Martin Kirsch / Anne G. Kosfeld / Pierangelo Schiera (Hgg.): Der Verfassungsstaat vor der Herausforderung der Massengesellschaft. Konstitutionalismus um 1900 im europäischen Vergleich (= Schriften zur Europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte; Bd. 41), Berlin: Duncker & Humblot 2002, 480 S., 2 Tabellen, ISBN 978-3-428-10734-6, EUR 99,80
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Hélène Miard-Delacroix: Im Zeichen der europäischen Einigung 1963 bis in die Gegenwart, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011
Hartmut Kaelble: Der verkannte Bürger. Eine andere Geschichte der europäischen Integration seit 1950, Frankfurt/M.: Campus 2019
Gabriele D'Ottavio: L'Europa dei tedeschi. La Repubblica Federale di Germania e l'integrazione europea, 1949-1966, Bologna: il Mulino 2012
Peter Brandt / Martin Kirsch / Arthur Schlegelmilch (Hgg.): Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert. Band 1: Um 1800, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2006
Hartmut Kaelble / Martin Kirsch / Alexander Schmidt-Gernig (Hgg.): Transnationale Öffentlichkeiten und Identitäten im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2002
Der Band ist der dritte und letzte einer Reihe, die sich mit der Entwicklung des europäischen Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert auseinander setzt und auf einen Tagungszyklus zu diesem Thema zurückgeht. Ausgangspunkt des Gesamtprojektes war die These, dass "die Durchsetzung der nationalen Konstitutionalismen in Europa vom 18. zum 20. Jahrhundert abhängig sei von einem [...] weit verbreiteten und zirkulierenden Bedürfnis nach kollektiver Ausrichtung des politischen Verhaltens an den Erfordernissen des organisierten Lebens, die sich in der neuen bürgerlichen Gesellschaft stellten" (12). Die Anfänge des Konstitutionalismus werden aus dieser Perspektive als Instrument der neuen bürgerlichen Eliten verstanden, kollektive Verhaltensweisen einzufordern. In der Mitte des 19. Jahrhunderts erreichte diese Legitimationsstrategie politischer Herrschaft ihren Höhepunkt, der tragischerweise mit dem Scheitern in der Revolution von 1848 zusammenfiel. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das ist die Leitthese dieses Bandes, sei die im 18. Jahrhundert entwickelte Legitimationsstrategie weiter verfolgt worden, nun durch die Ausgestaltung des Rechtsstaates mit der organisierten Erweiterung der Ansprüche auf soziale Leistungen und staatliche Fürsorge. Die Herausgeber interpretieren den Konstitutionalismus daher nicht aus der Perspektive der politischen Ideengeschichte, wie dies bislang überwiegend geschehen ist, sondern als Herrschaftsinstrument des sich im rasanten politischen und wirtschaftlichen Aufstieg befindlichen Bürgertums. Besonderen Wert legen sie zudem auf den europäisch-komparatistischen Ansatz, so wie er zuletzt von Hartmut Kaelble entwickelt und zu Recht für weitere Forschungen eingefordert worden ist.
Ausgehend von diesen Prämissen beobachtet Pierangelo Schiera eine verfassungsgeschichtliche Entwicklung, die dem - ökonomischen - Gedanken des Gemeinwohls vor allem in Deutschland, aber auch in Italien, in zunehmendem Maße Verfassungsrang beimisst. Er greift dabei auf eine Formulierung Lorenz von Steins zurück, der das Hohenzollernreich als "soziale Monarchie" bezeichnet hatte. Der Konstitutionalismus, so Schiera, habe in Deutschland einen Weg genommen, der von den politischen Rechten im frühen 19. Jahrhundert zu Sozialansprüchen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts geführt habe. Im Mittelpunkt der Verfassungsdebatte habe nun nicht mehr der Gedanke der Kodifizierung bürgerlicher Rechte gestanden, sondern die gesetzliche Ausformung des "Gemeinwohls". Die Liberalen, ursprünglich die wichtigsten Träger des politischen Verfassungsgedankens, hätten sich in dieser Phase mehr und mehr aus dem Prozess zurückgezogen und nicht zuletzt hierdurch an Bedeutung verloren. Schiera kann zeigen, dass diese Gedanken auch von den italienischen 'scienze sociali' aufgenommen wurden. Jedoch, auch wenn diese verfassungsgeschichtliche Interpretation der Anfänge des deutschen Sozialstaates einiges für sich hat, müsste noch deutlicher gezeigt werden, dass es sich, wie vom Verfasser behauptet, tatsächlich um ein europäisches Phänomen handelt.
