Rezension über:

Jürgen Martschukat (Hg.): Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt/M.: Campus 2002, 287 S., ISBN 978-3-593-37114-6, EUR 34,90
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Rezension von:
Angelika Epple
Historisches Seminar, Universität Hamburg
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Angelika Epple: Rezension von: Jürgen Martschukat (Hg.): Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt/M.: Campus 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 1 [15.01.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/01/3176.html


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Jürgen Martschukat (Hg.): Geschichte schreiben mit Foucault

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Dass es Foucault auch lange nach seinem Tod in Deutschland und vor allem in der deutschen Historiographie nicht leicht hatte, ist spätestens seit Wehlers letztem Abwehrgefecht eine bekannte und ironischerweise zugleich überholte Tatsache. Nach einer Rekapitulation der schwierigen Beziehungsgeschichte schreibt der Herausgeber Jürgen Martschukat in der Einleitung des Sammelbandes zu Recht, die vehementen Abwehrgefechte der deutschen Geschichtsschreibung hätten über lange Zeit das überaus attraktive Angebot Foucaults an unser Fach verdeckt (15). Dies erstaune umso mehr, als es Foucault um die Historizität allen Seins und Denkens gegangen sei und er die Geschichte zur Königsdisziplin erhoben habe.

Gleichgültig, ob man diese Kurzcharakteristik des foucaultschen Werkes teilt, kann man sich mit dem Herausgeber der Vermutung Achim Landwehrs anschließen, dass eine diskursanalytische Untersuchung der Diskursanalyse möglicherweise zu dem Ergebnis führte, die Diskursanalyse sei selbst Teil des offiziellen Diskurses geworden (17). Dem Band ist es jedoch nicht darum zu tun, eine solche Diskursanalyse vorzunehmen. Stattdessen wird hier eine äußerst anregende Dokumentation möglicher Zugänge zu einer diskursanalytischen Praxis historischen Arbeitens geboten.

Nach einem ersten, eher theoretisch gehaltenen Kapitel über "Foucault, Geschichte und Gesellschaft" ordnen sich die insgesamt elf Aufsätze in drei weitere Kapitel: "Diskurs", "Macht", "Subjekt". Die Gliederung orientiert sich an dem bekannten Selbstkommentar Foucaults in "Der Gebrauch der Lüste" und wird von den Aufsätzen in produktiver Weise unterwandert: Der gemeinsame Nenner der Aufsätze könnte daher vielleicht lauten, dass sich die großen Themenbereiche Foucaults nur in ihrer jeweiligen Wechselwirkung untersuchen lassen: Wahrheit / Diskurs, Macht und Subjekt bleiben aufeinander verwiesen und bringen sich gegenseitig hervor.

Widmen wir uns den Aufsätzen im Einzelnen: Hannelore Bublitz hebt in ihrem Aufsatz "'Geheime Rasereien und Fieberstürme': Diskurstheoretisch-genealogische Betrachtungen zur Historie" hervor, dass im Zentrum des foucaultschen Denkens die Geschichte der Wahrheitsproduktion stehe (32). Geschichte mit Foucault zu schreiben heiße vor allem, genealogisch zu verfahren. In Rückgriff auf Foucaults Aufsatz "Nietzsche, die Genealogie, die Historie" (=NGH) führt sie prägnant aus, was ein solches Verfahren bedeutet: An die Stelle von Ontologien oder Wahrheiten setze es das Unvorhergesehene, Diskontinuierliche, die Bedingungen der Entstehung. Aufschlussreich sind Bublitz' Überlegungen, dass damit zugleich ein kontinuitätsstiftendes (das - historische - Apriori diskursiver Ordnungen) wie ein dynamisches Element (die Produktivität von Diskursen) von Geschichte angesprochen sei. Meines Erachtens geht sie damit bereits über NGH hinaus und findet einen (gelungenen!) Zusammenschluss von NGH mit Foucaults späteren Arbeiten, in denen der produktive Machtbegriff ausgearbeitet wird. Ihre weiteren Ausführungen zum Programm einer Genealogie sind nicht weniger überzeugend: Eben weil sich die Genealogie auf die Suche nach der Herkunft mache, dorthin, "wo sich Leib und Geschichte verschränken, wo die Geschichte den Körper durchdringt und an ihm 'nagt'" (39), nehme die Körpergeschichte einen exponierten Platz in der Rekonstruktion der Geschichte ein.

