Patricia Chiantera-Stutte: Von der Avantgarde zum Traditionalismus. Die radikalen Futuristen im italienischen Faschismus von 1919 bis 1931 (= Campus Forschung; Bd. 844), Frankfurt/M.: Campus 2001, 277 S., ISBN 978-3-593-37006-4, EUR 34,90
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"Überholen, Überholen! Man kann, ja man muß sogar überholen". So beschreibt Patricia Chiantera-Stutte mit den Worten Antimo Negris die "fixe Idee" (238), die den fünf Autoren gemeinsam sei, mit denen sie sich in ihrer 2002 erschienenen Studie beschäftigt. Mario Carli, Emilio Settimelli, Mino Maccari, Curzio Suckert (Malaparte) und Julius Evola, deren Werke zu einem großen Teil im Italien der 20er-Jahre entstanden, sind Träger dieser "fixen Idee". Wie kam es, so fragt Chiantera-Stutte, dass diese Futuristen den Weg gingen vom "revolutionären Streben zur Zerstörung aller bürgerlichen Traditionen", zur "Apologie der Tradition, zur Verteidigung der Ordnung und der Hierarchie" (7)?
Um die Entwicklung "von der Avantgarde zum Traditionalismus" nachvollziehen zu können, versucht Chiantera-Stutte, die Position der Autoren "im (!) Rahmen der intellektuellen und politischen Kämpfe der Zeit" einzuordnen (29) und Ideengeschichte als "notwendiges Instrument zum Verständnis der kulturellen Atmosphäre" (40) mit einer "politischen Analyse" zu verbinden. Dafür greift sie auf die "soziologische Methode" Pierre Bourdieus zurück und arbeitet mit den Begriffen des "intellektuellen" und des "politischen Feldes". Das Hauptanliegen der Autorin ist es, mithilfe der Begrifflichkeit Bourdieus zu einer genauen Differenzierung der Positionen der fünf genannten Intellektuellen innerhalb des "intellektuellen Feldes" zu kommen und so Grundströmungen und allgemeine Tendenzen ebenso aufzeigen zu können wie Konflikte oder Brüche. Gleichzeitig betrachtet Chiantera-Stutte die Beziehungen des "intellektuellen Feldes" zu den politischen Entwicklungen und Veränderungen, denn die "Abhängigkeit vom politischen Feld" sei "konstitutives Element" des "intellektuellen Feldes" (38, 23).
Die Frage nach dem Zusammenspiel von politischem Geschehen und intellektueller Arbeit macht Chiantera-Stuttes Untersuchung spannend, die Einteilung in ein "intellektuelles" und ein "politisches" Feld bringt allerdings bei der Darstellung Probleme mit sich. Die enge Verquickung der beiden Felder, die wechselseitige Beeinflussung ebenso wie personelle Überschneidungen machen den Text an manchen Stellen unübersichtlich, oft muss man im Gedächtnis, im letzten oder nächsten Kapitel "kramen" und suchen, um der Argumentation folgen zu können. Der mit dem italienischen Futurismus und Faschismus nicht allzu vertraute Leser verliert sich dabei schnell zwischen "intransigenti", "fiancheggiatori", "normalizzatori", "revisionisti", "integralisti", "neutralisti", "arditi", "gentiliani", revolutionären Syndikalisten, Nationalisten, Aktualisten und radikalen Futuristen.
Genau diese Vielfalt an politischen und intellektuellen Gruppen und Positionen ist es jedoch, die Chiantera-Stutte beschreiben muss, um die Entwicklung der von ihr untersuchten Autoren "von der Avantgarde zum Traditionalismus" überzeugend einordnen zu können. Die "politische und ideologische Unbestimmtheit" der faschistischen Bewegung spiegele sich darin, dass auch "keine homogene, faschistische, intellektuelle Schicht" entstanden sei, sondern sich verschiedene Positionen herausbildeten. Auf dem politischen Feld standen sich, so Chiantera-Stutte, die "intransigenti" und die "fiancheggiatori" gegenüber. Während die "intransigenti" auch nach 1924/25 auf die Weiterführung der faschistischen Revolution bestanden, suchten die "fiancheggiatori" die Verbindung der "ursprünglichen" faschistischen Bewegung mit konservativen und liberalen Kräften. Diese Politik, die auch Mussolini verfolgte, ließ die "intransigenti" im politischen Feld zu einer Opposition in ihrer eigenen Bewegung werden.
Eine ähnliche Entwicklung zeigt Chiantera-Stutte auch für das intellektuelle Feld auf. Nach 1925 entstand auch innerhalb des faschistischen intellektuellen Feldes eine Opposition, die "integralisti". Beide Gruppen, die "intransigenti" im politischen und die "integralisti" im intellektuellen Feld, verband eine "Wahlverwandtschaft, eine Konvergenzbewegung zwischen zwei Konfigurationen, die von keinem Kausalverhältnis bestimmt" worden sei (23).
