquise de Pompadour, die bei ihrer Toilette ihr "image" als erste Mätresse des Königs herstellt -, bekenne sich der Maler, so Hyde, positiv zu den Qualitäten seiner Kunst. Hierfür konnte er sich auch auf Roger de Piles als Parteigänger der Koloristen beziehen, der die verführerische Wirkung der Farbe in seinem "Cours des peintres par principes" in positiver Weise mit "Schminke" verglich. Auf der anderen Seite analysiert Hyde das Bildnis aus der Perspektive der Marquise de Pompadour und sieht darin vor allem aufgrund der betonten Geste mit Puderquaste ein Selbstbildnis der Mätresse. Unter anderem zieht sie den Vergleich zu Künstlerselbstbildnissen, in denen sich Maler im Begriff des Selbstporträtierens vor dem Spiegel in ähnlichem Habitus mit Pinsel erfassten. Besonders fruchtbar erweisen sich die von Hyde dargelegten vielfältigen Bezüge des Bildnisses zu den zeremoniellen Inszenierungen der Mätresse, die das höfische Privileg einer zweiten Toilette als öffentlichen Empfangsrahmen für sich erfolgreich zu nutzen wusste.
In den letzten drei Kapiteln, die vor allem seinen Pastoralen gewidmet sind, wendet sich Hyde der für Bouchers Gemälde auffällig geschlechtsambivalenten Charakterisierung des Bildpersonals zu, bei denen er etwa die akademische Doktrin ignorierte, die Geschlechtlichkeit durch Farbgebung und Pinselduktus zu differenzieren. Sie kann zeigen, dass "gender play" ein typischer Bestandteil der elitären Kultur dieser Zeit war. Ihr letztes Kapitel "In the Guise of History: The Jupiter and Callisto Paintings" konzentriert sie sich entsprechend auf die Analyse des transsexuellen Mythos' von Jupiter, der in der Gestalt der Diana deren Nymphe Kallisto verführen will, ein Sujet, das Boucher beachtliche zwölf Mal innerhalb von 25 Jahren aufgriff.
Die material- und kenntnisreiche Studie mit interdisziplinärer und diskursanalytischer Ausrichtung gibt Boucher seinen Platz im 18. Jahrhundert und lässt ihn - ganz entgegen Diderots Verdikt - auch als Vertreter der "modernes" erscheinen, indem er sich etwa dem starren Gattungsgefüge entzog und seine Auftraggeber auch in den neuen Eliten fand. In Manchem zeigen sich Hydes Interpretationen freilich forciert, etwa wenn sie das Porträt der Marquise de Pompadour als Selbstbildnis klassifiziert, wobei es eigentlich gereicht hätte, die selbstreferenziellen Bezüge auf die Dargestellte und damit das Porträt als Bestandteil ihrer Selbstmodellierung aufzuzeigen. Auch erschiene es sinnvoll, Bouchers feminine Malerei vor dem Hintergrund der Preziösenkultur des 17. Jahrhunderts zu sehen, die modifiziert in die "galanterie" einmündete und noch im 18. Jahrhundert fortlebte. Da der "amour galant" nicht nur auf eine Feminisierung des Männlichen setzte, was übrigens schon Voltaire in seinem Enzyklopedie-Artikel zur Galanterie bemerkte [2], sondern auch auf eine zunehmend egalitäre Partnerschaft der Liebenden [3], ließen sich die Kulturen des "gender play" im 18. Jahrhundert auch in diesem Lichte betrachten.
Anmerkungen:
[1] Jo Hedley: François Boucher: Seductive Visions, London 2004, 103ff.
[2] Voltaire "Galanterie", in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Mis en ordre & publié par M. Diderot & M. D'Alembert. Genf 1777, Bd. 15, 653.
[3] Jörn Steigerwald: Um 1700. Galanterie als Konfiguration von Préciosité, Libertinage und Pornographie, in: Thomas Borgsted / Andreas Solbach (Hgg.): Der galante Diskurs. Kommunikationsideal und Epochenschwelle, Dresden 2001, 276ff.
Claudia Denk