Monika Bergmeier: Umweltgeschichte der Boomjahre 1949-1973. Das Beispiel Bayern, Münster: Waxmann 2002, 320 S., 19 Abb., ISBN 978-3-8309-1175-3, EUR 29,90
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Das so genannte Wirtschaftswunder der 1950er und 1960er Jahre brachte der Masse der Bundesbürger ein bisher kaum gekanntes Maß an Wohlstand und sozialer Absicherung. Diese an sich positive Entwicklung zeitigte freilich auch manche Schattenseite. Unter diesen sticht nicht zuletzt die zunehmende Belastung der Umwelt hervor. Der Schweizer Historiker Christian Pfister hat schon vor einigen Jahren unter dem Schlagwort "1950er-Syndrom" die Bedeutung dieser Jahre als "umweltgeschichtliche Epochenschwelle" herausgestellt. Die historische Forschung hat sich trotzdem bislang nur recht wenig mit der Umweltgeschichte der Bundesrepublik Deutschland beschäftigt. Um so interessierter greift man zu einem Buch, das hier grundlegende Abhilfe verspricht, erlebt allerdings - zumindest zunächst - eine Enttäuschung. Denn was Monika Bergmeier hier vorlegt, ist keineswegs eine "Umweltgeschichte der Boomjahre", wie es der Titel verspricht, vielmehr eine Geschichte staatlichen Agierens und Reagierens in den Bereichen Raumordnung, Gewässerschutz, Immissionsschutz, Naturschutz und Pflanzenschutz in Bayern. Eine Darstellung der zunehmenden Umweltbelastungen sucht man ebenso vergebens wie etwa die Bereiche Bodenschutz und Lärmschutz, die Arbeit von Umweltschutzverbänden oder die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen für eine Umweltpolitik.
Bergmeier selbst nennt als vorrangiges Ziel ihrer Arbeit, "eine erste Antwort auf die Frage zu geben, wie die ökologischen Folgen der Beanspruchung und Belastung der Umwelt in den Wiederaufbau- und Boomjahren gesehen und bewertet wurden" (16). Sie gliedert ihre Studie in zwei Hauptteile. Im ersten untersucht sie die politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen am Beispiel einiger wichtiger Umweltgesetze sowie der programmatischen Äußerungen der Politik in Regierungserklärungen, Etatreden und Debatten im Bayerischen Landtag. Im zweiten Teil beschäftigt sie sich dann damit, die Handlungsmuster einzelner Akteure in ausgewählten Konfliktfeldern wie dem Ausbau der Wasserkraft, den emittierenden Industrie- und Gewerbeanlagen, den Anlagen zur Energieversorgung, der Wasserreinhaltung und dem chemischen Pflanzenschutz herauszuarbeiten.
Ihr Ergebnis ist wenig schmeichelhaft für die bayerische Politik: Umweltschutz habe in den Boomjahren keine bedeutende Rolle gespielt, nicht einmal in den Jahren 1969-1973, die allgemein als umweltpolitische Aufbruchphase gelten (257f.). Darüber könne auch die Gründung des ersten Umweltministeriums in der Bundesrepublik im Jahr 1970 in München nicht hinwegtäuschen. Denn damit sei lediglich ein neuer organisatorischer, nicht jedoch ein neuer inhaltlicher Weg beschritten worden. Die geringe personelle und finanzielle Ausstattung des Ministeriums sowie die Belassung entscheidender Kompetenzen für die Wasserwirtschaft im Innenministerium deuteten eher auf eine "Feigenblatt-Funktion" hin (263).
Dabei war es allerdings keineswegs so, dass die Umweltprobleme nicht erkannt worden wären und gar nichts getan worden wäre. Am vordringlichsten etwa behandelte die bayerische Politik das Problem der Gewässerverschmutzung. Hier wurden bereits zu Beginn der 1950er-Jahre erste Maßnahmen für eine Verbesserung der Wasserqualität eingeleitet und der Bau von Wasserversorgungsanlagen, Kanalisationssystemen und Kläranlagen wurde vorangetrieben. Ziel war es, Bevölkerung und Wirtschaft mit qualitativ und quantitativ ausreichendem Trink- und Brauchwasser zu versorgen. Umwelt- und Wirtschaftsinteressen trafen sich also in diesem Bereich zumindest partiell. Zugleich spielte der Ausbau Bayerns als Fremdenverkehrsregion mit hinein, der mit einer Verbesserung der Wasserqualität der zum Teil erheblich verschmutzten südbayerischen Ausflugsseen vorangetrieben werden sollte. Überhaupt dränge sich der Eindruck auf, so Bergmeier, dass das Interesse an einer Tourismusförderung eine auf Umweltschutz ausgerichtete Politik begünstigt oder zumindest Schlimmeres verhindert habe (256). Programmatisch formulierte der Chef der CSU-Landtagsfraktion Ludwig Huber die Umweltpolitik der Regierungspartei folgendermaßen: Bayern solle die Chance haben, einen geordneten Industrialisierungsprozess zu durchlaufen und trotzdem ein Land mit hohem Freizeitwert zu bleiben (132).
