Doris Gerber: Analytische Metaphysik der Geschichte. Handlungen, Geschichten und ihre Erklärung (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft; 2038), Frankfurt/M.: Suhrkamp Verlag 2012, 308 S., ISBN 978-3-518-29638-7, EUR 15,00
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Der Austausch zwischen Geschichte und Philosophie hat sich in den letzten Jahrzehnten auf ein Minimum reduziert. Seitdem der Geschichte kein "Sinn" mehr zugeschrieben wird und das Fortschrittsparadigma ausgedient hat, zeigen sich zum einen Philosophen äußerst zurückhaltend, wenn es um metaphysische Fragestellungen zum Begriff der Geschichte geht. Zum anderen fanden Historiker wie Reinhart Koselleck oder Heinz Dieter Kittsteiner in der deutschen Geschichtswissenschaft kaum Nachfolger. Sind die klassischen Fragen der Philosophie nach dem Begriff, dem Gang oder der Wahrheit der Geschichte obsolet geworden? Tatsächlich sind in der kulturwissenschaftlich inspirierten Geschichtswissenschaft diese Fragen spätestens seit Michel Foucaults "Archäologie des Wissens" von der Agenda verschwunden. Mit guten Gründen fragen Historiker stattdessen (so sie sich überhaupt für die Theorie ihres Faches interessieren) nach der Historisierung oder der Plausibilisierung von Wahrheitsstrategien, nach der Art und Weise, wie unser Verständnis der Geschichte von Geschichten, also von Erzählungen, bestimmt ist, und wie man mit dem Ende der Gültigkeit von Metanarrativen umgehen solle. Haben sich Geschichte und Philosophie nichts mehr zu sagen? Wie wichtig eine Verneinung der Frage ist, wenn eine theoretisch befriedigende geschichtswissenschaftliche Begriffsbildung gewünscht ist, zeigt die 2010 an der Tübinger Fakultät für Philosophie und Geschichtswissenschaft angenommene Habilitationsschrift von Doris Gerber.
In drei Großkapiteln führt sie erstens aus, warum der eigentliche Gegenstand der Geschichtswissenschaft die Erklärung von Handlungen ist und inwiefern die Intentionalität der Handlung eine Grundvoraussetzung ihrer Erklärung ist, zweitens erläutert sie, warum weder historische Ereignisse noch die Erklärung dieser Ereignisse durch Erzählungen konstruiert würden, sondern warum historische Erklärungen in den Eigenschaften der jeweiligen Ereignissen gründeten und schließlich drittens, warum soziale Strukturen durch Kollektivhandlungen hervorgebracht würden, und daher ebenfalls auf Intentionen beruhten und es den vermeintlichen Gegensatz zwischen Handlung und Struktur gar nicht gebe.
So erhellend ihre Ausführungen über weite Strecken sind, so gewinnbringend die Lektüre dieses glasklar argumentierenden Buches ist, so verwundert aus Sicht einer Historikerin Gerbers Verständnis eines historischen Realismus. Nach einer Rekonstruktion der wesentlichen Argumentation des Buches (I) möchte ich mich auf die Kritik am historischen Realismus konzentrieren: In dem (falschen) Bewusstsein den historischen mainstream in seinen Grundfesten zu erschüttern, wendet sich Gerber gegen narrativistische Positionen. Sie verknüpft diese Ablehnung mit ihrem Verständnis von Kausalität, die sie als eine Eigenschaft des Ereignisses und nicht als durch Erzählungen konstruierte einführt. Unabhängig vom "Ort" der Kausalität, kann diese Argumentation aus mehreren Gründen nicht überzeugen. Der schwächste Grund sei zuerst genannt: Erstens ist der Narrativismus in der Geschichtswissenschaft kein mainstream. Vielmehr herrscht nach wie vor die Überzeugung vor, Historiker müssten die