Anne Kosfeld untersucht zwei einflussreiche Staatsrechtslehrer aus Deutschland und Großbritannien, Otto von Gierke und Frederic William Maitland, die sich beide mit den Problemen von Konstitutionalismus und Massengesellschaft beschäftigten. Beide zeigten sich überzeugt, dass die nationalstaatliche Gesellschaft unter dem Druck von industrieller und bürgerlicher Revolution eines neuen einigenden Elementes bedurfte, und dieses konnte ihrer Ansicht nach nur eine Verfassung sein, deren Inhalte sich aus der Geschichte der Nation speisten. Raffaela Gherardi behandelt das Problem des italienischen Liberalismus, der sich, so ihre These, nach der Gründung des Nationalstaates 1861 gezwungen sah, den neuen Staat zu gestalten, und daher keine theoretischen Konzepte entwickeln konnte, die etwa mit denen der deutschen oder britischen liberalen Denktradition vergleichbar sind. Die Liberalen, die zuvor für die individuelle Freiheit vor dem Staat gekämpft hatten, sahen sich nun gezwungen, die Grenzen der Freiheit vor der Demokratie zu ziehen. Monica Cioli beobachtet eine ähnliche Wende vom theoretischen Denken zur pragmatischen Politik im deutschen Liberalismus.
Martin Kirsch arbeitet ausgehend vom französischen Beispiel der Parlamentarisierung in der 3. Republik drei europäische "Modelle" dieses Prozesses heraus: zum einen das britische Modell, wie es sich nach der Wahlrechtsreform von 1867 mit einem stabilen Zwei-Parteiensystem herausgebildet habe, zweitens das "südeuropäisch-transformistische", welches durch einen Elitenkonsens unter Einbezug von Klientelinteressen entstand, und schließlich das "mitteleuropäisch-versäulte", charakterisiert durch den Konsens größerer gesellschaftlicher Gruppen unter Ausschluss der Sozialisten. Das Ergebnis sei bei allen drei Modellen das gleiche gewesen: die Parlamentarisierung der europäischen Staaten und die Reduktion des Königtums auf rein repräsentative Funktionen beziehungsweise seine völlige Abschaffung.
Markus Schacht nähert sich dem Problem, indem er die "Wahlkulturen" in Preußen und Italien vergleicht. Bei allen Unterschieden zwischen beiden Ländern sieht er deutliche Gemeinsamkeiten in den Strategien der jeweils dominierenden politischen Klasse, Wahlen so zu inszenieren, dass die eigene Machtstellung nicht wesentlich infrage gestellt werden konnte. Hierzu gehörten die Einteilung der Wahlkreise, die den sich rasch wandelnden gesellschaftlichen Verhältnissen nicht angepasst wurden, Mittel der Wählermobilisierung und ebenso Wahlmanipulationen am Wahltag. Das Wahlrecht wurde, so sein Fazit, in beiden Ländern dazu missbraucht, die politischen Konsequenzen des gesellschaftlichen Wandels hinauszuzögern, das hieß vor allem, die Sozialisten von der Regierung fern zu halten. Ähnliches konstatiert Birgitta Bader-Zaar beim Vergleich zwischen Großbritannien, Deutschland und dem cisleithanischen Österreich aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive. Trotz unterschiedlicher rechtlicher Rahmenbedingungen in diesen Ländern, so ihr Fazit, wurden auch hier Reformen im Sinne des allgemeinen Frauenwahlrechts verzögert, um männliche Vorherrschaft zu zementieren. Gerade diese Bemühungen der Herrschenden hätten dazu geführt, dass ein transnationales Netzwerk von Suffragetten entstanden sei. Aus diesem Grund sei die Diskussion um das Frauenwahlrecht in allen drei Ländern nach ähnlichen Mustern geführt worden.
Weitere Beiträge befassen sich mit dem Einfluss des ethnischen Nationalismus auf den deutschen Konstitutionalismus (Dieter Gosewinkel), der deutschen Diskussion um die "Selbstverwaltung" als Instrument zur Überwindung der Verfassungskrise (Hans Boldt) sowie den europäischen Einflüssen auf die Verfassungsentwicklung des Osmanischen Reiches zwischen 1876 und 1909 (Gülnihal Bozkurt).
Leider gehen, wie so oft bei umfangreichen Tagungsbänden, nicht alle Beiträge auf die von den Herausgebern formulierten Fragestellungen ein, weshalb der Band insgesamt recht heterogen wirkt. Die Vorzüge des Buches jedoch liegen darin, dass es ein bislang der politischen Ideengeschichte vorbehaltenes Thema aus neuer Perspektive aufgreift, die gerade bei den klassischen Verfassungshistorikern auf Widerspruch stoßen wird.
Guido Thiemeyer