Hans Belting: Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des Blicks, 3. Auflage, München: C.H.Beck 2009, 319 S., 109 Abb., ISBN 978-3-406-57092-6, EUR 29,90
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Kunsthistoriker erfahren mit ihren schönen Büchern einen Riesenvorteil: Sie sprechen den visuellen Sinn an und können durch eine treffliche Auswahl Lawinen an Assoziationen auslösen. So mag es dem Leser mit diesem Band Hans Beltings über seine westöstliche Geschichte des Blicks am Beispiel Florentiner und Bagdader Perspektiven gehen. Seine Ausstattung lädt zum Verweilen ein, sein Text zum Blättern, Stöbern und Nachdenken.
Florenz habe er ausgewählt, erklärt Belting einführend, weil in dem Ort der Renaissance mit dem Perspektivwechsel die wohl wichtigste Bildidee der westlichen Kultur erfunden worden sei. Hingegen weise Bagdad auf den arabischen Beitrag zur Wissenschaft hin, der in der Renaissance tiefe Spuren hinterlassen habe. Gleich kommt er zu seiner Kernthese, wonach der Kunst der Perspektive eine Theorie arabischen Ursprunges zugrunde gelegen habe: eine mathematische Theorie der Sehstrahlen und der Geometrie des Lichts. Dieser Autor aus dem Jahrgang 1935 betitelt seine Einführung mit "Kulturbeschreibung durch Blickwechsel". So ist der Band gleichwohl angelegt, dem Vorlesungen zugrunde lagen.
Die ersten drei Kapitel behandeln die Perspektive als Bildfrage, eine Kritik des Sehens im Islam und Alhazens Vermessung des Lichts (Camera obscura). Die folgenden drei Teile erhellen die Sehtheorie im Wandel der Bildtheorie, Brunelleschis Vermessung des Blicks und das Subjekt im Bild. In den Schlussbemerkungen kommt Hans Belting auf den Blick im Kulturvergleich zurück. Bevor hier Alhazen näher betrachtet werden soll, sei in einer knapp referierenden Darstellung aus den Schlussbemerkungen der hohe Anspruch dieses Bandes angedeutet, wobei das Fazit den Inhalt lediglich punktuell zusammenfassen kann.
Erst in dem Kulturvergleich erscheine der westliche Charakter der besonderen Beziehung zwischen Blick und Bild. Dem Betrachter und dessen Weltsicht werde dabei ein Spiegel vorgehalten. Die westliche Perspektive stelle einen "ikonischen Blick" dar, ein zum Bild geronnener Blick. Die "Ikonologie des Blicks" sei nichts anderes als der Begriff für eine Bildgeschichte, in der auch die Geschichte des kollektiven und individuellen Blicks wie die seines historischen und sozialen Wandels überliefert sei (alles sehr kulturverwurzelt).
In der Vorstellung werden die Bilder geboren, erläutert Belting, die wir uns von der Welt machen: mentale Bilder, die auch in der arabischen Kultur ihre feste Bedeutung hatten, wobei sie dort einer Kritik an der Repräsentation ausgesetzt waren. Bei der Darstellung denken wir dagegen meist an physische Bilder, mit denen unsere Vorstellung kontrolliert werde. Der Schleier, Symbol der Unterdrückung der Frau in islamischen Gesellschaften, stellte einmal eine fein abgestufte Blickkultur dar, die beide Geschlechter verpflichtete und die Grenze zwischen dem privaten und öffentlichen Raum geregelt habe. Die nicht perspektivischen Buchminiaturen der iranischen Kunst zerlegten den Raum in getrennte Zonen. Die Fenstergitter der Mashrabiyya trennten als Blickschwelle innen und außen.
Abschließend verweist Hans Belting auf einige Subregionen der islamischen Räume. Ein Exkurs in die ostasiatische Kunst, sagt er, könne kein Modell für die Aufgabe liefern, den Kulturvergleich des Blicks zwischen der westlichen Welt und Nahost zu unternehmen. Denn Fernost sei doch eine Sphäre der Bildlichkeit, die den Westen von Nahost trenne.