vergangene Welt vor allem beschreiben und die Art und Weise, wie sie die Vergangenheit beschrieben, hätte keinen Einfluss auf die Verknüpfung der Ereignisse, sondern ergebe sich aus den Ereignissen selbst. Doris Gerber rennt, so meine Diagnose, bei vielen Kollegen eher offene als geschlossene Türen ein. Dies mag als peripherer Einwand gelten, ist aber insofern von Interesse als er ein wichtiges, aber implizites Anliegen des Buches offenlegt, das deutlich expliziter an die Geschichtswissenschaft hätte herangetragen werden können: M.E. lässt sich in der Geschichtswissenschaft der Trend beobachten, dass eine falsch verstandene, nämlich ausschließlich auf Regulariät beruhende Kausalität abgelehnt wird und sich in Folge die Geschichtswissenschaft zunehmend mit Beschreibungen begnügt. Zu Zeiten der "Historischen Sozialwissenschaft", deren argumentative Schwächen von Doris Gerber überzeugend dargestellt werden, war der explikative Anspruch aufgrund des Bezugs zur Soziologie deutlich höher. Eine Hinwendung zur Kulturwissenschaft muss aber nicht mit einem Rückzug auf Beschreibungen einhergehen. Die Lektüre von Doris Gerbers Buch verdeutlicht, dass Geschichtsschreibung Erklärungen für vergangenes Geschehen liefern soll. Kausalität ist nicht mit dem Auffinden von generalisierbaren Gesetzmäßigkeiten gleichzusetzen, sondern mit mehr oder weniger guten Erklärungen und nur diese machen Geschichtsschreibung zu einem wertvollen Unterfangen.
Mein zweiter Einwand zielt dagegen ins Zentrum der Gerber'schen Argumentation: Eine anspruchsvolle narrativistische Position, wie sie z.B. von Paul Ricoeur vertreten wird, geht nicht davon aus, Kausalität werde in der Erzählung konstruiert und sei nicht außerhalb der Erzählung zu finden. Nicht zufällig beschreibt Ricoeur in seinem Hauptwerk "Zeit und Erzählung" eine Bewegung, die er als dreifache Mimesis bezeichnet. Im Zentrum steht der Begriff der Nachahmung dessen, was uns zwar nur über die Erzählung beschreib- und erklärbar ist, was aber das Außerhalb der Erzählung re-konstruiert. In diesem Verhältnis zum Außerhalb der Erzählung sind auch die Wahrheitsgaranten von Geschichtsschreibung zu finden. Eine solche Auffassung steht immer schon im Gegensatz zu einem reinen Konstruktivismus. Eine überzeugende narrativistische Argumentation beharrt darauf, dass die spezifische Kausalität von historischen Ereignissen nur in einer Erzählung zu zeigen ist - und das heißt nicht, Kausalität würde in der Erzählung den Ereignissen hinzugefügt oder Kausalität würde in der Erzählung konstruiert (im Sinne von erfunden). Die Trennlinie zwischen fiktiven und historischen Erzählungen wird durch eine (ernstzunehmende) narrativistische Position gerade nicht in Frage gestellt, sie wird nur nicht durch die Ereignisse an sich, sondern durch die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Erkenntnis und Darstellung begründet. Diese Bedingungen erkennt sie in Erzählungen, ohne auf die Danto'sche Version verwiesen zu sein, derzufolge die Ereignisse selbst in einem narrativen Zusammenhang stünden.
I Rekonstruktion der Hauptargumente
Was die Lektüre des Buches über weite Strecken zu einem Genuss macht, ist die Klarheit der Argumentation, die auch für Nicht-Philosophinnen bis in die letzten Verästelungen verständlich gemacht wird. Doris Gerber kann erklären - eine nicht unwichtige Voraussetzung für das zentrale Anliegen ihres Buches. Im Zentrum stehen drei Thesen, die in drei Kapiteln abgehandelt werden.