Ebenso gewinnbringend ist die Lektüre des Beitrags "'Erfahrungstiere' und 'Industriesoldaten': Marx und Foucault über das historische Denken, das Subjekt und die Geschichte der Gegenwart" von Ulrich Brieler. Hier wird das Produktionsverhältnis der beiden Autoren "in ein neues historisch-hermeneutisches Spiel" (44) gebracht. Brieler betreibt jedoch keine Foucault-Philologie, sondern sucht nach Gemeinsamkeiten beziehungsweise Ergänzungen des historischen Materialismus und der foucaultschen Diskursanalyse. Er findet sie in der geteilten Überzeugung der Historizität des Seins beziehungsweise in der komplementären Analyse der objektiven Strukturen (Marx) und deren subjektiver Korrelate (Foucault).

Den Abschluss des theoretischen ersten Teils bildet der Aufsatz von Susanne Krassmann, "Gouvernementalität: Zur Kontinuität der foucaultschen Analytik der Oberfläche". Krassmann geht neben dem für die Politikgeschichte produktiven Begriff der Gouvernementalität hier der Frage nach, warum Foucaults Analytik so attraktiv für historische Untersuchungen ist, wenn sie sich doch "jenseits von einem soziologischen Realismus und einem politisch-historischen Idealismus" bewegt (79).

In den folgenden Aufsätzen wird nun die Probe aufs Exempel gemacht. Wie lässt sich mit Foucault Geschichte schreiben? Während die theorieorientierten Beiträge ihre Qualität in einer stimmigen Foucault-Lektüre zeigen, beziehen sich die empirischen Beiträge unterschiedlich eng auf den Meister - Qualität zeigt sich weniger in der Intensität der Beziehung, sondern eher in den gewonnenen Ergebnissen. Deutlich wird, dass es weniger eine bestimmte Methode ist, die sich von Foucault auf die Geschichtsschreibung übertragen lässt, sondern dass vor allem seine Sichtweise auf das Zusammenspiel von Wahrheit, Macht und Subjekt die Fragen sowie die Untersuchungsgegenstände der Historikerzunft verändert hat. Entsprechend den Beiträge von Bublitz und Brieler steht im Zentrum der folgenden vier Aufsätze eine Geschichte der Körper. Martin Dinges führt das sich verändernd hervorbringende Wechselverhältnis von medizinischen Redeweisen über den Körper und die Empfindungsweise eines "Patienten" in einer genauen Quellenexegese vor. Jürgen Martschukat zeigt das Zusammenspiel gesellschaftlicher Redeweisen und Praktiken, indem er sich der Geschichte der Todesstrafe in den USA am Beispiel des elektrischen Stuhles zuwendet. Das angeblich schmerzfreie Töten geriet zu einem Gradmesser vermeintlichen zivilisatorischen Fortschritts. Maren Möhring versucht sich neben der genannten thematischen Verschiebung durch die Rezeption Foucaults auch an einer interessanten methodischen Erweiterung. Sie fragt nach der "historisch-spezifischen Konfiguration von Sicht- und Sagbarem" (168) in den Medien Bild und Text und zeigt dabei, wie ein normalisierender Blick in der Nacktkultur der Lebensreformbewegung über ein - auch in Worte gefasstes - Normalisierungswissen informieren kann.

