Rezension über:

Friedemann Schmoll: Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im Deutschen Kaiserreich (= Geschichte des Natur- und Umweltschutzes; Bd. 2), Frankfurt/M.: Campus 2004, 508 S., ISBN 978-3-593-37355-3, EUR 45,00
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Rezension von:
Anna-Katharina Wöbse
Universität Bielefeld
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Anna-Katharina Wöbse: Rezension von: Friedemann Schmoll: Erinnerung an die Natur. Die Geschichte des Naturschutzes im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt/M.: Campus 2004, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 9 [15.09.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/09/5248.html


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Friedemann Schmoll: Erinnerung an die Natur

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"Wenn früher ein Mensch und ein Sumpf zusammenkamen, verschwand der Mensch, jetzt der Sumpf". Mit diesem Zitat des Wirtschaftstheoretikers Otto Neurath aus den 1930er-Jahren skizziert der Tübinger Kulturwissenschaftler Friedemann Schmoll einleitend ein Phänomen, das den Ausgangspunkt seiner Habilitationsschrift "Erinnerung an die Natur" bildet. Die einst bedrohliche Natur wird zum bedrohten Ort und erscheint fortan als bewahrenswert und schutzbedürftig. Dieser bemerkenswerte Perspektivenwechsel, der zur Bildung der Naturschutzbewegung im deutschen Kaiserreich führte, war in den letzten Jahren wiederholt Gegenstand historischer Analyse.

Der Großteil der Einzelstudien zur Ideengeschichte des Naturschutzes hob zum einen die antimoderne Haltung der Bewegung hervor und diagnostizierte zum anderen den eklatanten Widerspruch, dass es die Naturschutzbewegung in kurzer Zeit zwar zu einer erstaunlichen Gesellschaftsfähigkeit brachte, gleichzeitig aber nie den Primat der Ökonomie ernsthaft erschütterte. Und eben hier setzt Schmoll zu einem neuen Sprung an: Ihn interessieren die sich "formierenden Ambivalenzen von Verlust und Rettung", die "für den Umgang der Moderne mit Natur signifikant" erscheinen. Gerade das Nebeneinander und die Gleichzeitigkeit von Vernichtung und Bewahrung, so lautet eine der zentralen Thesen, sind "ein Grundmuster moderner Naturbeziehungen und ermöglichen in ihrer Wechselbeziehung erst Modernisierung" (12 f.).

Schmoll will sich "dem schillernden Plural an Bedeutungszuweisungen" (27) von 'Natur' stellen. Dabei geht er davon aus, dass die Diskurse über Natur einen realen Bezug besitzen. Deshalb folgt der theoretischen und methodischen Einführung eine Skizze der stofflichen Rahmenbedingungen im Umbruch der Mensch-Natur-Beziehung während der Industrialisierung. Der Abriss einiger prominenter Konfliktfelder wie Bevölkerungszunahme, Land- und Forstwirtschaft, Urbanisierung und Ressourcenverbrauch soll die materielle Folie für die Beurteilung liefern, inwieweit der zeitgenössische Befund vom "Niedergang" und "einer elementaren Kulturkrise" (63) mit faktischen Eingriffen korrespondierte. An diesen Vorlauf schließen sich die drei Hauptteile der Untersuchung an, in denen sich Schmoll mit Teilgebieten der Naturschutzbewegung auseinandersetzt.

Unter der Überschrift "Naturbewahrung und kulturelles Gedächtnis" wird der konservierende Ansatz der Naturdenkmalpflege, Erinnerungsorte in der Natur zu schaffen, untersucht. Schmoll erläutert detailliert das Phänomen, dass "Sehnsüchte nach Natur als Sehnsüchte nach Vergangenheit" (57) zu verstehen sind. Er seziert aus einer Mannigfaltigkeit von Initiativen, die 'Merkwürdigkeiten' wie einzelne Baumriesen, erratische Blöcke oder kleinere Landschaftsausschnitte als Naturdenkmale erfassen und schützen wollten, das zu Grunde liegende kulturelle Deutungsmuster heraus. "Einer vergangenheitslosen Moderne" wurden Naturrelikte entgegengesetzt, "welche die lange Dauer der Einbindung der Menschheitsgeschichte in die Naturgeschichte bezeugten". Und so identifiziert Schmoll den Naturschutz in dieser Frühphase richtig als "Sproß des Historismus" (230 f.). Besonders aufschlussreich ist Schmolls These, dass sich in dieser spezifischen Form des Schützens eine "Doppelstruktur moderner Naturbeziehung" (232) ausbildete und festschrieb: Die sakrale Überhöhung und politische Inwertsetzung von Naturrelikten begleitete die allgemeine Ausbeutung und Übernutzung natürlicher Ressourcen: Eine Überwindung der Gegensätze stand nicht zur Debatte.

