Rainer Beck: Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte, München: C.H.Beck 2003, 303 S., 44 Abb., 3 Karten, 7 Tabellen, ISBN 978-3-406-51000-7, EUR 29,90
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Immer öfter begegnet der urbanisiert lebende Mensch westlicher Industriegesellschaften der intakten Natur - meist freilich nur als Argument der Werbung für Lebensmittel und Ferienregionen. Realiter stößt, wer "Wildnis" und "unberührte" Landschaften sucht, auf Kulturlandschaft, auf das Ergebnis mitunter jahrtausendealter anthropogener Beeinflussung und - so der Hinweis Rainer Becks - auf das Kapital von Land- und Forstwirtschaft wie Tourismusindustrie (12). Joachim Radkau wertet das Ideal der "unberührten Natur" spöttisch als Phantom und "Produkt des Kultes der Virginität", während der Geograf Helmut Jäger darauf hinweist, dass erste nachhaltige Eingriffe des Menschen in ursprüngliche Landschaften bereits so früh erfolgten, dass die Rekonstruktion eines hypothetischen Urzustandes nur in "gröbster Annäherung" erfolgen könne.[1] Und doch stehen wir im dritten Jahrhundert des "Projekts der Moderne" (12) mit seiner durchgreifenden Industrialisierung von Gewerbe und Agrarproduktion auf der Basis einer nicht nachhaltigen Nutzung fossiler Energieträger an einem Punkt, an dem der Wert der "Naturnähe" eine ungeahnte diskursive Karriere erlebt, und an dem vergangene Landschaftszustände zum Vorbild für Renaturierungs- und Ökologisierungsbestrebungen werden. Den Landschaften als "einer schwer zu definierenden, zwischen Imagination und Konkretion schwankenden, jedenfalls aber sozial, sinnlich wie auch kulturell bedeutsamen Manifestation" von Umwelt (14) gilt vermehrt wissenschaftliches Interesse.
Im Zentrum der Beck'schen Untersuchung steht die Periode sozioökonomischer Transformation während des 18. und 19. Jahrhunderts. Diese führte auf dem Gebiet der Landwirtschaft von der genossenschaftlichen Subsistenzwirtschaft zu einer auf individualisiertem Grundeigentum basierenden, marktorientierten Intensivwirtschaft; auf dem Gebiet der Waldnutzung wurde im Zuge dessen der Weg vom multifunktionalen Landwirtschafts-, Holzproduktions- und Jagdwald [2] zum monokulturell bestockten und von "Nebennutzungen" befreiten Forstwirtschaftswald beschritten.
Beck nimmt seinen Ausgangspunkt beim ökonomisierten Naturempfinden der Aufklärer und bei deren abschätzigem Blick auf eine überkommene "Wildnis" und die vermeintliche Ineffizienz der vormodernen Landwirtschaft (19-24). Er skizziert Organisationsformen und Wirtschaften dieses Agrarsystems: intensive Kultivierung der Kernfluren, tendenziell extraktive Nutzung der ertragsschwachen Peripherie (vor allem Weidewirtschaft auf Feucht- und Grenzböden) und des Waldes (Dechelbetrieb, Waldweide, Streunutzung). Er versucht, ein Bild der dadurch geprägten Ökosysteme und Landschaften zu rekonstruieren, und beteiligt sich an der Diskussion um die ökologische Nachhaltigkeit dieser Wirtschaftsweise.
Der frühneuzeitliche Wald in seiner spannungsreichen Rollenzuweisung "zwischen bäuerlicher und Herrschaftsressource" (59) erfährt die ihm zukommende Beachtung. Die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Herrschaftsbereichen beeinflusste auch die Benutzungsordnung des Waldes und damit Baumartenzusammensetzung und Waldbild. Jagd fungierte als "Insignie adelig-herrschaftlicher Existenz" (60) und "Bühne absolutistischer Selbstinszenierung" (62). Dass die für die barocke Jagdpraxis übliche geometrisierende Erschließung der Wälder durch sternförmige Schneisen- und Wegsysteme am Beispiel des Südens der Residenzstadt München nicht nur wie eine "monumentale Erweiterung der fürstlichen Parkanlagen" anmutet (140), sondern im Wortsinne eine solche bildete, glaubt der Rezensent nachweisen zu können: Als Teil eines integrierten Systems umzäunter Jagdparks immensen Ausmaßes dienten sie dazu, eine regelrechte jagdliche Erlebnislandschaft für die kurfürstliche Hofgesellschaft bereitzustellen.[3]
Mit der geometrisierenden Landschaftserschließung einerseits und der Ansiedlung von Kolonisten auf zuvor nicht oder nur extensiv genutzten Flächen andererseits weisen zwei Projekte absolutistischer Herrschaft des frühen 18. Jahrhunderts in ihrem offensiven Umgang mit der Natur bereits auf Komponenten des aufklärerischen Reformprojekts am Ende des Jahrhunderts. Überlegungen wie der "Idealplan" des bayerischen Reformers Joseph von Hazzi (1768-1845) zur Umgestaltung des Dorfes und der Flur von Freimann bei München (143-147) zeigen dabei, dass der projektierten Neuordnung von Landwirtschaft und Landschaft nicht nur ökonomische, sondern immer auch ästhetische Ideale zugrunde lagen.