Die erste These lautet, dass sich historische Erklärungen auf die Erklärung von Handlungen beziehen und dass diese Handlungen intentional sind. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei vorneweg geklärt, um was es Gerber mit dem Begriff der Intentionalität nicht geht. Sie plädiert nicht dafür, dass sich Historiker nunmehr mit den verborgenen oder offenen Absichten z.B. Wilhelms II. bei seiner Hunnenrede herumschlagen und dem Individuum eine völlig überdimensionierte Bedeutung zuschreiben sollten. Ihre Argumentation ist eine andere. Dass Handlungen intentional sind, ist die Ursache dafür, dass wir Handlungen überhaupt erklären können: Handlungen geschehen aus Gründen und sind daher nicht absichtslos. Wenn ich nach dem Salz greife und dabei versehentlich ein Glas Rotwein umwerfe, so tue ich das im Zweifel unabsichtlich, aber eben nicht absichtslos. Dass ich nach dem Salz gegriffen habe, ist somit die Erklärung für mein Umwerfen des Rotweinglases. Dass Handlungen nicht gewollte Nebenfolgen oder Wirkungen (Umwerfen des Rotweinglases) haben, ist daher kein Einwand gegen die grundlegende Intentionalität von Handlungen. Dass Handlungen nicht in ihren Intentionen aufgehen, muss, so Gerber, weder eigens betont werden (das sei eine alltägliche Trivialität), noch stellt es eine theoretische Herausforderung dar. Die Intentionalität und damit die Kausalität von Handlungen werden davon schlicht nicht tangiert. Mit dieser Argumentation kann Gerber in einer überzeugenden Passage Anthony Giddens' vermeintliche Überwindung des Struktur-Handlungsgegensatzes widerlegen.
Wenn also die nicht gewollten Nebenfolgen keine theoretische Herausforderung sind, was ist es dann? Das Schwierige an der Erklärung von Handlungen ist deren dreifache Kontextualisierung: erstens die Beziehung der Handlungsintention zu anderen zeitlich und kausal vorausgehenden Intentionen und anderen zeitlich und kausal vorausgehenden mentalen Zuständen, wie den Wünschen, Gefühlen oder Überzeugungen, zweitens die Beziehung zu externen Bedingungen, wie den zeitlich und kausal vorausgehenden Sachverhalten und Ereignissen. Diese beiden Kontextualisierungen sind die Bedingungen jeglichen Handelns und sie sind zunächst einmal unabhängig davon, ob der Handelnde diese Bedingungen erkennen, verstehen oder durchschauen kann. (174) Um historische Ereignisse erklären zu können, bedarf es schließlich drittens zusätzlich noch des historischen Kontextes. Historische Erklärungen beziehen sich zusätzlich auf zeitlich und kausal folgende Konsequenzen einer Handlung und dabei gehören zum Erkenntnisziel der Erklärungen sowohl die intendierten als auch die nicht intendierten kausalen Konsequenzen, (162f.) ja, es sind vor allem diese Konsequenzen, die in einer historischen Erklärung interessieren. Dies ist deshalb besonders zu betonen, weil Gerber einerseits auf einen historischen Realismus abhebt, aber sich gleichzeitig nicht der Erkenntnis verschließt, dass sich die historische Bedeutung eines historischen Ereignisses verändern kann. Darauf werde ich in meinen Einwänden gegen ihre Argumentation zurückkommen.
Wenn wir nun das obige Beispiel des umgeworfenen Glases weiter spinnen und davon ausgehen, dass der so produzierte Rotweinfleck zu einem Familienstreit und im Anschluss zu einer Ehescheidung geführt hätte, so könnte der ungeschickte Griff nach dem Salz in Anbetracht der späteren Entwicklung zu einer Ursache (freilich nicht der einzigen) einer Trennung geworden sein. Die historische Bedeutung einer Handlung, so lässt sich mit Gerber verallgemeinern, ändert sich, je nachdem was im Folgenden passiert. Nähme die Geschichte des Rotweinglases eine andere Wendung, und der Familienstreit führte zu einem reinigenden Gewitter in dessen Folge nicht mehr gestritten würde, dann könnte "gestern auch besser werden", um den auch von Gerber (allerdings in kritischer Absicht) zitierten Aufsatz von Jörn Rüsen hier einzubringen. So weit so gut. Nun aber macht Gerber den Schritt, der sie gegen eine narrativistische Position aufstellt. Wird durch die unterschiedliche Erzählung - Ursache für die Scheidung resp. Ursache für einen Ehefrieden - das Umwerfen des Rotweinglases zu einem anderen Ereignis? Gerber behauptet, Narrativisten würden diese Frage bejahen, tatsächlich müsse sie aber verneint werden.