Anschließend setzt sich Schmoll mit der Beziehungsgeschichte von Mensch und Tier auseinander. Man kann diesen Ansatz nicht hoch genug einschätzen, denn das elementare Beziehungsgeflecht zwischen Kreatur und Mensch ist bisher in der Naturschutzgeschichte viel zu wenig berücksichtigt worden und birgt enormes Erkenntnispotenzial. Hier werden die bis heute gültigen Extreme von Nähe und Ferne in der menschlichen Beziehungen zur animalischen Natur greifbar. Präzise umreißt Schmoll das Phänomen, dass einerseits bestimmte Praktiken im Umgang mit Tieren als Grausamkeiten und barbarisches Verhalten geächtet wurden, andererseits der "industrielle Massenmord im Schlachthaus eine kulturelle Selbstverständlichkeit" (240) darstellt. Dieser scheinbar tiefe Widerspruch, so vermutet der Autor, ist ein Bestandteil eines Prozesses, der eindeutige Deutungsmuster bei der Bewertung von Natur herstellen soll. Er vertieft sich in der Folge in eine Fallstudie über den Vogelschutz und die Tabuisierung des Verzehrs von Singvögeln, um an diesem Beispiel den erstaunlichen Wandel von einem kalorienhaltigen Nutzungsgegenstand zum "gefiederten" Freund und Mitgeschöpf zu dokumentieren. Schmoll geht davon aus, dass kulturelle Modernisierungsprozesse vorhandene Ambivalenzen auslöschen und die Entstehung eines polaren Naturverhältnisses zur Folge haben. Für Mehrdeutigkeiten ist hier kein Platz.

Im dritten Hauptteil "Heimat und Landschaft" wendet sich Schmoll schließlich dem Heimatschutz als der dritten gestaltenden Kraft der Naturschutzbewegung zu. Hier wurden die ästhetischen Argumentationslinien entwickelt, der die Bewegung die erstaunlich schnell entfaltete gesellschaftliche Breitenwirkung verdankte. Es zeigt sich, dass Heimat als Synonym für eine überkommene natürliche Ordnung gehandelt wurde, in der die Einheit von Natur und Kultur im Rückblick intakt erschien. Natur war in diesem Zusammenhang nur eins von mehreren Handlungsfeldern, denen sich der Heimatschutz widmete. Er besaß, verglichen mit Naturdenkmalpflege und Vogelschutz, eine breitere, in verschiedenen kulturellen Kontexten lesbare Modernisierungskritik, die auch auf soziale, politische und wirtschaftliche Fragen anwendbar war. Schmoll zeigt am Beispiel verschiedener Akteure und Theoretiker, wie unterschiedlich der Heimatbegriff gelesen wurde und dabei doch eine integrative Kraft besaß. "Heimat" ließ sich flexibel operationalisieren - der Schutz von Natur und Landschaft wurde unter ihren Vorzeichen als für das Gemeinwohl wichtige Handlung popularisiert. An diese Deutungsmuster von der in Natur und Heimat früh festgeschriebenen naturhaften Ordnung konnte auch der Nationalsozialismus später nahtlos anknüpfen.

Friedemann Schmoll hat mit diesem Buch eine komplexe Zusammenschau unterschiedlicher Stränge der frühen Naturschutzbewegung vorgelegt. Seine Fallstudien illustrieren die Heterogenität in den Debatten und kristallisieren doch als verbindendes Element die gegenseitige Bedingtheit von Schutz und Zerstörung heraus. Leider kommt der Vergleich mit europäischen und amerikanischen Debatten, der für eine Einordnung in die Gesamtentwicklung der westlichen Moderne Voraussetzung wäre, zu kurz. Zum Teil öffnet Schmoll den Blick auf spannende Felder, wie das von ihm kurz erwähnte Konsenspotenzial des Naturschutzes jenseits der Parteigrenzen oder die biografischen und sozialen Determinanten, die eine spezifische Lesart von Natur bestimmen, ohne sie in der Folge konsequent auszuleuchten. Allerdings schmälert das nicht den Erkenntnisertrag der Untersuchung. Sie liefert ein beachtenswertes Erklärungsmodell für Strukturen und kulturelle Gemengelagen, die bis heute im Naturschutz existent sind. Es ist dringend zu hoffen, dass diese Analyse Eingang in laufende Debatten findet. Denn die historische Reflexion kann zu Tage fördern, inwieweit der Naturschutz selbst an der Zweiteilung der Naturwahrnehmung in der Moderne beteiligt war. Diese Dichotomie ist in den aktuellen Auseinandersetzungen um Nachhaltigkeit präsent: Es scheint nach wie vor einfacher, einzelne Reservate auszuweisen als integrative Modelle zu entwickeln, die langfristig die Entzweiung der Umwelt in Nutz- und Bewahrflächen aufheben könnten.

Anna-Katharina Wöbse