MAEE Paris, Commission Des Archives Diplomatiques (éd.): Documents Diplomatiques Français 1948. Tome 1 (1 Janvier - 30 Juin), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2011, XLIII + 1010 S., ISBN 978-90-5201-755-6, EUR 41,20
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Gabriele Clemens / Alexander Reinfeldt / Telse Rüter: Europäisierung von Außenpolitik? Die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) in den 1970er Jahren, Baden-Baden: NOMOS 2019
Das Jahr 1948 war ein besonders schwieriges für die französische Außenpolitik. Vor allem zwei miteinander verbundene Probleme beschäftigten die Verantwortlichen in Paris. Zum einen spitzte sich der Ost-West-Konflikt, der sich schon zuvor abgezeichnet hatte, erkennbar zu durch die kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei am 22. Februar, den Rückzug des sowjetischen Vertreters Sokolowski aus dem Alliierten Kontrollrat für Deutschland und den Beginn der sowjetischen Blockade Berlins am 26. Juni. Die französische Diplomatie war in all diese Entwicklungen intensiv eingebunden, konnte aber den Bruch zwischen Ost und West nicht verhindern. Dabei hatte man sich in Paris zuvor als Vermittler zwischen den Blöcken zu positionieren versucht, vor allem aus deutschlandpolitischem Interesse. Damit ist das zweite wichtige Problem angesprochen: die Deutsche Frage, der auch der Großteil der im vorliegenden Band abgedruckten Dokumente direkt oder indirekt gewidmet ist.
Auf der am 23. Februar 1948 begonnenen Sechs-Mächte-Konferenz in London mit den USA, Großbritannien und den Benelux-Staaten über Deutschland versuchte die französische Regierung zwar nicht, die sich abzeichnende Gründung eines deutschen Weststaates zu verhindern, doch sollte dieser möglichst dezentral organisiert werden. Das politische Gewicht sollte in den Teilstaaten liegen, wie Außenminister Georges Bidault dem Militärgouverneur in Deutschland, Marie-Pierre Koenig, erklärte: "Ces objectifs sont essentiellement la constitution d'une Allemagne largement décentralisée, dont les autorités centrales soient équilibrées par des autorités locales solidement établis." (Dok. Nr. 7) Dieses deutschlandpolitische Ziel ließ sich jedoch angesichts der anders gelagerten US-amerikanischen Interessen nicht realisieren. Längst beherrschte Washingtons Angst vor der Sowjetunion auch die Deutschlandpolitik. "L'important pour eux [sc. die US-Regierung, G.T.] est d'organiser et de redresser toutes les forces, où qu'elles se trouvent, en face de l'URSS", berichtete der politische Berater Koenigs am 20. Januar an Bidault (Dok. 49). Gleichzeitig nahm man in Paris wahr, dass auch die Beziehungen zur Sowjetunion schlechter wurden (Gespräch Catroux-Molotov am 11. Februar, Dok. 107). Angesichts dieser Situation wuchsen in der ersten Jahreshälfte in der Europa-Direktion des Außenministeriums die Zweifel an der Richtigkeit der französischen Deutschland-Politik. Der französische Einfluss auf Deutschland und Europa gehe zurück; Briten und Amerikaner seien die treibenden Kräfte, analysierte man in einer internen Aufzeichnung am 12. Januar. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht sei Frankreich auf die USA angewiesen. "Or notre état de faiblesse est patent", lautete das Résume (Dok. 28).
Insbesondere in der Europa-Abteilung des Quai d'Orsay entstanden unter diesem Eindruck der Schwäche neue Ideen für eine Deutschland- und Europapolitik, die den realen Machtverhältnissen besser angepasst waren. "Notre doctrine de sécurité envers l'Allemagne n'a pas varié depuis 1919", fasste eine interne Aufzeichnung vom 8. Mai 1948 zusammen (Dok. 328). Demgegenüber aber hätten sich, so die Analyse, die Rahmenbedingungen stark verändert. Zum einen gäbe es nun die dominierende Rolle der USA und der UdSSR, andererseits seien Deutschland und Frankreich, deren Wirtschafts- und Handelsbeziehungen durch den Versailler Vertrag erheblich gestört worden waren, enger zusammen gewachsen. Es gäbe eine "interdépendance et même (...) interpénétration croissante des économies nationales". (Dok. 328) Unter diesen Bedingungen schlugen die Beamten vor, die Deutschlandpolitik neu auszurichten. Westdeutschland, also die Bizone und die französische Zone, sollte wirtschaftlich und politisch stärker an Westeuropa gebunden werden. Dies sei umso nötiger, als auch von sowjetischer Seite versucht werde, eine Vereinigung Deutschlands herbeizuführen - allerdings unter kommunistischen Vorzeichen. Ein deutscher Nationalstaat aber sei nicht im französischen Sicherheitsinteresse. Um dies zu verhindern, sei eine Blockadepolitik allerdings ungeeignet, vielmehr müsse man der deutschen Bevölkerung ein Angebot machen, um sie zu gewinnen: "Nous devons nous borner à offrir aux Allemands une intégration dans l'organisation occidentale qui est en train de s'élaborer", schlug die Direction Europe (Allemagne) in einer weiteren internen Aufzeichnung am 21. Mai vor (Dok. 357). Hierbei könne die kommunistische Bedrohung Deutschlands hilfreich sein. Die westdeutsche Bevölkerung müsse für westliche Werte gewonnen werden.
Damit deutete sich in der ersten Jahreshälfte 1948 ein grundsätzlicher deutschlandpolitischer Kurswechsel Frankreichs an, dessen genauer Zuschnitt und konkrete Umsetzung allerdings noch vage blieben. Bemerkenswert sind allerdings Details: So wies die Aufzeichnung vom 8. Mai bereits darauf hin, dass der von der SPD unter Federführung Carlo Schmids entworfene Verfassungsentwurf Deutschland nicht nur den Regeln des internationalen Rechts unterwarf, sondern ausdrücklich auch einen partiellen Souveränitätstransfer an internationale Organisationen vorsah (Dok. 328). Auch der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher deutete im Gespräch mit dem französischen Botschaftsattaché Laloy am 17. Februar an, dass die Vergemeinschaftung der Ressourcen im Ruhrgebiet eine gute Grundlage für einen deutsch-französischen Ausgleich bilden könne (Dok. 117). Noch jedoch erschienen diese Visionen in der ersten Jahreshälfte 1948 als unrealistisch, weil sie weder in der französischen politischen Elite noch in der Öffentlichkeit Unterstützung fanden.
Insgesamt machen die hier veröffentlichten Dokumente deutlich, wie sehr die französische außenpolitische Elite durch die weltweite, aber auch durch innerfranzösische Entwicklungen unter Druck gesetzt wurde. Die Hinwendung zur supranationalen Europäischen Integration als Instrument zur Einbindung Deutschlands war kein Zeichen der Stärke, sondern war eine Reaktion auf die Erkenntnis der eigenen Schwächen im beginnenden Ost-West-Konflikt.
Guido Thiemeyer