Rezension über:

Stuart E. Eizenstat: Unvollkommene Gerechtigkeit. Der Streit um die Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit und Enteignung. Aus dem Amerikanischen von Helmut Ettinger und Holger Fließbach. Vorwort von Elie Wiesel, München: C. Bertelsmann 2003, 477 S., ISBN 978-3-570-00680-1, EUR 24,90
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Susanne-Sophia Spiliotis: Verantwortung und Rechtsfrieden. Die Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2003, 315 S., ISBN 978-3-596-16044-0, EUR 13,90
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Rezension von:
Tobias Winstel
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Empfohlene Zitierweise:
Tobias Winstel: Der Streit um die Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit und Enteignung (Rezension), in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 1 [15.01.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/01/4804.html


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Der Streit um die Entschädigung der Opfer von Zwangsarbeit und Enteignung

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Weniger der Inhalt als der Umschlag des Buches führte in der Schweiz zu einem mittleren Skandal: Eine Verbindung von Schweizer Kreuz und Hakenkreuz in Goldbarren zierte den Umschlag der Studie von Stuart E. Eizenstat, dem Chefunterhändler der US-Regierung bei den Sammelklagen von ehemaligen Zwangsarbeitern und anderen NS-Opfern gegen Schweizer Banken, Versicherungen und die deutsche Industrie. Dem Autor sollte sogar der Prozess gemacht werden, weil er damit nach Meinung empörter Eidgenossen gegen das Wappenschutzgesetz verstoßen habe. Auch wenn nur die amerikanische und nicht die deutsche Ausgabe mit diesem provozierenden Umschlag vertrieben wird, hat es den Anschein, als erregten inzwischen derartige Fragen die Gemüter wesentlich mehr als der eigentliche Kern der Diskussion: die Frage nach Rückerstattung und Entschädigung.

Inzwischen haben sich die Fronten weitgehend geklärt, die rechtlichen Entscheidungen sind nach langen Diskussionen gefällt, und Meldungen über die Höhe der Auszahlungen, über Verzögerungen und Schwierigkeiten bei der Verteilung der Gelder schaffen es allenfalls noch in die hinteren Seiten der Tageszeitungen. Nun kann man sich nüchterner mit den Büchern von Stuart E. Eizenstat und Susanne Sophia Spiliotis, einer Mitarbeiterin der "Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft", auseinander setzen. Diese haben es sich zur Aufgabe gemacht haben, die wichtigen internationalen Verhandlungen über Wiedergutmachung von NS-Unrecht in den 1990er Jahren, die als "Schweizer Banken-Abkommen" und "Zwangsarbeiterverhandlungen" bekannt geworden sind, zu beschreiben und zu erklären.

Für die Geschichte der Wiedergutmachung, deren internationale Dimension die Historiker erst in den letzten Jahren in den Blick genommen haben, ist es eine glückliche Fügung, dass zwei jeweils ganz anders organisierte Darstellungen zum gleichen Ereignis vorliegen. Obwohl sie in ihrer Form unterschiedlicher kaum sein könnten, sind sich die Autoren doch in einigen Punkten völlig einig. Das gilt vor allem für ihre grundsätzlich positive Gesamtbeurteilung der Zwangsarbeiterentschädigung in der Bundesrepublik. Sowohl Eizenstats als auch Spiliotis' Tenor lautet einhellig, dass die vielen unangenehmen Nebengeräusche der Wiedergutmachungsverhandlungen auf beiden Verhandlungsseiten der Sache zwar nicht angemessen, aber doch nützlich waren. Das Ziel, die vermeintlich letzten "vergessenen" NS-Opfer zu entschädigen, konnte erreicht werden.

Dabei setzt der amerikanische Chefunterhändler, der bereits seit Jahrzehnten in verschiedenen zentralen Funktionen für die US-Regierung im Einsatz ist, mit seiner Darstellung einen entscheidenden Schritt früher ein als Spiliotis: Ausführlich schildert er den zwischen dem Jüdischen Weltkongress und den amerikanischen Opferanwälten ausgehandelten Vergleich mit den Schweizer Banken. Zentraler Streitpunkt dabei war die Auseinandersetzung über die Rückerstattung nachrichtenloser jüdischer Vermögen, die 1945 von den Schweizer Versicherungen und Banken zurückbehalten worden waren. Für alle Beteiligten der späteren Zwangsarbeiterverhandlungen, auch für Eizenstat selbst, können die Schweizer Erfahrungen kaum hoch genug eingeschätzt werden. Sie dienten gleichsam als abschreckendes Beispiel für den defensiven Umgang mit der NS-Vergangenheit; im Vergleich damit können die Auseinandersetzungen um die Zwangsarbeiterentschädigung in Deutschland und Österreich nachgerade unproblematisch erscheinen. Susanne-Sophia Spiliotis beschränkt sich auf eben diese Verhandlungen zwischen der deutschen Industrie, der amerikanischen und deutschen Regierung und vor allem den Opferanwälten. Damit kann sie sich zwar stärker auf die Zwangsarbeiterfrage konzentrieren, sie vernachlässigt aber einen ganz entscheidenden Punkt: Die Entschädigungsverhandlungen am Ende des letzten Jahrhunderts stehen in einer Entwicklung von Wiedergutmachungsforderungen, die nicht mehr individuell oder bilateral, sondern vor dem Tribunal einer Weltöffentlichkeit ausgetragen werden.