Am Beispiel der Diskussion über die Belastungen durch Industrieabwässer arbeitet Bergmeier eine Art Typologie der Umweltdebatten bis in die 1970er-Jahre heraus (229ff.): 1. Meist bestand Einigkeit über die Belastung, jedoch Dissens über deren Bewertung. 2. Die Belastung war messbar, aber es fehlte an vergleichbaren wissenschaftlichen Messmethoden sowie an Richt- und Grenzwerten. 3. Bestehende Gesetze wurden für die Problembewältigung als ausreichend angesehen. 4. Es wurde auf freiwillige Maßnahmen der Industrie und auf eine Problemlösung durch nachsorgende Technik vertraut. 5. Die Debatte wurde durch einen Kompromiss beendet, der keine Prioritäten setzte und die Lösung der Probleme lediglich aufschob.
Bei ihrer Untersuchung verschiedener Konfliktfelder stellt Bergmeier den unteren Verwaltungsbehörden noch das beste Zeugnis aus. Zwar hätten auch sie Interessen und Problemlösungsvorschläge der Unternehmer in der Regel bevorzugt. Ohne ihre Arbeit wären die Fortschritte im Umweltbereich jedoch noch geringer ausgefallen. Denn immerhin hätten sie die anfallenden Probleme ernst genommen und sich um konkrete Lösungen bemüht (261).
Umweltproteste gab es auch schon in den 1950er- und 1960er-Jahren, wenn sie auch meist regional und thematisch begrenzt blieben. Protest bekam die Politik damals meist dann zu spüren, wenn die Bevölkerung Gesundheit oder Eigentum gefährdet sah oder sich in ihren Rechten beschnitten fühlte. In den 1970er Jahren sei, so Bergmeier, weniger das Umweltbewusstsein an sich gewachsen als vielmehr der Unmut über die geringen rechtlichen und politischen Möglichkeiten, der Umweltzerstörung entgegenzuwirken (270).
Auch den vielfach konstatierten umweltpolitischen Aufbruch seit Beginn der 1970er Jahre sieht Bergmeier in Bayern kaum. Festzustellen sei nur die Auflösung eines Staus lange hinausgezögerter Maßnahmen. Der damals erfolgte Schub sei zeitlich begrenzt gewesen und habe weder in der Art der Maßnahmen noch in der Programmatik einen Neubeginn dargestellt. Die Umweltgeschichte der Boomjahre stelle sich deshalb, so ihr Fazit, vor allem dar als eine "Geschichte der durchaus bewussten Verhinderung ökologisch orientierter Politik"(277).
Neben der etwas unpassenden Titelwahl erscheinen vor allem zwei Dinge an der Studie problematisch. Da ist zum einen die recht begrenzte Quellenbasis. Die Arbeit stützt sich auf Akten der bayerischen Staatskanzlei, des Wirtschafts- und des Landwirtschaftsministeriums sowie auf die Protokolle der Debatten und Ausschusssitzungen des Landtags. Nicht berücksichtigt werden - auf Grund des engen Zeitrahmens des Projekts oder mangels Zugänglichkeit im Archiv, wie Bergmeier vermerkt - die Akten des für die Bereiche Immission und Wasser zuständigen Innenministeriums, des Umweltministeriums, der unteren Verwaltungsbehörden sowie von Umwelt- und anderer Interessenorganisationen. Dies führt dann dazu, dass Bergmeier in vielen Fragen auf die Notwendigkeit weiterer Forschungen verweisen muss und die Reichweite so mancher These möglicherweise nur kurz ist. Zum anderen misst Bergmeier die Umweltschutzbestrebungen der bayerischen Politik immer wieder am Leitbild der "dauerhaft-umweltgerechten Entwicklung" (17ff.), das eigentlich erst zwei Jahrzehnte später breitere Akzeptanz gefunden hat. Ohne ihrem grundsätzlichen Befund, der Unzulänglichkeit vieler damaliger staatlicher Bemühungen um einen wirksamen Schutz der Umwelt, widersprechen zu wollen, muss man doch konstatieren, dass ein derartiger Vergleich Gefahr läuft, die durchaus festzustellenden Fortschritte im umweltpolitischen Denken oder im Umweltschutz zu verwischen.
Trotz aller Kritik vermittelt Bergmeier informative und wichtige Einblicke in das umweltpolitische Denken und Handeln von Politik und Verwaltung in Bayern. Und sie gibt zahlreiche Anregungen für weitere wissenschaftliche Untersuchungen zum Thema. Denn für eine umfassende Umweltgeschichte Bayerns nach dem 2. Weltkrieg ist noch ein gehöriges Maß an Forschungsarbeit zu leisten.
Andreas Eichmüller