Kathrin Bonacker: Hyperkörper in der Anzeigenwerbung des 20. Jahrhunderts, Marburg: Jonas Verlag 2002, 143 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-89445-296-4, EUR 20,00
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Ich werde nicht der Einzige sein, der die im Jonas-Verlag erschienene kulturhistorische Studie "Hyperkörper in der Anzeigenwerbung des 20. Jahrhunderts" der Marburger Kulturwissenschaftlerin Kathrin Bonacker zunächst einfach nur durchgeblättert hat, denn die Abbildungen laden nachhaltig dazu ein. Darüber hinaus liegt die Stärke dieser Veröffentlichung darin, dass sie durch eine hermeneutische Vertiefung und einen genauen Blick auf die Dinge zu hellsichtigen und brauchbaren Erkenntnissen kommt, die jenseits des nostalgischen Schmunzelns und Staunens liegen. Die illustrierte Anzeigenwerbung lässt sich in der Tat als kulturhistorisches Quellenmaterial verwenden.
Kathrin Bonackers Anliegen ist es, die Anzeigenwerbung in den Stand einer ernst zu nehmenden historiographischen Quelle zu erheben. Das Analyseinstrument ist dabei ein "Stimmungen, Werthaltungen und Ideale einer Zeit" verkörpernder "Hyperkörpertyp" (7). Der Hyperkörper ist ein stereotypisiertes Ideal, welches die zu einer bestimmten Zeit kursierenden Wünsche und Werte in konzentrierter Form aufnehmen kann. Die Werbung, dies ist keine überraschende These, arbeitet mit der Inszenierung von Körperbildern. Die Werbung lügt jedoch nicht, so Bonacker, sie verführt auch nicht, sondern offeriert ohnehin zirkulierende gesellschaftliche Wünsche. In den Hyperkörpern ist eine allerdings standardisierte, übertriebene, vereinfachte Nähe zu Alltagskonzepten manifest. Die Hyperkörper der Anzeigenwerbung und die Körper des wirklichen Lebens ähnelten sich so sehr, dass sich nicht entscheiden lasse, welche sich zuerst wandelten. Als Kulturkonzentrate bezeichnen die Hyperkörper der illustrierten Anzeigen eine Fülle an historisch spezifischen positiven Eigenschaften. Mag die Werbung auch übertreiben, sie steht dennoch in direktem Kontakt zur historischen Realität. Die Werbeanzeigen sind gerade deshalb ein so ergiebiges Quellenmaterial, weil sie in der Pflicht stehen zu überzeugen, weil sie nur dann funktionieren, wenn sie bestimmte Ideale prägnant darstellen. Und es ist ebenso bedeutsam wenn sie, wie die von Kathrin Bonacker ausführlich beschriebene, 1971 beworbene Strumpfhose für den Mann nicht funktionieren, weil sie einem bestimmten Hyperkörpertypus - der "männliche Mann" - zu sehr widersprechen, auch wenn sie ein zentrales Thema der frühen Siebziger - die Infragestellung von Geschlechterrollen - mobilisieren. Während der "verweiblichte Mann" ein dysfunktionales Werbebild bleiben sollte, etablierte sich in den Neunzigerjahren die amazonenhafte Frau in einem Gewalt und Sexualität verbindenden und die Geschlechterrollen problematisierenden Jahrzehnt als ein äußerst werbewirksamer Hyperkörper.