Zwar nähern sich beide Autoren dem Thema aus entgegengesetzten Richtungen - Eizenstat von der Seite der Anspruchssteller, Spiliotis von der Seite der zur Wiedergutmachung Verpflichteten -, doch kommen sie in einigen Bewertungen auch im Detail zu ganz ähnlichen Ergebnissen: So schildern beispielsweise beide die Sammelklagen als eine neue Form der rechtlichen Durchsetzung politisch-moralischer Ziele. Allerdings sieht Eizenstat in dieser dem deutschen Rechtsverständnis so fremden Methode der so genannten "Class Actions" eher Chancen als Risiken. Aus seiner Sicht sind sie zwar nicht immer fair, aber dennoch unersetzlich für die Benennung von blinden historischen Flecken, die von Staaten, Gesellschaften und Gesetzgebern bis dato bewusst oder unbewusst hingenommen wurden. Auch Spiliotis erkennt darin den Trend, "Gerichte als Instrumente des sozialen und politischen Wandels einzusetzen" (201). Im Stile eines historischen Nachschlagewerks erläutert sie dem Leser, was die geschichtlichen Wurzeln der Sammelklagen sind und in welchen Fällen sie angewandt werden. Jedoch kann sie sich in ihrer stets abwägenden Darstellung nicht dazu durchringen, die "Class Actions" als Mittel zum Zweck entweder gutzuheißen oder eben, wie das manche Kritiker tun, als "Klägerdiplomatie" zu verdammen.

Hier zeigen sich die größten Unterschiede zwischen den beiden Büchern. Die Historikerin liefert gewissermaßen die zuverlässige, quellenmäßig gut gestützte Gegenüberlieferung zu Eizenstats fulminanter, sehr subjektiven Darstellung. Dabei gibt sie dem Leser mit ihrer präzisen Zusammenfassung, den erläuternden Erklärungen zu einzelnen Stichworten, der ausführlichen Chronologie und dem Quellenapparat einige nützliche Instrumente an die Hand. Eizenstat ist dagegen kein Wissenschaftler, der sich um ausgewogene Urteile bemüht und möglichst neutral erscheinen will. Er verteilt Lob und Tadel nach allen Seiten - und versteigt sich dabei zu manchen eigentümlichen Bewertungen. So mag ihm wahrscheinlich nicht jeder folgen, wenn er etwa "Lambsdorffs tief zerfurchtes Gesicht [...] als Sinnbild für den schwierigen Übergang Deutschlands vom Pariastatus zur geachteten Demokratie" sieht. (300) Gleichzeitig ist es wohl übertrieben, dem Vertreter der deutschen Industrie und damit seinem "Gegenspieler", Manfred Gentz, beinahe jeden guten Willen zu einer gütlichen Einigung im Sinne der Zwangsarbeiter abzusprechen. Solche pauschalen Urteile bzw. Verurteilungen sind eine Schwäche des Buches, machen zugleich aber auch seine unübersehbaren Vorteile aus: Eizenstat nennt die nicht immer hochmoralischen Motive aller an den Verhandlungen beteiligten Parteien stets beim Namen.