Den regionalen Fokus der Beck'schen Untersuchung bildet die Region Ebersberg, genauer: das Gebiet des ehemaligen Landgerichtsbezirks Schwaben. Am örtlichen Beispiel werden die allgemein angerissenen Problemfelder diskutiert. Wenn Lücken im Ebersberger Befund dies nahe legen oder sich die eine Region als Vergleichsfolie zur anderen anbietet, streifen Seitenblicke den von Beck ebenfalls erforschten ehemaligen Gerichtsbezirk Landsberg südwestlich von München. Besonders ergiebig ist Becks Arbeit mit administrativen Quellen wie den Dechelregistern, die Umfang und lokale Herkunft der Schweineherden dokumentieren, die zur Waldmast in den Ebersberger Forst getrieben wurden. Ähnlich auskunftsreich sind die unterschiedlichen Bestandsaufnahmen, welche die Arbeit der gegen Ende des 18. Jahrhunderts eingesetzten "Landeskulturdeputation" bei der Aufteilung der Allmenden, Purifikation der Forsten und Kultivation von Moosen und "Filzen" begleiteten, wobei Beck nicht versäumt, die "protostatistischen" Fallstricke seines Materials quellenkritisch zu würdigen.
Rainer Becks Untersuchung bewegt sich im Kontext aktueller Forschungsströmungen der Landschaftsgeschichte und Kulturlandschaftsforschung wie einer ökologisierten Agrargeschichte.[4] Er kann dabei auch die Ergebnisse eigener Forschungen für die Analyse des aktuell untersuchten Gegenstandes nutzbar machen. Dies gilt zum einen für die profunde Kenntnis der vormodernen ländlichen Wirtschafts- und Sozialordnung, die Beck aus seinen mikrohistorischen Forschungen zum oberbayerischen Unterfinning gewonnen hat.[5] Dies gilt zum anderen für seine Typisierung einer ökologischen Ratio, welcher der aufklärerische Umbau der Natur gefolgt sei: Beseitigung des Unbrauchbaren (Brachland, Moose, "Filze"), Trennung des Gemischten (Wald und landwirtschaftliche Nutzfläche / Offenland) und Homogenisierung des Getrennten (nutzungsorientierte Einrichtung, Flurbereinigung).[6]
Das Buch richtet sich dezidiert (und in der sprachlichen Selbstbeherrschung des Wissenschaftlers gelungen) an ein breites Publikum. Die gute Lesbarkeit und der großzügige Einsatz von Bildquellen kommen dem genauso zugute wie Tabellen für statistisches Material, schematische Skizzen und optisch abgehobene Textblöcke zur Erklärung und Vertiefung historischer Termini und Sachverhalte. Der umfangreiche Anmerkungsapparat macht die Publikation daneben zur differenziert argumentierenden und hinreichend belegten geschichtswissenschaftlichen Diskussionsgrundlage. Becks "Ebersberg" bedient sowohl Leser mit Interesse an historisch-ökologischen Fragestellungen, als auch solche, die ein faktenreiches regionalgeschichtliches Lesebuch suchen.
Anmerkungen:
[1] Joachim Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000, 14; Helmut Jäger: Einführung in die Umweltgeschichte, Darmstadt 1994, 5.
[2] Christoph Ernst: Den Wald entwickeln. Ein Politik- und Konfliktfeld in Hunsrück und Eifel im 18. Jahrhundert, München 2000, 14-19.
[3] Martin Knoll: Umwelt - Herrschaft - Gesellschaft. Die landesherrliche Jagd Kurbayerns im 18. Jahrhundert (im Druck: Scripta Mercaturae Verlag, St. Katharinen).
[4] Etwa: Hansjörg Küster: Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, München 1995; Werner Konold (Hg.): Die Veränderung der Landschaften nach der Nutzbarmachung durch den Menschen, Landsberg 1996; Karl Ditt / Rita Gudermann / Norwich Rüße (Hg.): Agrarmodernisierung und ökologische Folgen. Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Paderborn u. a. 2001; Verena Winiwarter / Christoph Sonnlechner: Der soziale Metabolismus der vorindustriellen Landwirtschaft in Europa, Stuttgart 2001.
[5] Kaum eine jüngere Arbeit zur Agrargeschichte beziehungsweise zur ländlichen Sozial- oder Alltagsgeschichte kommt ohne Becks Publikationen aus: Rainer Beck: Naturale Ökonomie. Unterfinning, bäuerliche Wirtschaft in einem oberbayerischen Dorf des frühen 18. Jahrhunderts, München 1986; ders.: Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993.
[6] Rainer Beck: Die Abschaffung der "Wildnis", in: Werner Konold (Hg.): Die Veränderung der Landschaften nach der Nutzbarmachung durch den Menschen, Landsberg 1996, 27-44, hier: 38 f.
Martin Knoll