Matthias Frese / Marcus Weidner (Hgg.): Verhandelte Erinnerungen. Der Umgang mit Ehrungen, Denkmälern und Gedenkorten nach 1945 (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 82), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 385 S., 93 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78798-9, EUR 49,90
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Der von Matthias Frese und Marcus Weidner herausgegebene Sammelband geht aus der Tagung "Erinnerung, Ehrung, Politik. Zum Umgang mit Ehrungen und Erinnerungen nach 1945" hervor, die die beiden Herausgeber im April 2016 am Institut des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) für westfälische Regionalgeschichte in Münster veranstalteten. Er thematisiert geschichts- und erinnerungskulturelle Wandlungen kollektiver Lokalgedächtnisse, die aus gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen und Neubewertungen im Hinblick auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit resultieren.
Um das von ihnen konstatierte Spannungsverhältnis von Politik, Ehrung und Erinnerung (7) sowie die geschichtspolitischen und sozialen Konflikte solcher "verhandelter Erinnerungen" zu untersuchen, verwenden sie den Begriff des "Ehrregimes", anhand dessen die lokalen Erinnerungszeichen untersucht werden (11). Sie gliedern ihr Oberthema in die drei Teilbereiche "Denkmäler und Gedenkorte" (19-133), "Personen in der öffentlichen Erinnerung" (135-250) und "Revision von Straßennamen" (251-358). Ein abschließender vierter Teil "Künstlerische Interventionen" (359-379) besteht lediglich aus einem Beitrag, nämlich dem ehemaligen Abendvortrag des Münchner Künstlers Wolfram P. Kastner, der über einige seiner Aktionen der letzten rund zwei Jahrzehnte referiert.
Der zweite der vier Teile sticht in doppelter Hinsicht heraus: Zum einen widmet er sich konkreten Personen wie dem Lemgoer Bürgermeister Wilhelm Gräfer, dem zwangssterilisierten Münsteraner Paul Wulf und dem Gütersloher Psychiater Hermann Simon. Zum anderen werden Personen abstrakter anhand der Diskussion über Stolpersteine thematisiert. Der Münchner Aktivist Terry Swartzberg plädiert leidenschaftlich für diese Art des Gedenkens; Ulrike Schrader, deren Beitrag kein Bestandteil der ursprünglichen Tagung war und im Sammelband nachträglich ergänzt wurde, formuliert aus der Perspektive ihrer persönlichen Erfahrungen kritische Anmerkungen vor allem im Hinblick auf die gegenwärtige Gedenkpraxis. Die Bereiche umfassen jeweils zwischen vier und sechs Beiträgen, wobei der erste Beitrag - der ursprünglichen Sektionsleiterinnen - stets allgemeiner gehalten ist und quasi eine Einleitung zu den folgenden Beiträgen liefert, indem er das jeweilige Forschungsfeld skizziert.
Der im Klappentext vollmundig angekündigte Vergleich von erinnerungskulturellen Konflikten "anhand von lokalen und regionalen Vorgängen in verschiedenen Ländern und Regionen" fällt allerdings recht schmal aus. Lediglich die Beiträge von Petra Spona (zu Personenehrungen in Hannover), Dietmar von Reeken (zu Konflikten um Oldenburger Straßennamen) und Florian Wenninger (zu Konflikten um Straßennamen in Österreich) überschreiten den auf Westfalen gelegten Fokus.
Gerade in der Fokussierung auf lokale beziehungsweise regionale Erinnerungskulturen in Westfalen liegt jedoch die Stärke dieses Bandes und seiner überwiegend sehr lesenswerten Beiträge. Erst ihre genaue Untersuchung ermöglicht es nämlich, verschiedene Orte und Regionen in erinnerungskultureller Perspektive miteinander zu vergleichen und gegebenenfalls lokale oder regionale Spezifika herauszuarbeiten. Bernd Schönemann hat als ein Desiderat des Forschungsfeldes Geschichtskultur die Erforschung von deren Geschichte in Form von "Synthesen mittlerer Reichweite" [1] genannt. Zu dieser Aufgabe zählt er den Vergleich lokaler Geschichtskulturen, die Untersuchung von Genese, Struktur und Funktion regionaler Erinnerungslandschaften sowie sozialgruppenspezifischer Vergangenheitskonstruktionen in ihrer Eigenlogik und Abgrenzung nach außen. [2] Die Intention der Herausgeber geht genau in diese Richtung, wenn sie zum einen diesbezüglich bislang ein Forschungsdefizit für Westfalen beklagen (15) und zum anderen zahlreiche derartige Fragen aufwerfen (17). Die summarische Beantwortung dieser Fragen für das Beispiel Westfalen und das Herstellen von Bezügen zwischen den einzelnen Beiträgen in einer Gesamtschau durch die Herausgeber wäre freilich sinnvoll und wünschenswert gewesen. Diese Aufgaben bleiben jedoch der Leserschaft überlassen.
Auch in der Rubrik "Künstlerische Interventionen" stecken Impulse für weitere Forschungen zur Bedeutung und Wirkung von Kunst - wie zum Beispiel Denkmälern und Gegendenkmälern - bei erinnerungskulturellen Transformationsprozessen. [3] So ließe sich beispielsweise nach dem Wechselspiel von Kunst und Erinnerungskultur, nach den Künstlern und ihren Motiven, nach den Publika, nach den von ihnen ausgehenden öffentlichen Kontroversen oder nach der Reichweite und dem Wirkungsgrad von Kunstwerken fragen - gerade auch im Vergleich zur Rezeption von wissenschaftlichen Forschungsergebnissen von Historikerinnen und Historikern, was Alfons Kenkmann, Dietmar von Reeken und Florian Wenninger in ihren Beiträgen zu Straßennamen thematisieren und reflektieren.
Insgesamt betrachtet geben die lokalen Fallbeispiele beziehungsweise biographischen Studien einen detaillierten Einblick in die jeweilige Erinnerungskultur vor Ort, ihren Wandel und die damit verbundenen Konflikte. Zugleich eröffnet der Sammelband damit jedoch auch dahingehend neue Forschungsperspektiven, dass er zur Erforschung der Erinnerungskultur und ihres Wandels an anderen Orten sowie in anderen Regionen und Ländern anregt. Erst weitere derartige Untersuchungen können zu zuverlässigen Aussagen über Erinnerungskulturen und ihren Wandel auf der historischen Makroebene führen. Der vorliegende Sammelband stellt somit einen ersten Schritt und wichtigen "Baustein" [4] für eine solche Gesamtdarstellung dar.
Anmerkungen:
[1] Bernd Schönemann: Geschichtskultur als Forschungskonzept der Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 1 (2002), 78-86, hier 82.
[2] Vergleiche Schönemann (Anmerkung 1), 83.
[3] Siehe hierzu exemplarisch Corinna Tomberger: Das Gegendenkmal. Avantgardekunst, Geschichtspolitik und Geschlecht in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, Bielefeld 2007; Dinah Wijsenbeek: Denkmal und Gegendenkmal. Über den kritischen Umgang mit der Vergangenheit auf dem Gebiet der bildenden Kunst, München 2010.
[4] Vergleiche Schönemann (Anmerkung 1), 83.
Marco Dräger