Werner Buchholz (Hg.): Das Ende der Frühen Neuzeit im "Dritten Deutschland". Bayern, Hannover, Mecklenburg, Pommern, das Rheinland und Sachsen im Vergleich (= Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge; Bd. 37), München: Oldenbourg 2003, VIII + 196 S., ISBN 978-3-486-64437-1, EUR 39,80
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Die deutsche Landesgeschichtsschreibung ist ein den Föderalismus verkörperndes und legitimierendes, an Universitäten und eigenen Forschungseinrichtungen institutionalisiertes Kleinod, das im ausgehenden 19. und in der langen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem für die mediävistischen Forschungen mit ihren nationalen und europäischen Themen ein wichtiges Korrektiv gebildet hat. Seit den Siebzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts und insbesondere nach der "Wende" beschäftigt sie sich erstens zunehmend auch mit Themen der neuzeitlichen Geschichte, sucht zweitens über den Vergleich neue Bewertungsmaßstäbe und verweigert sich drittens nicht mehr der Frage, was die einzelnen Regionen oder Herrschaften intern zusammenhielt und zu einem Ganzen zusammenband. Die Landesgeschichtsschreibung hat sich insofern den aktuellen Herausforderungen gestellt und profitiert einerseits vom Bedeutungszuwachs der Regionen im Zuge der europäischen Einigung und andererseits vom Paradigmenwechsel bei der Betrachtung des Alten Reiches, der - so die bis heute forschungsleitende Perspektive von Peter Moraw und Volker Press - die Zusammenschau von Reichs- und Landesgeschichte als unabdingbar erscheinen lässt.
Während der unsägliche Streit, ob nun "Länder" oder "Regionen" im Zentrum landesgeschichtlichen Interesses stehen sollen, inzwischen nur noch die damaligen Antipoden interessiert, scheint das methodische Problem der Verallgemeinerbarkeit kleinräumig gewonnener Befunde zu einer zentralen Frage dieser Disziplin zu werden. Zwar kann jedes Land, jede Herrschaft, jeder definierbare kleine Raum und jedes Dorf ein sinnvoller historischer Untersuchungsgegenstand sein, doch um die so gewonnenen Ergebnisse einordnen zu können, bedarf es nicht nur eines komparatistischen, sondern auch eines Zugriffs, der das Ganze, der die jeweilige überwölbende Einheit mit ihren Vorgaben nicht nur formal berücksichtigt. Die Größe dieser Einheit hängt von der Fragestellung ab, sie kann ein historisch gewachsener, heute möglicherweise nationale Grenzen überschreitender oder aber ein politisch definierter Herrschaftsraum sein. Im Kontext des vorliegenden Sammelbandes, der das Ende der Frühen Neuzeit bestimmen will, ist dies Deutschland, das aber erst im letzten Beitrag in einer Fußnote "als sprachlich-kultureller Raum im Sinne der 'deutschen Lande' mit dem in der frühen Neuzeit üblichen Bedeutungsgehalt" unzureichend definiert wird. Diese Offenheit rächt sich, denn eine etwas präzisere Bestimmung des behandelten Raumes hätte das Fazit über das Ende der Frühen Neuzeit sicherlich erleichtert. Die einleitend von Josef Matzerath klug formulierten Fragen, mit denen sich jeder der folgenden sechs Beiträge auseinandersetzen soll, sprechen stattdessen vom Heiligen Römischen Reich, machen aber auch diesen Begriff nur durch seine Parallelisierung mit den europäischen Großmächten halbwegs eindeutig (3).
Ziel des Bandes ist eine Bestandsaufnahme der frühneuzeitlichen "Kosten" und "Vorteile" im Zuge der Modernisierung des 19. und 20. Jahrhunderts. Im Einzelnen soll der Blick auf interne Integration und entsprechende Identitätsbildungen, den wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklungsstand einschließlich der hervorstechenden Außenkontakte sowie auf die soziale Ungleichheit, die politischen Partizipationsmöglichkeiten und die (hoch)kulturellen Institutionalisierungen gelenkt werden (3 f.). Die Autoren halten sich nur bedingt an diesen Fragenkatalog, und angesichts eines dafür oftmals unzureichenden Forschungsstandes wirken manche Einlassungen, insbesondere diejenigen zur leidigen Identitätsfrage, empirisch nur unzureichend abgesichert. Hier erweist es sich als großer Nachteil, dass die Beiträge auf eine Tagung von 1997 zurückgehen und die gerade auf diesem Feld wichtigen neuesten Forschungen nicht mehr berücksichtigt werden konnten.
