Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hg.): Venezia! Kunst aus venezianischen Palästen. Sammlungsgeschichte Venedigs vom 13 bis 19. Jahrhundert. (Katalog zur Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 27.9.2002 - 12.1.2003), Ostfildern: Hatje Cantz 2002, 416 S., 446 Farbabb., ISBN 978-3-7757-1244-6, EUR 58,00
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Der Band Venezia! fungiert als Katalog zur gleichnamigen Ausstellung sowie als Aufsatzsammlung verschiedener Autoren zur Sammlungsgeschichte Venedigs. Die Kombination stellt eine Herausforderung für Kuratoren, Herausgeber und Beitragende dar, insofern dieses Gebiet, trotz des Ruhmes venezianischer Kunst und kunsthistorischer Fachliteratur, bisher verhältnismäßig wenig an die Öffentlichkeit vorgedrungen ist. Solche Prämissen klingen also vielversprechend für eine Ausstellung sowie für ein Buch, das über die Grenzen eines Katalogs hinausreichen will.
Für manche Beitragende war das ein guter Grund, einmal neu über Venedigs Kunst und Geschichte nachzudenken, für andere zumindest das schon Bekannte unter weniger beleuchteten Gesichtspunkten zusammenzufassen. Unter den Essays sind Giandomenico Romanellis und Gino Benzonis einleitende Exposees gute Wegbereiter, und vor allem Benzoni denkt, wenn auch nur kurz, über das Phänomen des Sammlungswesens in Venedig als Mittel zur Konstruktion eines geschichtlichen und künstlerischen Mythos nach. In den chronologisch geordneten Kapiteln sind die Überblicke von Kunsthistorikern wie Michel Hochmann ("Kunstsammeln im 15. und 16. Jahrhundert"), Lothar Altringer ("Ausländische Sammler in Venedig") nicht nur für den Laien von Interesse, sondern bieten auch Fachleuten einige neue Denkanstösse. Hier, wie auch in Marino Zorzis Zusammenfassung der venezianischen Bibliotheksgeschichte, hätte man jedoch gerne mehr über das Thema gelesen. Dies gilt ebenso für die Beiträge zu dem in Venedig oft übersehenen 17. Jahrhundert, eingeleitet von Stefania Masons "Sammeltätigkeit im 16. und 17. Jahrhundert: Vom Antikenkabinett zur Galerie".
Irene Favarettos Streifzug "Antikensammlungen in Venedig" behandelt ein Thema, das in der italienischen Fachliteratur vor allem von Favaretto selbst in zahlreichen Publikationen untersucht, in der deutschsprachigen Literatur allerdings weit weniger beachtet wird. Zum Thema Antikensammlung steht Eva Soccals kurzer Beitrag "Hypothesen zur Rekonstruktion der Tribuna im Palazzo Grimani: Die Methodologie" im Mittelpunkt einer Präsentation der wohl wichtigsten Sammlung und ihrer Ausstellung im Venedig des 16. Jahrhunderts, mit der sich Marilyn Perry bereits vor 25 Jahren gründlich auseinandergesetzt hat, und die seit über zwanzig Jahren Venedigs Soprintendenza per i Beni Architettonici und jetzt auch die Soprintendenza Speciale per il Polo Museale Veneziano beschäftigt. Die bevorstehende Wiedereröffnung des Palazzo Grimani und dessen Tribuna wird in Venezia! vorweggenommen, und man darf auf den neuen historischen Museumskomplex gespannt sein.
In Venezia! sind es oft die kurzen, auf neuer Forschung basierenden Artikel im Kleinstdruck, wie die von Soccal, Marcella de Paoli und Oleg Newerow zur Sammlung Grimani oder Giuseppe Tonini zum Palazzo Morosini, die den Leser in Fallstudien vom Allgemeinen zum Spezifischen und tiefer in die venezianische Sammlermentalität führen. Leider haben nicht alle Beitragenden über das Thema der Ausstellung wie des Buches nachgedacht oder ihre Gedanken verständlich formuliert. Lionello Puppis einführenden Aufsatz "'To have or to Be?' Das Sammeln als zwiespältiger Geisteszustand" findet der Rezensent - möglicherweise aus eigenem Unvermögen - unverständlich und pompös. Dem gedruckten Buch und seiner Sammlungsgeschichte werden in Marino Zorzis Beitrag nur wenige Worte gewidmet, und wenn gedruckte Bücher in der Ausstellung auch nur einen stiefmütterlichen Platz zwischen Computermodellen, Lese-Ecke und Kinderzeichnungen fanden, so wurde ihnen im Buch nicht einmal diese Ehre zuteil. Das ist schade, zumal der Buchdruck in Venedig im späten 15. und im 16. Jahrhundert von internationaler Bedeutung war.