Als erfahrener Unterhändler schrecken ihn weder wirtschaftliche noch politische Interessen, auch wenn es um Wiedergutmachung für NS-Unrecht geht; so erfährt man von ihm erstmals mehr über die vermeintlich unseriösen und profitgierigen Opferanwälte - ein Thema, das die bisherige Forschung zur Wiedergutmachung überraschend wenig beleuchtet hat. Die US-Anwälte wurden von ihren Schweizer und deutschen Gegenspielern und der dortigen Öffentlichkeit massiv angegriffen. Auch Eizenstat sieht im Vorgehen dieser "Spielertypen" (103) manches als problematisch an. Im politischen Epizentrum der USA, Washington, gibt es laut Eizenstat mehr Anwälte als in ganz Japan; viele warten nur darauf, Sammelklagen als juristische Plattform dafür nutzen, politisch brisante Themen aufs Tapet zu bringen. Dabei hätten die meisten Anwälte nicht das Ziel verfolgt, "historische Wahrheit" herauszufinden; ihnen ging es nur ums Geld. (104) Allerdings vergisst er nicht, darauf hinzuweisen, dass ohne die Anwälte die Opfer nie und nimmer zu ihrem Recht gekommen wären. So argumentiert er wie sie vom Ergebnis her, und da gibt es für ihn keinen Zweifel: Der Zweck heiligt die Mittel. Dementsprechend legt er natürlich den Finger auch in die Wunde der deutschen Stiftungsinitiative: Sie sprach von einer freiwilligen moralischen Geste, tat letztlich aber auch nur das, "was von Konzernen erwartet wird: Sie handelten im Interesse ihrer Aktionäre." (425)

Auch Spiliotis blendet die deutschen innenpolitischen und wirtschaftlichen Hintergründe der Verhandlungen und die internen Zwänge der Stiftungsinitiative nicht aus. Eindringlich schildert sie, wie mühsam der Versuch war, aus einer vergleichsweise kleinen Initiative so etwas wie eine gesamtmoralische Verpflichtung der deutschen Wirtschaft herzustellen. Hinter den dürren Zahlen, die sie sorgsam auswertet, läassen sich die Unterschiede des Anteilsverhältnisses bei der Finanzierung erkennen: Nur 4,1% der Firmen trugen 93,6% des Gesamtbeitrags an den 5 Mrd. DM, dessen restliche 6,4% sich auf die übrigen 95,9% der Firmen verteilten (187); das verweist zum einen auf die mangelnde Zahlungsmoral einiger Firmen vor und nach den Berliner Abkommen und ihre Versuche, sich durch juristische Winkelzüge den Entschädigungsforderungen zu entziehen; zum anderen zeigt es, dass nach Abschluss der Abkommen immer mehr mittlere und kleine Firmen hinzukamen und sich diese Eigentümerstruktur (z.B. Familienunternehmen) "in der freieren Interpretation dessen niederschlug, was als freiwillig, solidarisch und zugleich mit den ökonomischen Belangen des Unternehmens vereinbar galt." (188)

Leider geht Spiliotis mit ihrer kritischen Analyse nicht so weit, das grundsätzliche Dilemma zu benennen, in dem die deutsche Wirtschaft bis zum Ende der Verhandlungen steckte: Die Firmen wollten einerseits Rechtssicherheit, andererseits aber zu keinem Zeitpunkt einen Rechtsanspruch der Zwangsarbeiter akzeptieren. Stattdessen beharrten sie auf der angeblichen "Freiwilligkeit" der Zahlungen, von denen natürlich spätestens seit dem Auftreten der Anwälte auf der Bühne der Verhandlungen keine Rede mehr sein konnte. Spiliotis setzt sich mit diesem Widerspruch nicht auseinander; in ihren Augen resultiert das Problem aus einer Kollision zwischen dem rechtstechnischem und dem moralischem Verständnis des Begriffs "Anspruch". (47)

So erscheint Eizenstats Buch insgesamt überzeugender, obwohl - oder gerade weil - er die Verhandlungen bewusst subjektiv als Akteur schildert und er sich nicht um eine ausgewogene Darstellung bemüht. Spiliotis versucht dagegen, den Anschein einer einseitigen, offiziösen Auftragsarbeit zu vermeiden, und bleibt damit über weite Strecken angestrengt und bemüht. Trotzdem ist es nicht angebracht, ihre Darstellung - wie das verschiedentlich geschah - als pauschal parteilich abzutun. Eher könnte man diesen Vorwurf, so man das als solchen ansieht, an Eizenstat richten.

Jedenfalls liegen mit den beiden Büchern dieser so unterschiedlichen Autoren zwei Nahaufnahmen der jüngsten internationalen Wiedergutmachungsverhandlungen vor, die für die historische Forschung von unterschiedlichem Nutzen sind: Spiliotis' historisch-wissenschaftliche Analyse hilft dabei, die komplizierten Zwangsarbeiterverhandlungen Schritt für Schritt nachzuvollziehen. Für das Verstehen der unterschiedlichen Interessen und Entwicklungen aber, die hinter diesen Ereignissen stehen, wird Eizenstats Buch künftig unentbehrlich sein.

Tobias Winstel