Die vielen nützlichen und weiterführenden Einzelergebnisse, die hier im Überblick geboten werden, können natürlich nicht referiert werden. Ferdinand Kramer zeichnet jedenfalls auf der Basis eines vergleichsweise sehr guten Forschungsstandes ein abgerundetes Bild eines sich modernisierenden und die neu erworbenen Gebiete integrierenden Bayern, für das gleichwohl das Reich bis 1806 wichtig blieb (13 f.). Ernst Schubert legt hingegen das Schwergewicht seiner überzeugenden Synthese auf die ökonomische und soziale Entwicklung des Kurfürstentums Hannover, während er sich bei den politischen Deutungen doch etwas zu sehr zurückhält. Der alte Verdacht eines Modernitätsrückstandes in Mecklenburg wird von Thomas Rudert zwar thematisiert, letztlich aber auch mit der hohen Produktivität der dortigen Landwirtschaft nicht wirklich entkräftet, denn dazu waren die sozialen Kosten einfach zu groß. In dem mit 42 Seiten längsten Beitrag kommt Werner Buchholz zu ähnlichen Ergebnissen für Pommern, dessen schwedisch beziehungsweise preußisch verwaltete Landesteile im 19. Jahrhundert erst langsam zu einem Teil Preußens zusammenwachsen mussten. Hervorgehoben werden die Reichstreue Schwedisch-Pommerns und viele Einzelheiten zu den schwedischen Reformen, die sich aber im Großen und Ganzen nicht wesentlich von den benachbarten ostelbischen Verhältnissen unterschieden und im 19. Jahrhundert viele Menschen zur Auswanderung veranlasst haben. Dem kurzen Beitrag von Jörg Engelbrecht über das Rheinland merkt man an, dass die an den herrschaftlich bestimmten Territorien gewonnenen Fragestellungen für eine solche kulturell-mentale Raumbildung nur schwer fruchtbar zu machen sind. Die Zäsur war hier drastisch und eine Folge der französischen Annexion der linksrheinischen Gebiete.
Das Schicksal des nach 1763 endgültig aus der Reihe der ersten Territorien des Reiches ausgeschiedenen Kursachsen erweist sich in der Umbruchszeit - so jedenfalls Josef Matzerath - als wenig spektakulär: Ein ethnisch oder mental begründetes Gemeinschaftsbewusstsein lasse sich nicht nachweisen (143), es sei der sächsischen Politik nur noch um die "Bewahrung der eigenen Souveränität" (146) gegangen. Dieser Begriff ist aber für die Phase des noch existierenden Alten Reiches problematisch, denn gerade ein Mittelstaat wie Kursachsen war zur Wahrung der eigenen Selbstständigkeit auf den Rahmen des Reichs-Staates angewiesen. Zumindest politisch scheint die Souveränitätsfrage daher eine denkbare Zäsur, die das Ende der Frühen Neuzeit sinnvoll definiert, zumal dann, wenn man die Vorteile und Kosten herausfinden will. Immerhin hat Kramer auf den wichtigen Umstand hingewiesen, "daß eine politische Kultur des Landes mit vergleichsweise wenigen zur Gewalt eskalierenden Konflikten eine bis ins frühe 20. Jahrhundert reichende positive Vorleistung der Frühen Neuzeit war" (23). Gilt dies auch für die anderen Länder und für Deutschland in welchen Grenzen?
Auch das "Konzept einer offenen Landesgeschichte" (1) benötigt für weiterführende Vergleiche zwischen Territorien oder (!) Regionen wie dem Rheinland nicht nur allgemeine Fragen, sondern erkenntnisleitende Vorgaben. Erst von daher können Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkannt und als Distinktionskriterien nützlich gemacht werden. Eine solche Vorgehensweise hätte es Werner Buchholz mit seinem als "vergleichende Analyse und Synthese" etwas überpointiert charakterisierten zusammenfassenden Beitrag um vieles leichter gemacht. Sein Fazit des in der vorliegenden Form eigentlich Unvergleichbaren bewegt sich daher notgedrungen auf der Ebene des Konventionellen: Zustand vor Beginn der Reformen, diese selbst, Vergleich der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen. Ergebnisse wie die Folgenden sind sicher richtig, aber weder neu noch sonderlich originell: "Es ist eines der essentiellen Merkmale des Endes der Frühen Neuzeit, daß die neugeschaffenen politisch-administrativen Einheiten unter dem Zwang stehen, die Bevölkerung neu hinzugewonnener Gebiete hinsichtlich Bewußtseins, ihrer Haltung und Einstellung zu integrieren" (179). Wo dies nicht der Fall ist - wie in Mecklenburg oder Sachsen - wird "das Landesbewußtsein, das bisher auf die ständischen Herrschaftsträger beschränkt war, auf die Gesamtbevölkerung ausgedehnt" (179). Dies mag sein, man wüsste nur gerne: wie? Buchholz selbst formuliert dann das Fazit dieses Bandes: "Eine besonders enge Verflechtung der hier behandelten Regionen untereinander ist etwa im Vergleich zu anderen europäischen Staaten somit nicht erkennbar" (183). Dies ist wiederum richtig, doch die Frage nach übergeordneten Einheiten wird mehr ignoriert als beantwortet (Ausnahme: Kramer) und der Vergleich mit anderen europäischen Staaten erfolgt allenfalls implizit und intuitiv. Neue Einsichten zum Ende der Frühen Neuzeit oder eine nähere Bestimmung des titelgebenden Schlagwortes "Drittes Deutschland" vermisst man schmerzlich.
Georg Schmidt