Wirklich enttäuschend aber ist es, dass zwei bedeutende Branchen des venezianischen Sammlungswesens eigentlich gar nicht beachtet werden: der Staat als Sammler und Venedigs außerordentlich reiche Reliquiensammlungen, die Marin Sanudo bereits im späten 15. Jahrhundert stolz aufzählte. Sind es nicht gerade diese, die am Anfang der venezianischen Sammlertätigkeit stehen? Reliquien wurden in Venedig systematisch gesammelt auf der gierigen Suche nach religiösem Status und gesellschaftlicher und politischer Identität. Benzoni deutet dies in oben erwähnter Einleitung an und bezeichnet treffend die ganze Stadt als Reliquiar. Man könnte hier einwenden, dass Venezia! sich hauptsächlich (aber nicht ausschließlich) dem privaten und säkularen Sammlungswesen widmet, was allerdings die komplette Lücke nicht rechtfertigt. Gerade in Giovanna Nepi Scirés Aufsatz zum Sammlungswesen der venezianischen Bruderschaften wäre eine Auseinandersetzung mit dieser Kategorie angebracht gewesen. Wie bei einigen anderen Beiträgen auch wundert man sich, warum er überhaupt in Venezia! aufgenommen wurde. Nepi Sciré hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, einen möglichen Unterschied zwischen Sammlung und Ausstattung festzustellen, und ihr Aufsatz beschreibt, überdies auch noch mit Abbildungen von schlechter Qualität illustriert, die Bilderzyklen (wohl eher als "Ausstattung" zu bezeichnen) einiger Bruderschaften. Kein Wort fällt über Reliquien oder Kunstobjekte, die als einzelne Sammlungsstücke erworben wurden, wie etwa Tizians Kreuztragender Christus und Verkündigung oder Tiepolos Hagar und Ismael und Abraham und der Engel (bis heute in der Scuola Grande di San Rocco als Teil ihrer Sammlung ausgestellt), ganz zu schweigen vom Schatz der Scuola, von dem ein Teil alljährlich zum Festtag des Heiligen Rochus in der Scuola aufgebaut wird.
Manche Autoren gehen ihre Aufgabe wissenschaftlich an, mit Fußnoten oder spezifischen Literaturhinweisen. Andere bleiben vage und unstrukturiert. Letzteres gilt leider auch für die Bibliografie, die den kalten Kaffee der lokalen Forschung liebt, den Schwerpunkt auf die Veröffentlichungen italienischer und deutscher Kunsthistoriker setzt, in der Anerkennung anglo-amerikanischer Forschung allerdings ziemlich hinterherhinkt und, wenn überhaupt, des öfteren nur die Übersetzung der englischsprachigen Originalausgabe zitiert. Verhältnismäßig dünn bleibt auch die Liste der Titel relevanter Primärliteratur - nur Sansovinos Erstausgabe von Venezia Città Nobilissima et Singolare ist verzeichnet, nicht aber die beiden späteren, erweiterten Ausgaben des siebzehnten Jahrhunderts von Giovanni Stringa und Giustiniano Martinioni. Gerade letztere, aus dem Jahre 1663, enthält zahlreiche Ergänzungen, die zu unserer Kenntnis des venezianischen Kunstsammelns beitragen.
Die Kombination von Essays, Fallstudien und Katalogeinträgen ist im Prinzip eine reizvolle Mischung, führt allerdings als Folge von schwacher, oberflächlicher Koordination zu einem eigenartig eklektischen Sammelsurium (sic!). Die Ausstellung Venezia! war ein ehrgeiziges, einzigartiges Zusammentragen von Kunst und Geschichte aus sieben Jahrhunderten; das Buch Venezia! ist sowohl ein großzügig illustrierter Ausstellungskatalog wie eine wichtige, wenngleich lückenhafte Aufarbeitung der Forschung zum Thema. Dieser Aufgabe war die Koordination des Buches leider nicht ganz gewachsen. Oder sind die jeweiligen Ziele von Forschungsstudie, Lesebuch und Ausstellungskatalog letztlich unvereinbar?
Joachim Strupp