Etwa einhundertfünfzig Werbebilder bilden das aus einer Sammlung von siebzehntausend archivierten Anzeigen selektierte Material, welches die Grundlage von Kathrin Bonackers Buch darstellt. Nur in der allerdings zentral gesetzten Chronologie des Hyperkörpers des 20. Jahrhunderts sollen die ausgewählten sechzig Bilder kommentarlos für sich sprechen. In den synchronisch und diachronisch angeordneten vier Einzelanalysen unternimmt Kathrin Bonacker dann exemplarisch eine Körpergeschichte des 20. Jahrhunderts. Die Fallbeispiele sind so kurios wie prägnant: Anzeigen für Socken und Herrenstrumpfhosen; Werbung mit Schwangeren und Speerwerferinnen. Die geduldige Bildbetrachtung ist zugleich auch eine Geduldsprobe, manchmal am Rande der Zumutung, wenn Kathrin Bonacker mit so didaktischer wie komischer Akribie jedes einzelne Detail der illustrierten Anzeigen auflistet. Aber es zeigt sich auch, dass diese, das Material ernst nehmende hermeneutische Pedanterie, die so vielen geschichtswissenschaftlichen Arbeiten abgeht, nötig ist, um zu innovativen Ergebnissen zu kommen. So zeigt Bonacker in ihrer überzeugendsten Analyse anhand von nur zwölf Abbildungen die veränderte Wahrnehmung von Schwangerschaft und weiblicher Autonomie im Kontext von Selbst- und Fremdbestimmung. Sie weiß damit Barbara Dudens diesbezügliche Ausführungen durchaus zu vertiefen. Dass man schließlich von Sockenwerbungen auf die Veränderung von Sexualitätskonzepten und Geschlechterbildern schließen kann, ist innovativ, überraschend und erhellend. Und es bedarf auch einer ausführlichen Bildbetrachtung, wie Kathrin Bonacker sie mit dem Topos der Speerwerferin vorführt, um das Fortdauern einer latent der faschistischen Ikonografie entsprechenden antikisierenden Körperästhetik nicht nur zu postulieren, sondern auch zu beweisen. Die Hyperkörperforschung ist eine Blickschärfung!
Es wäre also erfreulich, wenn Kathrin Bonackers Aufforderung zur Hyperkörperforschung gefolgt würde. Aber es sollen auch nicht die Schwächen der hermeneutischen Methode verschwiegen werden. Wenn die Anzeigenwerbung als einzige Quellengattung verwendet wird, muss sich die ikonografische Interpretation auf ein stillschweigendes Vorwissen über den historischen Kontext verlassen. Die Schlussfolgerungen, welche die Autorin zieht, sind eben in den Abbildungen selbst nicht zu sehen. Sind es nicht diese impliziten Voraussetzungen, die schließlich wieder als gar nicht so überraschende Ergebnisse der Bildanalyse auftauchen? In der Sockeninterpretation folgen so auf die fußzeigenden, sexualisierten Siebziger die qua AIDS desexualisierten, fußverachtenden Achtziger. In den anderen Einzelbeispielen fügt Kathrin Bonacker dann auch ein reerotisiertes Jahrzehnt, die Neunziger, an. So spannend der Umweg über die Füße sein mag, so interessant es ist, zwischen fußzeigenden und fußverbergenden Jahrzehnten zu unterscheiden, braucht es für die These der AIDS-Krise wirklich den Blick auf die Anzeigenwerbung? Die interpretatorische und intuitive Bildbetrachtung scheint auch weitestgehend auf Theorie verzichten zu können. Die körpergeschichtliche Debatte wird nicht aufgegriffen, das Problem des biologischen Geschlechtskörpers wird recht lax mit der Formel der "kulturellen Überformung" umgangen.
Anzeigenwerbung und das Konzept des Hyperkörpertypus sollten durchaus einen gebührenden Platz in der historiographischen Methodik einnehmen. Die Geschichte des Brotaufstrichs etwa, Kathrin Bonacker zeigt dies en passant, darf als Abfolge der leckeren Butter der genussfreudigen Fünfziger und der halbfetten Margarine der fitten Neunziger nicht mehr ohne Rekurs auf Anzeigenbilder geschrieben werden. Doch die Anzeigenwerbung wird für weitere Publikationen kaum als einziges Quellenmaterial ausreichen. Eine interdiskursive Methode, welche disparates Material gleichberechtigt zu behandeln weiß und keine Unterschiede zwischen den Gattungen macht - Kathrin Bonacker bemerkt dies in ihrem Fazit selbst - müsste sich als noch weitaus ergiebiger erweisen.
Heiko Stoff