Zu den "integralisti" zählt die Autorin vier der fünf von ihr behandelten Autoren: Carli und Settimelli, Maccari und Suckert (127). Sie verband nach Chiantera-Stutte hauptsächlich eine "Anti-Ideologie", ihre Position war "antireformistisch und antimodernistisch" (141), Carli, Settimelli, Maccari und Suckert waren, so Chiantera-Stutte, "Idealisten", die dem Regime nicht passten: Sie "glaubten weniger an den Duce und mehr an den Faschismus, weniger an die Autorität des Einzelnen und mehr an das Zusammenleben und Zusammenfühlen der Vielen als Basis der Bewegung, und sie hatten ein Ideal: Die Wiederherstellung der Tradition" (152).
Als das Regime ab 1925 immer deutlicher versuchte, Gegner auch in den eigenen Reihen zu "neutralisieren", blieb nach Chiantera-Stutte eine "Restopposition" im intellektuellen Feld, zu der unter anderen die "Superfaschisten" um Julius Evola gehörten, dessen Schriften im Mittelpunkt des letzten Kapitels stehen (182). Chiantera-Stutte zieht eine Verbindungslinie von den Integralisten zu Evola: Evola sei zwar "ursprünglich kein Faschist, sah jedoch im integralistischen Faschismus die Möglichkeit, eine hierarchische Gesellschaft und die Verwirklichung eines reaktionären Regimes zu erreichen, das der Tradition entsprach", er formulierte eine "Utopie, die sich quasi als logische Folge des integralistischen Protestes darstellte" (215). Evola und die "integralisti", so resümiert Chiantera-Stutte, seien eine Bedrohung für das Regime gewesen, da sich ihre "komplexe" und "anspruchsvolle" Vision "nicht nur auf die Politik, sondern auch auf die Kultur und die umfassende spirituelle Entwicklung der Menschheit" projiziert habe (229), sie hätten dem "hybriden Charakter der faschistischen Ideologie" die "klare Eröffnung einer neuen Perspektive" gegenübergestellt (233).
Zu Beginn ihrer Untersuchung erklärt Chiantera-Stutte, sie wolle eine "strukturelle Perspektive einnehmen", "um eine Art von 'Entmythologisierung' und 'Entmoralisierung' der Autoren zu erreichen" (29), ihr Standpunkt solle "nicht normativ, sondern analytisch / deskriptiv" (32) sein. Möglicherweise ist es diesem Versuch einer "nicht normativen" Darstellung geschuldet, dass sich in den Beschreibungen der Positionen der radikalen faschistischen Intellektuellen viele Begriffe finden, deren positive Konnotation in diesem Kontext zumindest auffällt, so etwa wenn Chiantera-Stutte von "Idealisten" spricht, von ihren "Utopien" und "neuen Perspektiven", von den Ansprüchen auf eine "reine Entwicklung des Faschismus" und einer "komplexen und anspruchsvollen Vision", oder wenn sie das Ideal der Integralisten als "weniger konsequent" und "weniger originell" bezeichnet als das Evolas (214). Ein kurzes Stutzen kann auch entstehen, wenn sie bemerkt, dass Evola "unter Rasse in erster Linie die Kultur" verstehe und so die "semitische Rasse" für ihn "nur auf Grund ihrer Mentalität für die Dekadenz" verantwortlich sei (207). Eine rein "deskriptive" Beschreibung birgt hier die Gefahr, gerade durch "Entmoralisierung" der Autoren die Mythologisierung des faschistischen Gedankenguts der radikalen Futuristen fortzuschreiben.
Insgesamt kann Chiantera-Stutte überzeugend die Entwicklung nachzeichnen, die zur "Marginalisierung" der Rolle der "radikalen Futuristen im italienischen Faschismus" führte. Während sich "alles andere" veränderte - "die politischen Richtungen, die allgemeine Lage des politischen Feldes und die Position und die Haltung einiger Strömungen, insbesondere der Futuristen" - behielten die radikalen Futuristen ihre Position "als Avantgarde, als extreme antibürgerliche Künstler und als radikale Faschisten" bei (22). Ihre Auffassung unterschied sich wesentlich vom Denken der "konservativen" Intellektuellen, als "Produkt von Kämpfen, Oppositionen und Ausdifferenzierungen" im intellektuellen Feld entwickelten sie ein "traditionalistisches Denken" (238) und wurden mit ihren "radikalen und revolutionären Forderungen nach Vollendung der Revolution [...] zu Feinden der Herrschenden" (20) und "Interpreten und Verteidigern der Reinheit der faschistischen Prinzipien" (228).
Die Darstellung der politischen Situation setzt Chiantera-Stutte immer wieder in Zusammenhang mit den Veränderungen im intellektuellen Feld, und diese Verknüpfung von politischen, gesellschaftlichen Entwicklungen sowie philosophischen und künstlerischen Ideen macht ihre Arbeit spannend und innovativ. Leider tragen die Fülle an Details, an Personen und Personengruppen sowie manchmal unklar formulierte Sätze nicht unbedingt zur Verständlichkeit des Textes bei, so dass den Leser ohne genaue Detailkenntnis des italienischen Futurismus und Faschismus immer wieder ein leises Gefühl der Desorientierung beschleicht.
Hannah Ahlheim