Um die weitreichenden Folgen der Veränderbarkeit der historischen Bedeutung eines Ereignisses und mithin die historische Kontextualisierung verstehen zu können, ist es notwendig, das zweite Hauptkapitel des Buches, nämlich die analytische Metaphysik der Geschichte und somit die zweite Hauptthese zu rekonstruieren. Gerbers zweite These besteht darin, dass Geschichte notwendigerweise Möglichkeiten impliziert. Es gehört zum Begriff der Geschichte, dass die jeweilige Geschichte auch eine andere hätte sein können. Über den Begriff der Möglichkeit in Differenz zur Zufälligkeit bindet sie Geschichte respektive historische Ereignisse an Intentionen. Wenn historische Ereignisse an Entscheidungen (welche Möglichkeit realisiert wird) gebunden sind, setzen sie intentionale Fähigkeiten voraus. Historische Ereignisse, so ihre Schlussfolgerung, müssen daher Handlungsereignisse sein, (191f.) da nur diese mit intentionalen Fähigkeiten und der beabsichtigten kausalen Wirksamkeit verbunden sind. Auch wird Gerbers Präferenz eines historischen Realismus deutlich. Dass eine Geschichte Möglichkeiten impliziert, heißt nicht, dass diese Möglichkeiten auf Vorstellbarkeiten reduziert werden können, sondern diese Möglichkeiten sind von der zeitlich-kausalen Struktur der Ereignisse bestimmt.
Bevor ich meine Einwände ausführe, sei in aller Kürze die dritte Hauptthese des Buches erwähnt. Die metaphysische Argumentation über den Begriff der Geschichte und die reale kausale und zeitliche Struktur der Ereignisse wird im dritten Kapitel um eine ganz eigenständige Überlegung erweitert, derzufolge nicht nur individuelle Handlungen mit dem Erklärungsmodell des ersten Kapitels erläutert werden können, sondern auch kollektive. Interessant ist daran, dass Gerber damit den Gegensatz von Struktur und Handlung nicht überwinden, sondern gänzlich auflösen möchte. Zentral ist dabei der Gedanke, dass kollektive Handlungen zwar nicht auf die Summe von Individualhandlungen reduzierbar, aber dennoch intentional sind. Diesen Entwurf halte ich für bedenkenswert.
II Kritik des historischen Realismus - ein narrativistischer Einwand
Das Buch von Doris Gerber ist so reichhaltig, dass es eine ausführliche Diskussion, Fragen und Einwände in vielerlei Hinsicht rechtfertigen würde. Ich möchte mich hier auf einen Haupteinwand konzentrieren, der sich insbesondere auf das erste und zweite Hauptkapitel und den zugrundeliegenden historischen Realismus bezieht. Dass Gerber m. E. damit nicht gegen einen vermeintlichen mainstream der Geschichtswissenschaft anschreibt, habe ich bereits betont. Entscheidender ist jedoch ein anderer Einwand.
Nach meinem Verständnis ist die Erkenntnis, dass sich die historische Bedeutung eines Ereignisses ändern kann, nur der Ausgangspunkt narrativistischer Positionen, zumindest überzeugender narrativistischer Positionen. Die Frage, ob sich durch die historische Erzählung des Ereignisses dessen "Natur" oder nur dessen historische Bedeutung ändere, wird dann nicht trivial, wenn wir sie an weniger eindeutige Sachverhalte wie das unabsichtliche Umwerfen eines Rotweinglases knüpfen. Dies möchte ich am Beispiel des historischen Ereignisses "Industrielle Revolution" verdeutlichen. Eingebettet in den globalgeschichtlichen Zusammenhang und die Frage, wann die Auseinanderentwicklung zwischen Westeuropa und China bezüglich des wirtschaftlichen Wachstums und des Lebensstandards eingesetzt und an Fahrt aufgenommen hat, geht es in diesen Diskussionen auch darum, auf welches historische Ereignis wir uns beziehen, wenn wir von der "Industriellen Revolution" sprechen. Der Begriff der Revolution ist selbst schon von einem narrativen Muster bestimmt. Ohne an dieser Stelle in die Tiefe zu gehen, wird sofort klar, dass es ein Begriff ist, dessen Bedeutung an den Interpretationen der Französischen Revolution orientiert ist und der einen radikalen Bruch, eine rasante Aufwärtsbewegung, Konflikt und Auseinandersetzung zwischen neuer und alter Ordnung impliziert. Der Begriff "Revolution" ist also eine verkürzte Deutungsfolie, in meiner Terminologie ein Erzählmuster. Wenn die Wirtschaftsgeschichte herausfindet, dass von einer "Industriellen Revolution" keine Rede sein kann, sondern dass eher der Begriff eines langsamen Wachstums in bestimmten, eng umgrenzten englischen Regionen und manchen anderen Zentren Europas angemessen wäre, und dass dieses Wachstum ins Verhältnis mit einer De-Industrialisierung anderer, kolonial abhängiger Weltregionen gesetzt werden müsste, was bliebe dann von dem historischen Ereignis "Industrielle Revolution" übrig?
