Matthias Frese / Julia Paulus / Karl Teppe (Hgg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 44), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2003, 839 S., ISBN 978-3-506-79617-2, EUR 64,00
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Zwischen den Fünfziger- und den Siebzigerjahren ging aus der traumatisierten deutschen Nachkriegsgesellschaft die pluralistische Gesellschaft westlichen Typs der "alten" Bundesrepublik hervor. Politisch-kulturelle Neuorientierungen, weitreichender sozialstruktureller Wandel und steigende Reformerwartungen kennzeichneten diesen vielschichtigen, rasant verlaufenden Prozess, der sich mit dem Stichwort "Modernisierung" zwar pointiert, jedoch keineswegs hinreichend charakterisieren lässt.
Wie facettenreich sich diese Phase in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Westdeutschlands gestaltete, aber auch von welchen Ambivalenzen, unterschiedlichen inneren Periodisierungen und nicht intendierten Auswirkungen sie geprägt war, legt jetzt ein von Matthias Frese, Julia Paulus und Karl Teppe im Zusammenhang mit dem Forschungsprojekt "Gesellschaft in Westfalen 1930 bis 1960" herausgegebener Sammelband anschaulich dar. Die ausgesprochen originellen, empirisch gesättigten und keineswegs nur regionalgeschichtlich angelegten Beiträge bieten eine bedeutende wissenschaftliche Orientierungsleistung, die den Forschungsstrom der letzten Jahre eindrucksvoll verbreitert.[1] Das Buch, das ohne Zweifel zu den neueren Standardwerken über die Sechzigerjahre zu zählen ist, dokumentiert Beiträge einer Tagung, zu der das Westfälische Institut für Regionalgeschichte vor vier Jahren eingeladen hatte.
Im Mittelpunkt steht unter vornehmlich sozialgeschichtlicher, aber auch politik- und kulturgeschichtlicher Perspektive die Frage nach dem Stellenwert der Sechzigerjahre in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte. In Aufsätzen von eindrucksvoller Themenvielfalt und konzise präsentierter Informationsdichte spüren nicht weniger als 39 vorwiegend jüngere Autorinnen und Autoren aus der ganzen Bundesrepublik (die meisten in den Jahren ihrer Untersuchungsepoche gerade geboren) der Frage nach den Besonderheiten dieser, so der Untertitel programmatisch, "Wendezeit der Bundesrepublik" nach.
Die je nach Blickwinkel lange oder kurze Zeit des Umbruchs, darin sind sich die Verfasser einig, reichte über die Eckdaten des Dezenniums deutlich hinaus: Eingeleitet von dem etwa zwischen 1957 und 1959 anzusiedelnden Abschluss des so genannten Wiederaufbaus war die "Zeit der Neuorientierung" (9) zu Ende, als Reformen, Konzepte und Planungen um 1973/74 endgültig scheiterten. Die zentralen Felder des politischen und soziokulturellen Umbruchs, gleichsam die "Schauplätze" des Wandels, bilden denn auch die sechs thematischen Schwerpunkte: Geschlechterrollen, Öffentlichkeit(en), Planungsvorhaben, Verwaltung, Lebensstile und zeitgenössische Deutungsmuster. Einleitende Synthesen der Sektionsleiter der Tagung sind den Abschnitten vorangestellt. Eingerahmt werden die Beiträge von den Überlegungen der Herausgeber über Dynamik und Struktur der Veränderungen und einem nicht minder differenzierten abschließenden Bericht über die lebhaften Debatten der Konferenz.
Es zählt zu den Stärken des Bandes, Aussagekraft, Reichweite und Plausibilität gängiger, die komplexen Transformationsprozesse jener Jahre bündelnder Termini eingehend zu hinterfragen. Dass "Demokratisierung" und "gesellschaftlicher Aufbruch" durchaus analytische Schlüsselbegriffe bilden, wird anhand auf Nordrhein-Westfalen fokussierter, aber auch darüber hinausreichender lokaler und regionaler Fallbeispiele ebenso deutlich wie die Tatsache, dass das Schlagwort von der "inneren Demokratiegründung" eher erkenntnishemmend wirkt, da es entsprechende Vorleistungen der Fünfzigerjahre unterschlägt. Nuanciert beleuchtet werden darüber hinaus der Milieubegriff und die Bedeutung des Generationenwechsels für die vielgestaltigen Wandlungsprozesse.