Dem Leser fällt auf, dass sich Hans Belting für nahöstliche und mehr noch islamische Räume nicht gerade auf üppige empirische Studien stützen kann. Sicherlich bringt dies gleichwohl das sogenannte Bilderverbot im Islam mit sich, das unter anderem Silvia Naeff (Beck 2007) ausgelotet hat. Zum anderen spielen hierbei linguistische und andere thematische Schranken ihre Rolle. Zugunsten Beltings sei betont, dass seine interkulturelle Bemühung Seltenheitswert hat: Oft bleiben viele bei ihren Leisten. Aber alle begrüßen empirischen Zuwachs, etwa Adrian Gullys The Culture of Letter Writing in Pre-Modern Islamic Society (Edinburgh University Press 2008). Wenige blicken über den Tellerrand.
Den empirischen Mangel auf den islamischen Seiten macht Belting durch übergreifende theoretische Ideen wett. Er waltet als westöstlicher Pionier, der Neuland bestellt, das nun in nahöstlichen Richtungen kultiviert werden kann. Sein Ansatz, die Kulturbeschreibung durch Blickwechsel, schlägt goldene Brücken. Um sie bemühen sich auch Orientalisten: Sehepunkte anderer Seiten zu erforschen und darzustellen. Von dort her kann die eigene Kultur in ihren allgemeinen, besonderen und einzelnen Aspekten überhaupt erkannt und reflektiert werden. Keine historische Erdregion ist allein aus sich heraus erklärbar. Stets bedarf es der Komparatistik. Hans Belting verweist auf ein Defizit, das nun berührt wird.
Der Autor begründet im dritten Kapitel, dass die Bild-Perspektive auf einer optischen Theorie älteren Ursprungs beruhe. Die arabische Sehtheorie sei an westlichen Schulen bereits im 13. Jahrhundert bekannt gewesen. Doch sei daraus erst zwei Jahrhunderte später eine Bildtheorie geworden. Dieser Wandel habe keine wissenschaftlichen Gründe gehabt, sondern sei eine kulturelle Entscheidung gewesen. Dennoch: Ein Bildbegriff sei der arabischen Wissenschaft ebenso fremd gewesen wie er in der arabischen Kunst mit ihrem Primat der Geometrie fehlte. Die Wissenschaftsgeschichte habe dies noch nicht beachtet. Laut Belting bilde nicht nur die westliche Moderne den Maßstab, sondern man möge seine Kultur in das Licht einer anderen Kultur setzten: Das sei ein Weltverhältnis.
Er betont, Abu Ali al-Hasan Ibn al-Haitham (965-1040) habe Euklid und Ptolemäus auf eine neue Basis gestellt und die Dunkelkammer erfunden. Der "arabische Archimedes", im Westen als Alhazen bekannt, habe mit seiner optischen Theorie die westlichen Wege bis Kepler und Galilei geprägt. Hans Belting nutzt für Alhazens "Kitab al-Manazir", das lateinisch bescheiden als Opticae Thesaurus (Basel 1572) firmiert, eine freie Übersetzung als "Buch der Sehtheorie". Dem Arabischen käme aber besser "Buch der Anblicke (oder "Sehepunkte", "Perspektiven") näher. Die arabischen Erklärungen, die Belting aus der Handschrift von 1083 beifügt, künden von "Bildern der Linse", Suwar al-Adas, und vom gemeinsamen Sehnerv, al-Asba al-Mushtaraka. Anregend sind Beltings diverse Ausflüge, bei denen er erneut die Florentiner Arten der Perspektiven, die arabische Sehtheorie und italienische Bildtheorie erörtert. Zu den "Bagdader Sehepunkten" indes scheint das letzte Wort noch nicht gefallen zu sein. Was für ein überaus gehaltvolles und produktives Buch.
Wolfgang G. Schwanitz