Linda Thomas: Die Juden im faschistischen Italien. Die Razzien im römischen Ghetto und im Ghetto von Venedig (= Europäische Hochschulschriften. Reihe III: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften; Bd. 1060), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2009, 119 S., ISBN 978-3-631-58563-4, EUR 24,50
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Christa Hämmerle / Oswald Überegger / Birgitta Bader-Zaar (eds.): Gender and the First World War, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014
Jahrzehntelang wurde die Verfolgung der Juden im faschistischen Italien vornehmlich vor dem Hintergrund der Judenpolitik des nationalsozialistischen Deutschland wahrgenommen. Die Vorstellung, in Italien habe es keine der deutschen auch nur annähernd vergleichbare Verfolgung der jüdischen Bevölkerung gegeben, spiegelte sich nicht nur im öffentlichen Diskurs wider, sondern bestimmte in erheblichem Maße auch die nationale und internationale Geschichtsschreibung. Noch 1987 erklärte der einflussreiche italienische Historiker Renzo De Felice, der italienische Faschismus habe "außerhalb des Schattens des Holocaust" gestanden. [1] Erst seit den letzten zwei Jahrzehnten zeichnet sich angesichts der Erschließung vorher unzugänglicher oder vernachlässigter Quellen durch eine jüngere Historikergeneration eine neue Perspektive ab, die die Spezifika des italienischen Antisemitismus und seiner Verfolgungsmaßnahmen betont, ohne ihn als bloße Nachahmung des deutschen "Modells" zu verstehen.
Linda Thomas richtet in der vorliegenden Studie den Blick auf die Jahre 1943/44, in denen die Juden in Italien nicht mehr "nur" rechtlich diskriminiert wurden, sondern nach dem Sturz Mussolinis zunehmend auch um ihr Leben fürchten mussten. Ziel ihrer Arbeit ist die Rekonstruktion und der Vergleich der Razzien in zwei wichtigen jüdischen Zentren des Landes, dem großen Getto von Rom und dem kleineren, aber nicht weniger bedeutsamen Getto von Venedig. Die Untersuchung stützt sich vornehmlich auf eine Auswahl der einschlägigen italienischen und englischsprachigen Sekundärliteratur, die durch Berichte von Überlebenden wie Primo Levi und Giacomo Debenedetti ergänzt wird. Den deutschen Lesern werden so hierzulande weitgehend unbekannte italienische Texte erschlossen, auch wenn im Hinblick auf eine differenziertere Behandlung des Themas die Einbeziehung archivalischer Quellen wünschenswert gewesen wäre. Unverständlich bleibt außerdem, warum sich die erst in den letzten Jahren erschienenen, bahnbrechenden Studien Enzo Collottis zur Judenverfolgung im faschistischen Italien nicht in der zitierten Sekundärliteratur wiederfinden.
Die gut strukturierte Arbeit gibt einleitend einen kurzen historischen Abriss der Ereignisse seit der italienischen Rassengesetzgebung 1938 bis zum Ende des Jahres 1943, dem Zeitpunkt der beiden Razzien. Im zweiten Kapitel wendet sich die Autorin dem römischen Getto zu. Nach einer Skizze seiner Entstehungsgeschichte werden im Hauptteil die drei Phasen der Razzia vom Herbst 1943 rekonstruiert. Der Autorin gelingt es, die Brutalität, mit der Männer, Frauen und Kinder im Schlaf überrascht wurden, die stundenlangen Wartezeiten vor der endgültigen Deportation und die Plünderung von Wohnungen und Gemeindeeinrichtungen eindringlich zu schildern. In der Analyse der Reaktionen auf die Razzia diskutiert Thomas vor allem das Schweigen von Papst Pius XII., kann hier aber aufgrund fehlender eigener Quellenrecherchen lediglich auf die konkurrierenden Standpunkte der Forschung hinweisen. Überzeugend ist dennoch ihre Schlussfolgerung, dass der Vatikan durch sein Verhalten den Deutschen keinen Anlass gab, von ihrem Kurs abzuweichen. In der knappen Beschreibung der Reaktionen der nicht jüdischen Bevölkerung Roms weist die Verfasserin zwar auf den mangelnden Protest bei der Festnahme und dem Abtransport der römischen Juden hin, lässt dabei jedoch die neuerdings nachgewiesenen zahlreichen Fälle von Kollaboration und Denunziationen seitens nicht jüdischer Italiener außer Acht. [2] Auch bleiben die Zusammenarbeit zwischen deutschen und italienischen Behörden sowie die Zuständigkeiten und teils konkurrierenden Kompetenzen im Dunkeln; nur in einem Nebensatz deutet Linda Thomas an, dass SS-Hauptsturmführer Theodor Dannecker bei der Aktion "Hilfe von der faschistischen Polizei Italiens" erhielt (57).
