Niels von Redecker: Die polnischen Vertreibungsdekrete und die offenen Vermögensfragen zwischen Deutschland und Polen (= Studien des Instituts für Ostrecht; Bd. 44), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2003, 129 S., ISBN 978-3-631-50624-0, EUR 24,80
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Zu Unrecht rühmt sich der Verfasser des vorliegenden Bändchens, mit "deutschen und polnischen Tabus" (7) zu brechen. Zwar kann sich die Frage eventueller Restitutionen ehemals deutschen Eigentums in Polen am Vorabend der EU-Osterweiterung sicherlich eines gewissen Medienechos erfreuen und ist auch vor populistischer Vereinnahmung, wie Edmund Stoibers verunglückte Bezugnahme auf vermeintliche "Bierut-Dekrete" gezeigt hat, nicht gefeit. Doch was Niels von Redecker als das Schließen einer Forschungslücke annonciert, ist bestenfalls nicht neu - so konnte man bereits seit den Fünfzigerjahren die im Anhang (69-129) abgedruckten polnischen Rechtsakte in der von Theodor Schieder bearbeiteten und in der Zwischenzeit nachgedruckten "Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa" in deutscher Übersetzung einsehen -, schlimmstenfalls in seiner mangelnden historischen Kontextualisierung irreführend und befremdlich.
Es überrascht zunächst, was der Verfasser unter dem Begriff der "Vertreibungsdekrete" subsumiert. Das Dekret vom 31. August 1944 über die "Strafzumessung für faschistisch-hitleristische Verbrecher" zum Beispiel war in seiner schwammigen Formulierung und im System der polnischen Nachkriegsjustiz, die vor allem der Etablierung der kommunistischen Macht zuarbeiten sollte, sicher kein "Ausbund" rechtsstaatlicher Gesetzgebungstätigkeit. Es war aber zunächst einmal ein Versuch, auf das binnen von sechs Jahren von Deutschen in Polen verübte Besatzungsunrecht strafrechtlich zu reagieren. Dieses Ausblenden des - der Vertreibung vorangegangenen - Zweiten Weltkriegs führt den Verfasser mehrmals zu Ausführungen, die wenig sachdienlich sind beziehungsweise skurril wirken. Bei seiner Untersuchung der neun noch geltenden Dekrete, die sich im allerweitesten Sinne mit der Aussiedlung der Deutschen aus den Gebieten östlich von Oder und Neiße sowie mit deren Vermögen befassen, fragt er nach ihrem jeweiligen Inhalt, ihrer Rechtswirkung und der eventuellen ethnischen Diskriminierung, die diese heute bedeuten. Bei dem bereits erwähnten August-Dekret von 1944 kommt er etwa zu dem Schluss, dass dieses insofern keine ausdrückliche ethnische Diskriminierung enthalte, "als es kein Deutschenstrafrecht normiert" (25). Allerdings, so fährt er fort, seien einige Straftatbestände auf Deutsche zugeschnitten, da wohl kaum ein Pole in führender Position in der NSDAP tätig gewesen sei. Stimmt! Zwei Seiten weiter gesteht der Verfasser selbst zu, dass die Kategorie "ethnische Diskriminierung" immer dann, wenn es um die Überwindung von Besatzungsunrecht geht, fragwürdig ist. Dabei wird aber deutlich, wie er sich bei der starren Konzentration auf den juristischen Wortlaut einer tiefergehenden Analyse des polnischen Rechtsdenkens der Nachkriegszeit begibt. Denn dieses war ja durchaus nicht frei vom ethnischen Purifizierungs- und Homogenisierungswahn, den unter anderen die Nationalsozialisten induziert hatten.
In einem weiteren Kapitel untersucht von Redecker die Chancen für Deutsche, im heutigen Polen Grundstückseigentum jenseits historisch zu begründender Restitutionsforderungen zu erwerben. Dabei hebt er vor allem auf die Veränderungen im politischen und wirtschaftlichen System Polens seit 1989 ab und kommt vor diesem Hintergrund zu einem positiven Ergebnis, was den Landerwerb angeht. Er könnte somit eigentlich zu einer Entdämonisierung der Debatte beitragen, wenn er nicht nachschieben würde, dass die deutschen Vertriebenen ihr "'Recht auf Heimat' [...] auch bereits vor dem EU-Beitritt recht problemlos genießen [konnten]" (55). Mit dem polnischen Publizisten Adam Krzemiński möchte man ihm bzw. den Vertriebenen zurufen: "Kehrt nicht zurück, sondern kommt"[1] und somit unterstreichen, dass im Jahr 2004 der Gebrauch der geschichtspolitischen Chiffre "Recht auf Heimat" eine deutsch-polnische Annäherung erschwert, die de facto im zusammenwachsenden Europa schon viel weiter fortgeschritten ist, als es die Floskeln aus der Zeit des Kalten Krieges vermuten lassen.
In einem weiteren Analyseschritt hält der Verfasser auch die erfolgreiche Durchsetzung von Restitutionsansprüchen vor polnischen Gerichten in der gegenwärtigen politischen Situation für möglich. Allerdings weist er darauf hin, dass es sich dabei wohl lediglich um eine Art symbolische Wiedergutmachung handeln könne, zumal dem finanzschwachen polnischen Staat, der als einziges Land des ehemaligen Ostblocks noch kein Reprivatisierungsgesetz erlassen hat, auch noch die Forderungen der eigenen Staatsbürger ins Haus stehen. Besonders gute Chancen für eine Restitution von Eigentum sieht er, wenn die Enteignung in der Nachkriegszeit bereits gegen damals geltendes Recht verstieß. Diesen Fall hält er vor allem bei deutschen Staatsbürgern jüdischer Herkunft für gegeben.
Abschließend möchte die Rezensentin noch auf die fragwürdige Begrifflichkeit hinweisen. In seinen einführenden Bemerkungen schreibt der Verfasser, dass es die "deutsche Ostrechtsforschung" versäumt habe, den durch Edmund Stoiber ausgelösten Streit um die Geltung der so genannten "Bierut-Dekrete" durch "sachliche Dokumentation und nüchterne Analyse" zu vermeiden (9). Wie definiert sich die "deutsche Ostrechtsforschung", und vor allem, wie definiert sie ihren wissenschaftlichen Gegenstand? Von Redecker setzt sich in dem vorliegenden Band mit Rechtsnormen und Rechtsakten auseinander, denen meiner Meinung nach wenig einer spezifischen Himmelsrichtung anhaftet. Die Strafverfolgung nationalsozialistischer Täter, die Enteignungen in den kommunistischen Staaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit, verfassungsrechtliche Prinzipien von Gewaltenteilung oder zivilrechtliche Grundsätze wie der der Vertragsfreiheit sind über ein anachronistisches Disziplinverständnis, das teilweise ethnisierende, teilweise systempolitische Kriterien an seinen Forschungsgegenstand anlegt(e), kaum erfassbar. Nicht nur bei der Beschäftigung mit Eigentumsfragen im zusammenwachsenden Europa erscheint die "deutsche Ostrechtsforschung", der seit 1989 ihr schon immer fragwürdiger Forschungsgegenstand endgültig abhanden gekommen ist, als Fossil. Eine selbstkritische Beschäftigung mit der Entstehungs- und Wirkungsgeschichte der Disziplin sowie deren institutioneller und personeller Verfasstheit vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stehen dagegen bis heute aus.
Anmerkungen:
[1] Adam Krzemiński: Nie wracajcie, przyjeżdżajcie, in: Polityka Nr. 27, vom 6. Juli 2002, 34-38.
Claudia Kraft