Constantin Goschler: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945 (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 111), Göttingen: Wallstein 2005, 543 S., ISBN 978-3-89244-868-6, EUR 38,00
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Bereits wenige Jahre nach dem Krieg konnte man in Ministerien, Behörden und Gerichten über die Wiedergutmachung von NS-Unrecht hören, sie sei ein "auslaufendes Rechtsgebiet". Dahinter stand freilich weniger eine realistische Einschätzung als der Wunsch, diese als unangenehm empfundene Aufgabe möglichst rasch wieder loswerden zu können. Als dann zwei Jahrzehnte später, in den 1960er-Jahren, immer noch kein Ende absehbar war und permanent neue Forderungen nach Rückerstattungs- und Entschädigungsleistungen aufkamen, verabschiedete der Bundestag 1965 ein so genanntes "Bundesentschädigungsschlussgesetz". Mit diesem Namen beschwor der Gesetzgeber geradezu das Ende der Wiedergutmachung, doch auch zu diesem Zeitpunkt war an einen wirklichen Abschluss nicht zu denken. Mit dem stetigen Zuwachs an Wissen über Verfolgung und Unrecht in der NS-Zeit, mit wechselnden innen- und außenpolitischen Machtverhältnissen, mit dem Zugewinn an öffentlichem Interesse und Anerkennung für die Opfer blieb das Thema stets aktuell, wenngleich von der Öffentlichkeit meist unbemerkt. So könnte man zentrale Aspekte der Geschichte Deutschlands seit 1945 auch im Modus der Wiedergutmachungsgeschichte schreiben. Und genau das hat Constantin Goschler in seinem jüngsten Buch "Schuld und Schulden" getan.
Er berührt dabei drei wesentliche Forschungsdimensionen, indem er die Wiedergutmachung erstens als politischen Diskurs, zweitens im Zusammenhang mit der Diktaturfolgenbewältigung und drittens als Element der Zukunftsgestaltung analysiert. Dementsprechend umfangreich ist sein Untersuchungsgegenstand, und die Spannweite seiner Darstellung reicht vom Kriegsende und der Teilung Deutschlands bis zur Wiedervereinigung und darüber hinaus, von den noch im Jahr 1945 einsetzenden praktischen Hilfsmaßnahmen für NS-Verfolgte und Holocaust-Überlebende bis hin zu den Sammelklagen der 1990er-Jahre, von bereits im Krieg von jüdischen Emigranten angestellten ersten Überlegungen zur Entschädigung bis hin zum globalisierten Wiedergutmachungsdiskurs unserer Tage. In den Griff bekommt Goschler dieses anspruchsvolle Programm mithilfe einer chronologischen Gliederung, in die er systematische Querschnitte einfügt. So enthält das Buch sieben große Teile, deren Abgrenzung sowohl dem Rhythmus der Wiedergutmachungsgesetzgebung als auch weltpolitischen Zäsuren folgt. Ein Kapitel hat Goschler für die Geschichte der Wiedergutmachung in der DDR reserviert; dass dieser Teil im Buch nur 50 Seiten einnimmt, hat dabei nicht etwa mit einem einseitigen Blick des Autors auf die deutsche Geschichte zu tun, sondern spiegelt schlichtweg Umfang und Relevanz der Wiedergutmachung in Ostdeutschland wider. Gleichzeitig denkt und schreibt Goschler die DDR gewissermaßen in der gesamten Abhandlung mit. Das heißt, wo Ostberlins Haltung für die Wiedergutmachungspolitik der Bundesrepublik relevant wurde, kommt sie auch in der Studie vor.
Mit seiner Gesamtdarstellung legt Goschler viele wichtige Beobachtungen offen, von denen hier nur eine beispielhaft genannt sei: Schon bei einem flüchtigen Blick in das Inhaltsverzeichnis fällt die internationale Dimension der Thematik ins Auge. Da die NS-Verfolgung nicht nur zivilisatorische, sondern auch nationale Grenzen überschritt und die Opfer in der ganzen Welt verstreut waren, handelte es sich schon beim Ausgangspunkt - gewissermaßen bei der Vorgeschichte der Wiedergutmachung - um alles andere als eine rein deutsche Angelegenheit. Folgerichtig erzählt Goschlers Wiedergutmachungsstudie viel darüber, dass Deutschland seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs stark in internationalen Bezügen verankert ist. So genannte Non-governmental Organizations (NGO) beispielsweise waren in der Wiedergutmachung bereits unmittelbar nach 1945 bedeutsame Akteure und behielten diese Rolle bis heute. So trugen etwa die Claims Conference und die United Restitution Organization (URO) - um zwei besonders bedeutsame Beispiele zu nennen - wesentlich dazu bei, dass seit den ersten rückerstattungs- und entschädigungsrechtlichen Gesetzen der 1940er-Jahre bis hin zur Zwangsarbeiterstiftung des Jahres 2000 die Rechte von Individuen gegenüber ausländischen Staaten immer mehr gestärkt wurden. Der Autor sieht diese sich "mit der teilweisen Verschiebung in den amerikanischen Kontext anbahnende 'Waffengleichheit' in der politischen und rechtlichen Auseinandersetzung zwischen Tätergesellschaften und Verfolgten" jedoch nicht unkritisch. Denn so, folgert Goschler, wurden "amerikanische Moralpolitik ebenso wie das Interesse einzelner Anwälte und Politiker an Erfolgshonoraren und Wiederwahl zu wichtigen Faktoren" (483) der Wiedergutmachung.
