Hans Belting / Heinrich Dilly / Wolfgang Kemp / Willibald Sauerländer / Martin Warnke (Hgg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung, 6., überarbeitete und erweiterte Aufl., Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2003, 431 S., ISBN 978-3-496-01261-0, EUR 29,00
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Einführungen in die Kunstgeschichte und "Reader" haben seit längerem "Saison". Umso sinnvoller erscheint es, die sechste, überarbeitete und erweiterte Auflage eines der frühesten (1. Auflage 1985) "Standardwerke" (Umschlagtext) dieser Gattung genauer unter die Lupe zu nehmen. Im Verhältnis zur fünften Auflage (1996) ist die Neuauflage um drei Beiträge erweitert, deren Integration zugleich einer zeitgemäßen methodischen Erweiterung des Faches Rechnung tragen soll. Es handelt sich dabei um Karl Clausbergs "Neuronale Bildwissenschaften", Horst Bredekamps "Bildmedien" als Auseinandersetzung der Kunstgeschichte mit den "neuen Medien" und László Bekes "Postmoderne Phänomene und New Art History". Auf diese Beiträge soll im Rahmen der vorliegenden Besprechung abschließend auch detaillierter eingegangen werden.
Jede Erweiterung und Aktualisierung einer "Einführung" muss sich mit einer - zumindest vorläufigen - "Kanonisierung" gegenwärtiger Methoden und Diskussionen auseinandersetzen. In Hans Beltings und Wolfgang Kemps Einleitung zum Abschnitt "Gegenstandsdeutung" (155f.) wird dieser Problemkreis der Aktualisierung sowie das "Schema eines verbindlichen Kanons" im Rahmen der vorliegenden Neuauflage auch explizit angesprochen. Gerade vor dem Hintergrund von kürzlich erschienenen "Methoden-Readern" (zum Beispiel Wolfgang Brassat / Hubertus Kohle, Köln 2003) wäre am konkreten Gegenstand zu fragen, warum semiotische, bild-anthropologische und -wissenschaftliche sowie kulturwissenschaftliche Ansätze beziehungsweise Definitionen von möglichen methodischen "Schnittmengen" zur jüngeren europäischen Historiographie - abgesehen von der ständig relevanten Frage des Umfanges des Buches - unterbleiben mussten. Ein inzwischen getilgter Beitrag zur Semiologie (von Rolf Duroy und Günter Kerner) war noch in der Erstauflage vorhanden. Das Programm des nächsten (XXVIII.) "Deutschen Kunsthistorikertages" (Bonn, März 2005) mit dem höchst aktuellen Rahmenthema "Zeitgenossenschaft als Herausforderung. Der Status der Kunstgeschichte heute" hätte vielleicht auch eine Anregung geben können, das (inzwischen ebenso weite wie problematische) Feld "Kunstgeschichte und Beruf" in einem Beitrag zu beleuchten. Implizit werden bei manchen Beiträgen (Warnke und Dilly) diese Fragen auch angesprochen, aber nicht näher konkret vertieft.
Das Problem jedes Sammelbandes, so auch des vorliegenden, besteht weitgehend darin, dass die einzelnen Beiträge individuell ergänzt und überarbeitet wurden (und damit einen höchst unterschiedlichen Grad der "Aktualisierung", etwa in den Literaturangaben, aufweisen), wobei aber - dem Leser dienliche - Verbindungen und Verweise weitgehend fehlen. Das gilt vor allem für Martin Warnkes einleitende Definition der Gegenstandsbereiche und für die Verweise auf die inzwischen vielzitierte "ikonische Wende" (jedoch ohne Verweis auf Bredekamps nun in den Band integrierte Ausführungen zu dieser Thematik). Es führt dazu, dass selbst minimale inhaltliche Verschränkungen der einzelnen Beiträge untereinander nicht auftreten. Dieses Faktum springt besonders im Vergleich von Warnkes (heute eher statisch anmutenden) Definitionen der Gegenstands- und Funktionsbereiche von Kunst (besonders 29-31) zu den Beiträgen von Belting und Kemp ins Auge. Hier wird auch die unterschiedliche Herangehensweise der einzelnen Autoren an die einzelnen Fragestellungen augenscheinlich, da Warnkes und Sauerländers (im Verhältnis zu Ulrich Schießls Betrachtung der materiellen Befundsicherung eher knapp gehaltene) Einführungen durch viele Kursivsetzungen der Substantive gleichsam lehrbuchähnlichen und definitorischen Charakter anzustreben scheinen, während die meisten anderen Autoren ihren Gegenstand fast immer anhand eines ausgewählten konkreten Werkbeispiels demonstrieren. Zwei Artikel (Eberlein und Kemp) nehmen sogar ein- und dasselbe Werk (Nicolaes Maes' Gemälde "Die Lauscherin", um 1655) ins Visier. Der Grad der Aktualisierung springt am deutlichsten bei der Sekundärliteratur ins Auge: Während Warnkes Beitrag im wesentlichen die Auswahl der Erstauflage unverändert beibehält, wobei nach wie vor Joseph Brauns Untersuchungen zum christlichen Kultgerät als rezentester Verweis fungiert (!), sind hingegen die bibliographischen Erweiterungen bei Norbert Schneider nicht unbeträchtlich.