Insgesamt kritischer und differenzierter verfährt die Autorin im dritten Kapitel, das sich der Geschichte des Gettos von Venedig und den drei Razzien zuwendet, die dort zwischen Dezember 1943 und Oktober 1944 stattfanden. Mit der Deportation der venezianischen Juden begann, so Linda Thomas, die "zweite Phase des italienischen Holocaust" (97), in der die Verhaftung der Juden durch die Einsatzkräfte der Repubblica Sociale Italiana (RSI) unabhängig vom deutschen Bündnispartner geplant und durchgeführt wurde. Zwar habe der Einfluss der deutschen Regierung immer weiter zugenommen, doch sei der Großteil der jüdischen Opfer nach November 1943 im Rahmen der Gesetzgebung der RSI inhaftiert worden. Wie bereits bei der Schilderung der Razzia im römischen Getto besteht die Stärke der Rekonstruktion der Razzien im Getto von Venedig in der Darstellung der Festnahmen, in der Schilderung von Einzelschicksalen wie dem des Oberrabbiners Adolfo Ottolenghi sowie in der Beschreibung der gerade in Venedig besonders grausamen Suche nach jüdischen Patienten in Krankenhäusern und Nervenheilanstalten. Die Kollaboration zwischen Deutschen und Italienern wird unter anderem anhand des gemeinsamen Eingreifens von SS und Brigate Nere in der dritten Razzia Anfang Oktober 1944 nachgewiesen.
Im Mittelpunkt des vierten und letzten Kapitels steht der Vergleich der Razzien in Rom und Venedig. Die Autorin betont unter anderem, dass die Aktion in Rom seitens der Deutschen minutiös geplant wurde, die Italiener in Venedig dagegen weitaus chaotischer, aufgrund der besseren Orts- und Namenskenntnis letztlich aber nahezu ebenso "effektiv" vorgingen. Ein entscheidender Unterschied zwischen den Razzien in Rom und in Venedig bestand darin, dass Letztere nicht die Deportation in Vernichtungslager bezweckte, sondern zunächst auf Internierung angelegt war. Linda Thomas arbeitet überzeugend heraus, dass die italienische Polizei dennoch den Deutschen in entscheidendem Maße die zukünftigen Deportationen erleichterte, indem sie nicht nur die Juden Venedigs in Konzentrationslager verbrachte: "Von dort war es später für die Deutschen relativ leicht, Züge in Richtung Auschwitz, Ravensbrück oder andere Todeslager zu leiten." (102)
Trotz der Defizite in der Literatur- und Quellenrecherche, die sich auch in den unvollständigen Informationen des Personenregisters bemerkbar machen, leistet Linda Thomas' Studie einen insgesamt relevanten Beitrag zur Geschichte der Judenverfolgung in Italien, der sich nicht ausschließlich auf die nationalsozialistische Vernichtungskampagne beschränkt, sondern vor allem im zweiten Teil auch die bis heute zuweilen noch verschleierten oder unterschätzten Mitverantwortlichkeiten des faschistischen Italien thematisiert.
Anmerkungen:
[1] Interview von Giuliano Ferrara mit Renzo De Felice in: Jader Jacobelli (Hg.): Il fascismo e gli storici oggi, Roma/Bari 1988, 3-6.
[2] Vgl. Amedeo Osti Guerrazzi: Kain in Rom. Judenverfolgung und Kollaboration unter deutscher Besatzung 1943/44, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), 231-268.
Ruth Nattermann