Heiko Stoff analysiert das diskursive Umfeld der um 1900 von Sexualwissenschaftlern bestimmten Imperative: "Hab einen Orgasmus" und "Verhütet die Geburten unerwünschten Nachwuches". Stoff möchte mit seinen Ausführungen zeigen, dass einer konsumistischen (in Ergänzung zur foucaultschen produktiven) Bio-Macht neue Körper korrespondierten. Die an sich interessanten Überlegungen werfen allerdings viele Fragen auf, die in dem vielschichtigen Aufsatz unterzugehen drohen. Als Beispiel mag die quellenkritische Frage gelten, ob der Diskurs der Sexualwissenschaftler Aufschluss über die "Attraktivität dieser Subjektivierungen" (192) geben kann.

Den Reigen der Geschichtsschreibung mit Foucault schließen die letzten vier Aufsätze von Philipp Sarasin, Claudia Bruns, Olaf Stieglitz und Norbert Finzsch. Philipp Sarasin wendet sich in seinem Aufsatz gegen eine Verurteilung von Foucaults der Antike abgelesenes Konzept der "souci de soi" aufgrund historischer Unstimmigkeiten. Er zeigt stattdessen sowohl dessen Unhintergehbarkeit, sobald es als philosophisches Konzept gelesen wird, als auch dessen Defizite. Mit einem Rekurs auf Burckhardt und Nietzsche weist er auf Möglichkeiten hin, wie das Konzept über Foucault "hinaus getrieben werden müsste" (196). Auch bei Claudia Bruns weisen die theoretischen Überlegungen über die empirischen Ergebnisse hinaus. In einem sehr klar argumentierenden Aufsatz führt sie am Beispiel der "Maskulinisten" (219) um 1900 Aspekte einer Geschlechtergeschichte des Politischen aus, in der Macht jenseits binärer Oppositionen von Unterwerfung und Widerstand gefasst wird und andere Implikationen des foucaultschen Werkes produktiv werden. Im Rahmen einer neu gefassten Politikgeschichte bewegen sich auch die letzten zwei Aufsätze. Sie übertragen das Konzept des diskursiven Regierens und die Arbeit mit dem Begriff der Gouvernementalität aber auf die nordamerikanische Geschichte. Während sich Olaf Stieglitz mit einem an anderen Untersuchungen ausgefeilten analytischen Instrumentarium den Funktionen und dem Funktionieren denunziatorischen Verhaltens während der McCarthy-Ära widmet, erlaubt Norbert Finzsch Einblicke in die Dekonstruktion eines Gewebes (bevölkerungs-)politischer, wohlfahrtsstaatlicher Diskurse am Beispiel des angeblichen Verfalls der afroamerikanischen Familie. Deren geschlechtergeschichtliche und rassistische Argumentationen treten so deutlich zu Tage.

Am Ende der Lektüre steht der Eindruck, dass die dritte theoretische Verschiebung im Werk Foucaults in der Geschichtsschreibung nun ebenfalls angekommen ist. Vor allem bezüglich der historischen Untersuchungsfelder, die sich mit dem anspruchsvollen Konzept der "souci de soi" beziehungsweise der Gouvernementalität analysieren lassen, wurden hier neue Wege vorgeführt. Dass sich diese Wege äußerst individuell gestalten, ist ein Vorzug des Sammelbandes. Überzeugend und hilfreich für die eigene Arbeit sind vor allem die kritischen Weiterführungen des foucaultschen Theorieangebots. Philipp Sarasins Historisierung des "Hygienikers Foucault" besticht hier durch seine Originalität. Die Achillesverse eines jeden Sammelbandes ist auch hier nur halb verdeckt: Eine stärkere Konturierung der Kontroversen zwischen den Beiträgen, zumal sich die Mehrheit mit den genannten Konzepten auseinandersetzt, wäre wünschenswert gewesen. Immerhin: Die Autoren und Autorinnen zitieren sich gegenseitig.

Angelika Epple