Andreas Braun: Tempo, Tempo! Eine Kunst- und Kulturgeschichte der Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert (= Werkbund-Archiv; Bd. 28), Frankfurt/Main: anabas-Verlag 2001, 198 S., 44 Abb., ISBN 978-3-87038-327-5, EUR 24,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Andreas Braun ist ein Kunsthistoriker. Das merkt man seiner Dissertation über die Geschwindigkeit im 19. Jahrhundert auf Schritt und Tritt an. Braun geht es weder um die technische Erzeugung der Geschwindigkeit noch um deren Wirkung auf Wirtschaft und Gesellschaft. Im Zentrum seiner Studie steht vielmehr die historische Wahrnehmung moderner Geschwindigkeit, in erster Linie deren Abbild in der Kunst. Das reich illustrierte und schön gestaltete Buch handelt davon, wie die Künstler des 19. Jahrhunderts das Aufkommen neuer Verkehrsmittel (Eisenbahn, Fahrrad, Automobil, Flugzeug) wahrnahmen und in ihren Werken zum Ausdruck brachten.
Die Studie konzentriert sich auf die Malerei und Grafik (West-)Europas, und zwar auf jene Bilder, in denen sich die Transportrevolution des 19. Jahrhunderts besonders offensichtlich widerspiegelte. Die Reaktionen anderer Künste, wie die der Musik und des Designs, der Architektur und der Fotografie, werden nur am Rande erwähnt. Brauns Streifzüge durch die Kunst des 19. Jahrhunderts sind ohne Zweifel durchdacht und belesen, und sie zeichnen sich durch einen bewundernswert lesbaren, ja geradezu flott geschriebenen Stil aus. Allerdings haben die Ausführungen über weite Strecken etwas Essayistisches, mitunter Zufälliges. Zur Darstellung und Sprache kommen die Kunstwerke, die einem halt so begegnen, wenn man sich mit der Geschichte der modernen Verkehrsmittel beschäftigt: William Turners Gemälde "Great Western Railway", die Zeichnungen von Toulouse-Lautrec, die Plakate des Reifenherstellers Michelin oder die Gewaltfantasien der autobegeisterten Futuristen. Ein roter Faden ist - abgesehen von dem Thema Geschwindigkeit - nirgendwo aufzufinden. Wohl nicht zufällig endet das Buch im Ungefähren, nämlich mit einem Exkurs über die Stromlinienform. Eine Zusammenfassung fehlt ganz. Sie hätte allerdings nicht mehr ergeben, als man sowieso seit langem weiß: Die höheren Reisegeschwindigkeiten führten zu einem anderen Lebensgefühl, das die damaligen Künstler in neue Formen zu fassen versuchten.
Andreas Braun stützt sich bei seinen Ausführungen einerseits auf die Originale der von ihm interpretierten Werke sowie auf kunstgeschichtliches Material, andererseits auf Literatur aus der Verkehrsgeschichte. In verkehrsgeschichtlicher Hinsicht verzichtet er auf wirkliche Quellenarbeit und sitzt deshalb manchem Mythos auf. So hielt "man" die Zugfahrt in den 1830er-Jahren nicht für "gesundheitsschädlich"; und die Konkurrenz mit der Eisenbahn spielte, um ein anderes Beispiel anzuführen, für die Entwicklung des frühen Automobils überhaupt keine Rolle. Eine "Kulturgeschichte" kommt auf jeden Fall so nicht zu Stande. Eine solche müsste sich zum Beispiel ganz zentral der alltäglichen Praxis moderner Geschwindigkeit annehmen, das heißt: nicht nur die diesbezüglichen Gedanken heutiger Geschwindigkeitsphilosophen (Virilio) oder damaliger Künstler (Marinetti) referieren, sondern sich dem Durchschnittsreisenden an die Fersen heften. Zusätzliche Quellenarbeit hätte im Übrigen auch dem besseren Verständnis der historischen Kunstwerke gut getan. Wer zum Beispiel weiß, dass Julius Bierbaums "Empfindsame Reise im Automobil" durch die Autofabrik Adler gesponsert war, der liest den gleichnamigen literarischen Bericht anders. Oder, um ein anderes Beispiel anzuführen: Die Bilder des Malers Herkomer kann man nur dann richtig verstehen, wenn man in Rechnung stellt, dass er sie an die Automobilisten verkaufte, die an der von ihm initiierten Tourenfahrt teilnahmen.
Brauns Studie bietet alles in allem einen leicht verständlichen, hin und wieder gar vergnüglich zu lesenden "tour d'horizon" über die Auseinandersetzung der Kunst des 19. Jahrhunderts mit der Geschwindigkeit. Insofern darf sie für sich in Anspruch nehmen, eine Kunstgeschichte zu sein. Um eine "Kulturgeschichte" (wie im Untertitel des Buches behauptet) handelt es sich mit Sicherheit nicht. Es sei denn, man würde in einem klassisch deutschen (Miss-)Verständnis "Kunst" und "Kultur" gleichsetzen.
Christoph Maria Merki