Rezension über:

Bernadetta Nitschke: Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949. Aus dem Polnischen von Stephan Niedermeier (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa; Bd. 20), München: Oldenbourg 2003, 392 S., ISBN 978-3-486-56687-1, EUR 34,80
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Rezension von:
Claudia Kraft
Deutsches Historisches Institut, Warschau
Redaktionelle Betreuung:
Winfried Irgang
Empfohlene Zitierweise:
Claudia Kraft: Rezension von: Bernadetta Nitschke: Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949. Aus dem Polnischen von Stephan Niedermeier, München: Oldenbourg 2003, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 11 [15.11.2003], URL: https://www.sehepunkte.de
/2003/11/4338.html


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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Bernadetta Nitschke: Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen 1945 bis 1949

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Das Thema der Vertreibung der Deutschen aus Polen hat in jüngster Zeit durch die international geführte Debatte um das geplante "Zentrum gegen Vertreibungen" erneut große publizistische Aufmerksamkeit erfahren. Das Buch von Bernadetta Nitschke ist das Ergebnis langjähriger Archivrecherchen und belegt, dass dieses Thema in Polen bereits lange vor der aufgeregten Debatte im Fokus der Forschung stand. Zugleich allerdings zeigen schon der Titel der deutschen Ausgabe sowie die Titel der beiden polnischen Veröffentlichungen, auf denen diese fußt, dass auch langjährige Forschungspraxis und die gute Kooperation von deutschen und polnischen Wissenschaftlern im Bereich dieser Problematik sich weiterhin in dem schwierigen Umfeld unterschiedlicher Erinnerungskulturen bewegen bzw. von diesen nicht unbeeinflusst bleiben: Hieß die erste Ausgabe der Studie in Polen 1999 noch lakonisch "Die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen in den Jahren 1945-1949", so fragte die Neuauflage von 2001 bereits nach "Aussiedlung oder Vertreibung? Die deutsche Bevölkerung in Polen in den Jahren 1945-1949" [1]. In der deutschen Übersetzung von 2003 ist das Fragezeichen entfallen.

Nitschkes Studie reiht sich in die seit dem Ende des kommunistischen Regimes in Polen rege, zunächst publizistische und darauf auch wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema ein. Besonders hervorzuheben ist, dass die Verfasserin keinen regional begrenzten Ansatz wählt, sondern das Schicksal aller Deutschen, die nach 1945 unter polnische Herrschaft kamen, untersucht. Zudem zeigt sie sich auch sensibel für die Menschen, deren nationale Zugehörigkeit zu jener Zeit nicht eindeutig bestimmbar bzw. zum Spielball politischer Interessen geworden war. Daher widmet sie neben den tatsächlichen Migrationsbewegungen auch der polnischen Nationalitätenpolitik jener Jahre, die sie unter den Begriffen "Verifizierung" und "Rehabilitierung" zusammenfasst, breiten Raum. Und als ob die umfassende Recherche in polnischen Zentral- und Regionalarchiven nicht bereits eine kaum zu bewältigende Menge an Material zu Tage gefördert hätte, zieht sie zusätzlich deutsche Dokumente heran, um auch den "Erinnerungen der unmittelbar Betroffenen" (25) Gehör zu verschaffen. Begründet wird diese extrem breite Quellenbasis mit dem Wunsch, eine Aufrechnung von Verbrechen und Leiden zu vermeiden (37). Der Versuch, auf dieser Basis einen quasi "objektiven" Blick einzunehmen und alle Aspekte des "Komplexes Vertreibung" zu beleuchten, ist ehrenwert, zugleich aber nicht unwesentlich für die methodischen Schwächen des Buches verantwortlich.