Vermutlich würde Doris Gerber einräumen, dass die Beschreibung der Entwicklung als "Industrielle Revolution" eben falsch sei, dies aber die tatsächlichen historischen Ereignisse unberührt ließe. Der falsche, unangemessene Begriff "Industrielle Revolution" beweise vielmehr, dass die Kausalität in den realen historischen Ereignissen liege, sonst könnte nämlich deren Beschreibung nicht wahr oder falsch sein. Damit hat sie recht und unrecht zugleich. Tatsächlich ist der Begriff "Industrielle Revolution" zurückzuweisen, weil er die historischen Ereignisse nicht zutreffend beschreibt (und erklärt). Aber, der Ersatz "regional begrenztes, langsames wirtschaftliches Wachstum bei gleichzeitiger globaler Asymmetrie" ersetzt den Begriff "Industrielle Revolution" nur durch eine andere Kurzerzählung. Wir kommen also bei den tatsächlichen historischen Ereignissen nie an. Wir können uns über die realen Ereignisse nicht austauschen, es sei denn wir erzählen Geschichten und diskutieren deren Plausibilität. Die Plausibilitätskriterien finden wir freilich nicht innerhalb der Geschichten, sondern in der Art und Weise, wie wir auf die uns nicht direkt zugänglichen tatsächlichen realen Ereignisse Bezug nehmen. Sehen wir von Positionen, wie sie von Frank Ankersmit oder von Hayden White in seinen frühen Arbeiten vertreten werden, einmal ab, argumentieren Narrativisten eben nicht allesamt kontrafaktisch oder konstruktivistisch und sprechen einer Realität außerhalb der Erzählung die Existenz nicht notwendigerweise ab.
Vielleicht könnte man diesen Widerspruch zwischen Gerber und einer narrativistischen Position auflösen, wenn man ihr konzidierte, es sei eine philosophisch nicht überzeugende Verkürzung, wenn Narrativisten behaupten, die Ereignisse erhielten "nur" durch die Erzählung ihre Bedeutung. Solche Formulierungen sind tatsächlich missverständlich und kassieren die ausführlichere Argumentation, derzufolge uns der kausal-zeitliche Zusammenhang der realen Ereignisse nur über Erzählungen zugänglich und darstellbar ist. Gerber müsste im Gegenzug ihren Kollegen aus der Geschichtswissenschaft erläutern, was genau sie mit "real" meint, wenn sie betont, ihr gehe es darum, die historische Bedeutung als reale Eigenschaft von historischen Ereignissen zu bestimmen. (181) Wie kann sie über ein reales Ereignis sprechen, wenn es sich über seinen kausal-zeitlichen Zusammenhang auszeichnet, ohne davon zu erzählen?