Da Dynamik ein Strukturmerkmal der Vorgänge war, erscheint es auf Anhieb erstaunlich, dass im Verhältnis der Geschlechter lange Zeit massive Beharrungskräfte wirksam blieben und Neuerungen, wie die Eingangssektion über "Erwerbs-, Familien- und Hausarbeit" zeigt, sich gerade hier erst allmählich Bahn brachen. Abrupt veränderte hingegen die Präsenz des Fernsehens die politische und soziale Lebenswirklichkeit, insbesondere das in der zweiten Sektion aufgegriffene Verhältnis von "Politik und Öffentlichkeit". Das weitgefasste und intensiv diskutierte Verständnis von Öffentlichkeit schließt Massenmedien, wissenschaftliche Fachöffentlichkeit und kursierende Meinungen in der Gesellschaft ebenso ein, wie die Teilöffentlichkeiten von Parteien, Kirchen und verschiedenen sozialen Gruppierungen.
Mit "Planung als Reformprinzip" bringt die weitaus umfangreichste dritte Sektion schon in der Überschrift auf den Punkt, was in Einzelbeiträgen mit Blick auf Bildungs-, Umwelt- und Agrarpolitik, ferner auf Arbeitsmarkt, Entwicklungshilfe, Landesplanung und die ressortübergreifende Steuerung durch das Bundeskanzleramt prägnant elaboriert wird. Mit dem zeitgenössischen Modewort "Planung" wird ein Strukturelement der Sechzigerjahre ausgemacht, das nichts weniger war, als eine "Signatur" (8) der Zeit. Im Nachkriegsjahrzehnt als Antonym zur freiheitlichen Demokratie zunächst verpönt, avancierte das bald mit zukunftsorientierter Machbarkeit und technokratischer Steuerbarkeit gleichgesetzte Wörtchen zum Inbegriff vorausschauender, verantwortlicher, fortschrittlicher, vulgo moderner Politik. Ihr Kennzeichen war der Januskopf, denn "Planung" bedeutete in gleich welchem Handlungsfeld immer auch Krisenbewältigung: einen zu bahnenden Ausweg aus den als rückständig wahrgenommenen Gegebenheiten der Gegenwart.
Noch keineswegs ausgeschöpft ist das Forschungspotenzial der auf die institutionellen Veränderungen konzentrierten Sektion über "Verwaltung und Bürger". Offene Forschungsfragen, die über die angesprochenen personellen Kontinuitäten seit Kriegsende und die aufgrund fortwirkender Beharrungskräfte zunächst nur zögerlich umgesetzten Ansätze zur Partizipation hinausgehen, werden in einem mehrseitigen Fragenkatalog jedoch gleich mitgeliefert.
Dass die massivsten Umbrüche nicht in der Politik stattfanden, sondern angestoßen durch Wohlstand, Freizeit und Konsum vielmehr soziokultureller Art waren, hebt die Sektion über "Lebensstile im Wandel" klar hervor. Zunehmende Medialisierung, überhaupt die massenkulturelle Konsumption bildeten ein verändertes soziales Gefüge heraus: die "Erlebnisgesellschaft" (583). Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund ist die abrupte Renaissance sozialistischer, an Konsumverweigerung orientierter Gesellschaftskritik zu erklären, der sich unter dem Stichwort "Deutungsmuster" die Schlusssektion widmet.
Mit Vorstellungen von einer linearen Dynamisierung und ungebrochenen Modernisierung oder einer wie auch immer gearteten eindimensionalen "Erfolgsgeschichte" sind die Sechzigerjahre der Bundesrepublik nicht hinreichend zu fassen. Wies die jüngste Forschung hierauf bereits hin, so liefern die akribischen Analysen des Sammelbandes dazu weitere grundlegende Differenzierungen und erschließen so historiografisches Neuland.
Anmerkung:
[1] Axel Schildt / Detlef Siegfried / Karl Lammers (Hg.): Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000; Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hg.): Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973, München 2001; dies. (Hg.): Gesellschaft im Wandel 1949 bis1973, München 2002; Ulrich Herbert (Hg.): Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002.
Sybille Steinbacher