Die Verfasserin verlässt sich allzu sehr darauf, dass die detaillierte Darstellung der Abläufe von Flucht und Vertreibung, die sie aus deutschen und vor allem polnischen Quellen erarbeitet, sich zu einem abschließenden Bild jener traumatischen Epoche der deutsch-polnischen Beziehungen fügen möge. Doch eine noch so breite Quellengrundlage enthebt den Historiker nicht von seiner Pflicht zur Bewertung und Kontextualisierung des Dargestellten. Nitschke stellt sich dieser Aufgabe zu wenig. Indem sie das Schicksal der deutschen Bevölkerung möglichst umfassend darzustellen versucht und auch die Vorgeschichte - d.h. die Entstehung des Umsiedlungsgedankens im 20. Jahrhundert und die Ereignisse bei Kriegsende - ausführlich in ihre Darstellung mit einbezieht, überlädt sie ihr Buch. Den Vorwurf, dass sie durch diese Ausführungen einem beliebten polnischen Narrativ anhängt, nämlich das Vertreibungsgeschehen zu "überkontextualisieren" und es zu einer bloßen Variable der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs und der alliierten Nachkriegsplanung zu degradieren, kann man der Verfasserin nicht machen. Allerdings verbleibt ihre Darstellung allzu oft im Deskriptiven und bedient sich manchmal unreflektiert der Sprache der Quellen. Dadurch unterbleibt eine analytische Durchdringung der tatsächlichen Handlungsspielräume der polnischen Akteure jener Jahre. Bedauerlich ist auch, dass Nitschke zu wenig aus dem in den unterschiedlichen Regionalarchiven gesammelten Material macht und die noch immer dominante zentralstaatliche Perspektive der polnischen Historiographie einnimmt. Die immensen regionalen Unterschiede bei der Behandlung der Deutschen werfen nicht nur ein interessantes Licht auf die enormen Startschwierigkeiten des nach Westen verschobenen Polens, dessen unterschiedliche Regionen mindestens so disparat wie die ehemaligen Teilungsgebiete im Jahr 1918 waren. Diese Unterschiede können auch herangezogen werden, wenn es gilt, das Bild von der deutschen "Schicksalsgemeinschaft" der Vertriebenen zu dekonstruieren, wie es von der Verbandspropaganda in Westdeutschland gezeichnet wurde und wird. Die Abstinenz der Verfasserin gegenüber Wertungen zeigt sich nicht zuletzt darin, dass sie ihre Studie mit einem interessanten Abschnitt über die Lage der nach 1949 in Polen verbliebenen Deutschen abschließt, aber das eigentliche Thema ihrer Ausführungen nicht resümiert.

Trotz dieser eher methodologischen bzw. durch den Aufbau des Buches begründeten Desiderate ist es zu begrüßen, dass die langjährigen Archivstudien der Verfasserin einem deutschen Publikum zugänglich gemacht werden. Die akribische Darstellung nicht nur der massenhaften Aussiedlungsaktionen der Jahre 1946-48, sondern auch der brutalen Vertreibungen vor Potsdam bzw. im gesamten Jahr 1945 durch polnische Militär- und Zivilbehörden zeigt, wie weit die Aufarbeitung des Themas in Polen bereits gediehen ist. Besonders hervorzuheben ist auch, dass Nitschke auf das komplexe Beziehungsdreieck von Deutschen, Polen und Angehörigen der Roten Armee im Nachkriegspolen eingeht und, wie bereits erwähnt, die Politik von "Verifizierung" und "Rehabilitierung" als zweite Säule bei der Errichtung eines "monolithischen Nationalstaats" beschreibt. Dem Buch sind viele deutsche Leser zu wünschen - vor allem solche, die noch immer dem Irrglauben anhängen, dass dieses schwierige Kapitel der deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte ein Tabuthema für unsere polnischen Kollegen darstelle.

Anmerkung:

[1] Bernadetta Nitschke: Wysiedlenie ludności niemieckiej z Polski w latach 1945-1949, Zielona Góra 1999; dies.: Wysiedlenie czy wypędzenie? Ludność niemiecka w Polsce w latach 1945-1949, Toruń 2000.

Claudia Kraft