Seraina Gilly: Der Nationalstaat im Wandel. Estland im 20. Jahrhundert (= Geist und Werk der Zeiten. Arbeiten aus dem Historischen Seminar der Universität Zürich; Bd. 97), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2002, 676 S., 6 Karten, 26 s/w Abb., ISBN 978-3-906769-19-6, EUR 80,70
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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"Este bin ich, Este bleibe ich" - mit diesem Zitat beginnt Seraina Gilly die Darlegung des Konzepts ihrer 2001 vorgelegten Züricher Dissertation und verschweigt also nicht, dass ihr Forschungsinteresse biografisch bedingt ist. Ein solcher persönlicher Zugang zu den Entwicklungen in Estland seit den 1980er-Jahren hätte zweifelsohne ein positives Merkmal dieser Arbeit werden können, denn mit dem Instrumentarium der "oral history" hätten sich durchaus wichtige Alltagserfahrungen des gesellschaftlichen Wandels dokumentieren lassen. Leider hat die Verfasserin diesen Weg aber nur ansatzweise beschritten (am ausdrucksstärksten sind die Fotos) und präsentiert stattdessen eine materialreiche, aber - wie der Titel bereits andeutet - recht unspezifische Darstellung der Geschichte Estlands vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1990er-Jahre.
Intendiert wurde ein groß angelegter Überblick von der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts bis zu gegenwärtigen Problemen. Der Hauptteil ist in vier Abschnitte gegliedert, die sich mit der Nations- und Staatswerdung, der Republik von 1918 bis 1940, dem nationalen "Wiedererwachen" und schließlich der Republik Estland seit 1991 befassen. Die Kapitel zu den Phasen estländischer Staatlichkeit behandeln jeweils die Aspekte demographische Entwicklung, politisches System, Landesverteidigung, Außenpolitik, Minderheitenpolitik, wirtschaftliche Entwicklung, Verkehr und Medien. Die beiden Teile zu den Phasen des nationalen Erwachens schildern die Wege in die Unabhängigkeit und beleuchten deren soziale, ökonomische und kulturelle Voraussetzungen. Mit dieser Schwerpunktsetzung folgt die Verfasserin einem Schema, das auch andere Darstellungen zu den baltischen Staaten kennzeichnet: Die Epochen der Nationalbewegung und der ersten Staatlichkeit werden ausführlich dargestellt, die sowjetische Epoche dagegen nur kurz gestreift und die Jahre des erneuten nationalen Erwachens dann wieder detailliert behandelt. Das Ausblenden der sowjetischen Zeit begründet Gilly vor allem juristisch, denn die Annexion 1940 sei völkerrechtswidrig gewesen. So sinnvoll die Untersuchung der staatsrechtlichen Situation Estlands nach 1940 und so zutreffend dieser juristische Befund ist, so wenig kann er ein historisches Erkenntnisinteresse befriedigen und das Ausblenden der sowjetischen Periode aus der Entwicklung der estnischen Nation im 20. Jahrhundert begründen. Die Verfasserin formuliert ihre Position eingangs eigentlich in diesem Sinne, verliert dies aber im Fortgang der Darstellung offensichtlich aus den Augen.
Von der Anlage könnte man dem Buch Handbuchcharakter zusprechen, aber diesem Anspruch wird es nicht gerecht und kann dies eigentlich auch nicht: Grundlegende Fakten werden nicht oder nur unzureichend erklärt, und der Bezug zum aktuellen Forschungsstand und zu der für die einzelnen Themen relevanten Forschungsliteratur fehlt an vielen Stellen - so verweist die Verfasserin zu Carl Robert Jakobson ausgerechnet auf ein Urteil von Reinhard Wittram (79). Zudem fehlen Register und ein Verzeichnis der zahlreichen Tabellen. Hinzukommt, dass das Buch faktographische Ungenauigkeiten und Fehler aufweist, etwa, wenn die Verfasserin von mehreren geheimen Zusatzprotokollen zum Hitler-Stalin-Pakt (437) spricht. Zudem ist die argumentative Struktur unübersichtlich: Absätze bestehen vielfach nur aus einem Satz, sodass die Gedankenführung einer additiven Reihung weicht; auch wäre es wünschenswert gewesen, wenn die russischen Namen korrekt transliteriert worden wären. Weitere Einzelheiten ließen sich anführen: So wird der "homo sovieticus" offensichtlich mit nicht-estnischen Arbeitern identifiziert (328); unfreiwillig ist wohl die Aussage, dass eine junge Generation von Politikern um Mart Laar entschlossen den Weg in die Marktwirtschaft beschritten habe und dabei über Skandale gestolpert sei (385 f.). In diesem Kontext fällt auf, dass die Verfasserin skandalumwitterte Ereignisse wie den Pullapää-Vorfall 1993 oder den Rubel-Verkauf nach Tschetschenien nicht erwähnt.
Gillys Abhandlung schließt mit einem Vergleich der Phasen der ersten und zweiten Unabhängigkeit, bei dem aber letztlich nicht recht klar wird, worauf er hinauslaufen soll. Der Schluss enthält die These, dass den Esten durch die sowjetische Annexion eine normale nationale Entwicklung verwehrt wurde, die nachzuholen im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr möglich sei. Die Sinnhaftigkeit dieser auf dem Theorem nachholender Modernisierung aufbauenden Aussage wird jedoch nicht deutlich; mit einer auf Mentalitäten und Alltagsgeschichte zielenden Fragestellung wäre die Verfasserin gewiss zu aussagekräftigeren Ergebnissen gekommen, zumal sie dank ihrer Sprachkompetenz ganz offensichtlich viel interessantes Material zu den 1980er und 1990er-Jahren zusammengetragen hat, das auch für politologische und soziologische Fragestellungen aufschlussreich sein könnte. Auf Grund einer mitunter schwerfälligen Präsentation und manch unnötiger oberflächlicher Objektivierung in nicht weiterführenden Fußnoten wurde das Potenzial des Materials aber nicht ausgeschöpft. Trotz dieser Einschränkungen stellt das Buch zahlreiche Informationen zu Estland im 20. Jahrhundert bereit, die in dieser Dichte in deutscher Sprache bisher nicht vorlagen.
Jörg Hackmann