Noch schwieriger scheint mir der Brückenschlag bezüglich einer weiteren Erkenntnis der Narrativisten, die über die Einsicht, dass sich die Bedeutungen von Ereignissen ändern, hinausgeht. Dazu möchte ich zu dem einfacheren alltäglichen Beispiel des verschütteten Rotweinglases zurückkommen (auch wenn dies sicherlich kein historisches Ereignis im engeren Sinne darstellt). Würde eine Historikerin die Geschichte mit dem Salz und dem Wein erforschen, dann könnte sie dies als Familienforscherin tun und es auf Geschlechterverhältnisse und die Arbeitsteilung bezüglich des Erzeugens und Reinigens von Flecken beziehen. Sie könnte jedoch auch eine sozialgeschichtliche Konsumforschung betreiben. Dann ergäbe sich eine ganz andere Rekonstruktion der Handlung. Spielte diese Geschichte z.B. in der Frühen Neuzeit, dann wäre in dem lässigen Greifen nach dem Salz eventuell zu erkennen, dass es sich um ein luxuriöse Mahl gehandelt haben muss und die vermeintliche Ungeschicklichkeit Ausdruck eines bestimmten sorglosen Habitus war. Der Habitus verdeutlichte, wie wenig achtsam die Person mit teurem Wein umgehen konnte, zumal ein anderes Luxusgut (Salz) ebenfalls zu Händen war. Kurz, die Sozialhistorikerin oder der Konsumforscher käme angesichts der Tischszene zu völlig anders gearteten Erkenntnissen und damit auch zu anderen Erklärungen. War das Umwerfen eine Ungeschicklichkeit oder war sie eine Habitus-bestimmte Unachtsamkeit? Würde sich eine Wissenschaftsforscherin an die Analyse der Szene machen, könnte sie vielleicht herausfinden, dass ein Mediziner das Umwerfen des Rotweinglases beobachtete und im Anschluss die Bedeutung des Rotweins für die frühneuzeitliche Humoralpathologie überdacht werden musste. Diese beliebig erweiterbaren Beispiele sind sicherlich kein Einspruch gegen die Intentionalität von Handlungen, aber sie sind Ausdruck der Reflexion darauf, dass Handlungen nur innerhalb bestimmter Erzählungen oder, anders ausgedrückt, in Bezug auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse, ihre spezifische historische Bedeutung erhalten. Auch hier gilt es Missverständnisse zu vermeiden: "erhalten" soll nicht heißen, die Bedeutung wird den Ereignissen durch die Erzählung hinzugefügt. Sondern ich möchte die Überzeugung festhalten, dass die Perspektive, unter der wir auf die historischen Ereignisse schauen, mitbestimmt, was wir als kausalen Zusammenhang erkennen und was wir in der Erzählung als solchen (re-)konstruieren.
Dies ist die Pointe eines ambitionierten, d.h. nicht radikal-konstruktivistischen Narrativismus, und diese Pointe entgeht Doris Gerber. Einmal ganz unabhängig davon, ob man diesen narrativ gewendeten transzendentalen Schritt mitmacht oder nicht, als Historikerin kann ich nicht verstehen, warum Doris Gerber dem Ereignis einen Status zuschreibt, der es unabhängig von den Bedingungen der Möglichkeit seiner Erkenntnis machen soll. Das historische Geschehen, so Gerber, ist ein reales Geschehen, das eindeutig bestimmt ist, unabhängig davon, was wir darüber wissen oder glauben. (z.B. 198) Dabei würde sich doch gerade eine narrativistische Position wunderbar mit Gerbers kontrafaktischen Verständnis von Kausalität vereinen und, wenn sie die Bedeutung des Erkenntnisinteresses für die Erklärung des Ereignisses mit in ihre Überlegungen aufnähme, auch noch überzeugend erweitern lassen. All dies wäre gerade kein Einspruch gegen ihre These, dass es ein reales Ereignis mit realen Eigenschaften gäbe, und dass diese Eigenschaften das Ereignis in die Lage versetzten, eine Geschichte hervorzubringen.
Was sich an der Diskussion nur eines Kritikpunktes zeigt, ist Folgendes: Doris Gerber ist ein ausgezeichnetes, im besten Sinne provokantes, klar argumentierendes Buch gelungen. Dass sie zu wenig reflektiert, wie wir den (real-existierenden) kausal-zeitlichen Zusammenhangs historischer Ereignisse erkennen können und wie unsere Erkenntnis dieses Zusammenhangs von unserem Erkenntnisinteresse respektive unserer jeweiligen Perspektive beeinflusst ist, ist auch der Tatsache geschuldet, dass sie die Geschichtswissenschaft auf die deutsche (!) "Historische Sozialwissenschaft" und "narratologische Positionen" der 1980er und 1990er Jahre reduziert. Aktuellere kultur- oder globalgeschichtliche Ansätze hätten ihr die Problematik besser verdeutlicht. Zu gerne hätte ich ihre Antworten auf diese Herausforderungen gelesen.
Angelika Epple