Im Gegensatz zu Oskar Bätschmanns Grundriss der Hermeneutik, der eine Zusammenfassung seiner "Einführung in die kunstgeschichtliche Hermeneutik" (1. Auflage 1984) darstellt und somit eine komprimierte methodische Systematik formuliert, sind die neuen Beiträge der vorliegenden Auflage bewusst "offener" und anschlussfähig (in Richtung der "cultural studies" und der historischen "postcolonial studies") gehalten. Dies auch deshalb, weil etwa die feministischen Ansätze (vorgestellt von Barbara Paul) gerade aus einer ständigen Auseinandersetzung mit traditionellen kunsthistorischen Vorstellungen ihre Wirksamkeit beziehen und zu deren latenter Destabilisierung beitragen. Auf einer Auseinandersetzung mit älteren Traditionen (prä-ikonographischen und ikonologischen Ansätze) basieren auch die von Karl Clausberg präsentierten "neuronalen Bildwissenschaften", die in der Tradition der Sinnesphysiologie und Hirnforschung des 19. Jahrhunderts stehen und die Bedingungen der Möglichkeiten des wissenschaftlichen und künstlerischen "Sehens" analysieren. Nicht ohne Grund findet sich Clausbergs Beitrag direkt vor jenem von Horst Bredekamp zu den "Bildmedien". Bredekamp, der sich für eine stärkere Verschränkung von Kunstgeschichte und Naturwissenschaft einsetzt, breitet auf der Basis von McLuhans und Luhmanns (einander entgegengesetzten) Medientheorien das reiche Feld der künstlerischen Medien aus, vom Schweißtuch der Veronika als erstem "körperdistanzierten" Bildmedium über die unterschiedlichen Phänomene der fotografischen Reproduktion bis zu den "bewegten Bildern" in Film und Video. Auffällig und für den Leser sehr hilfreich ist die Analyse dieser höchst unterschiedlichen Medien auf der Basis einer ständigen Reflexion über die theoretischen Voraussetzungen (besonders Panofsky, Barthes und Benjamin). Diesen Anspruch einer engen Verschränkung von dargestelltem Material und methodischer Demonstration erfüllt auch Lászlo Bekes Darstellung der postmodernen Kunstgeschichtsschreibung in ihrer starken Abhängigkeit von den Einflüssen der Ansätze Foucaults und Derridas.
Überblickt man den gesamten Band, könnte man diesen letztlich verkürzt auch mit poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Leitbegriffen wie "clôture" und "brisure" beschreiben: Das Fach ist in seiner methodischen Selbstreflexion geprägt von ständigen Schnitten, Brüchen und Anpassungen. Letztere zeitgemäß vorgenommen zu haben, ist das Verdienst von Herausgeber und Autoren. Allerdings könnten manche störende Druckfehler (zum Beispiel 17. statt 7. Jahrhundert auf 39) in einer - sicher zu erwartenden - Neuauflage bereinigt werden. Darüber hinaus wäre auch eine gesteigerte Zahl von Abbildungen wünschenswert.
Werner Telesko