Dass sich in "Schuld und Schulden" solche höchst aufschlussreichen diachronen Aussagen ebenso finden wie detailreiche synchrone Ereignisdarstellungen, hat sicher mit der besonderen Expertise des Autors zu tun. Das Buch stellt das Ergebnis von zehn Jahren Forschungsarbeit und die Synthese von ca. 1.500 Druckseiten dar, die Constantin Goschler im Laufe dieser Zeit als Autor oder Herausgeber zum Thema Wiedergutmachung veröffentlicht hat. Darüber hinaus ist in diesem Buch auch einiges Neues über die Geschichte von Rückerstattung und Entschädigung zu erfahren, insbesondere was die Zeit nach der Wiedervereinigung angeht. So liegt mit Goschlers jüngster Wiedergutmachungsstudie nun eine sehr gut geschriebene Gesamtdarstellung mit hohem Durchdringungsgrad vor.
Leider löst er jedoch sein Vorhaben, "eine kulturhistorisch sensibilisierte Politikgeschichte der Wiedergutmachung" (28) zu schreiben, nur an manchen Stellen ein. So gibt es für wichtige Fragen wie etwa der nach der Sprache der Wiedergutmachung in seiner Darstellung nur wenig Raum. Auch betont er gleich zu Beginn, bei der Untersuchung gehe es "nicht nur um die Ergebnisse, sondern vor allem auch um den Prozess selbst." (8) Doch geht er beispielsweise der Problematik, was Rückerstattung und Entschädigung im Leben der Opfer bedeuten konnte, kaum nach. Auch die Gruppe der Wiedergutmachungsbefürworter, die es auch in Deutschland in Regierungen und Behörden, in Verbänden und Organisationen gab, findet bei ihm zwar häufig Erwähnung. Diese "Aktivposten", wie Goschler sie nennt, werden dem Leser jedoch nur funktional vorgestellt. Ihre Biografien, wenn man so will: die Gesichter der Wiedergutmachung, erhalten keine wirklichen Konturen. Natürlich sind derlei Einwände leicht mit dem Hinweis darauf zu entkräften, dass es sich bei "Schuld und Schulden" eben um eine Gesamtdarstellung handelt, die unmöglich alle denkbaren Aspekte ausführlich behandeln kann. Daher vermerkt Goschler am Schluss selbst, es sei nötig, nunmehr "den Blick auf die Praxis der Wiedergutmachung zu lenken", wo "noch umfangreiche Forschungsaufgaben" warten (475). Damit hat er zweifelsohne Recht; doch verwundert ein wenig, dass ein Autor, der wohl als der beste Kenner der deutschen Wiedergutmachungsgeschichte gelten kann, bereits vorliegende Forschungsbeiträge zu dieser Frage offensichtlich nicht zur Kenntnis genommen hat. [1]
Solche Einwände schmälern den offensichtlich großen Nutzen von Goschlers Buch indes nur wenig. So ist die Lektüre dem Wiedergutmachungsforscher ebenso wie dem historisch interessierten Laien empfohlen. Gerade in letzterer Hinsicht sind die nach jedem großen Kapitel eingefügten und hervorragend geschriebenen "Zwischenbilanzen" hilfreich. Zudem hebt sich der Autor mit seiner differenzierten Betrachtungsweise wohltuend ab von all jenen, die in ihren Beiträgen ein allzu schnelles Urteil über die deutsche Wiedergutmachung fällen: Die "Frage nach Erfolg und Misserfolg, von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit der Wiedergutmachung" stellt sich für Constantin Goschler nicht einfach, sondern "immer wieder neu und anders" (483 f.). Am Ende seines Buches stellt Goschler die Frage: "Hat sich dieses ganze Unternehmen eigentlich gelohnt?" (477) Gemeint ist damit die Wiedergutmachung, und die Antwort darauf soll hier nicht verraten werden. Nur eines kann mit Sicherheit gesagt werden: Die Arbeit, die sich Constantin Goschler damit gemacht hat, sein umfangreiches Wissen zur Wiedergutmachung noch einmal zusammenzufassen, hat sich in jedem Fall gelohnt.
Anmerkung:
[1] Etwa die Studie von Heiko Scharffenberg, Sieg der Sparsamkeit. Die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Schleswig-Holstein, Gütersloh 2003 oder Katharina van Bebber, Wiedergutgemacht? Die Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung nach dem Bundesergänzungsgesetz durch die Entschädigungsgerichte im OLG-Bezirk Hamm, Berlin 2001 sowie Susanne zur Nieden, Unwürdige Opfer. Die Aberkennung von NS-Verfolgten in Berlin 1945 bis 1949, Berlin 2003.
Tobias Winstel