Sigrid Jahns: Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil II: Biographien (= Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich; Bd. 26), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003, 2 Bde., 1466 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-412-06503-4, EUR 119,00
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Wenn eine Studie, die im Wintersemester 1990/91 vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Universität Gießen als Habilitationsschrift angenommen worden ist, erst im Jahr 2003 erscheint, und dann auch nur in ihrem zweiten Teil, mag mancher Rezensent die Stirn runzeln. Angesichts der beiden vorliegenden, in jeder Hinsicht gewichtigen Bände, verstummt eine solche Kritik jedoch schon im Ansatz. Auf stattlichen insgesamt 1528 Druckseiten zuzüglich einer CD-ROM wird hier nämlich ein monumentaler Forschungsertrag vorgelegt, der eine neue Dimension in der Geschichte des Alten Reichs eröffnet. Die hier versammelten Biografien sämtlicher Assessoren und sonstigen Präsentierten des Reichskammergerichts in der Zeit von 1740 bis 1806 stellen nicht nur "jede für sich einen mehrere Generationen umfassenden sozialen Mikrokosmos" dar (IX), sondern leisten insgesamt einen bislang einmaligen Forschungsbeitrag zur Zusammensetzung des Reichspersonals in der letzten Epoche der Reichsgeschichte und damit zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches insgesamt.
Von den insgesamt 128 Biografien betreffen 92 Personen, die zwischen dem 1. Januar 1740 und dem 6. August 1806 (dem Tag der Abdankung Franz' II.) in Wetzlar als Beisitzer amtierten, und 36 sonstige Präsentierte, die zumindest ein Generalexamen ablegten, deren Bewerbungen jedoch aus den verschiedensten Gründen scheiterten. Geordnet sind die Biografien nicht alphabetisch, sondern nach den Präsentationsberechtigungen, beginnend mit den ranghöchsten, kurfürstlichen, über die kaiserlichen und diejenigen der Reichskreise bis hinab zu der alternierenden evangelischen Kreis-Präsentation - durch die nur ein einziger Beisitzer ins Kameralkollegium gelangte (X f.). Innerhalb der einzelnen Präsentationen sind die Biografien chronologisch geordnet. Denselben Gliederungsprinzipien folgt auch der erste der beiden "Wegweiser" zu ihrer Erschließung; der zweite dagegen reiht die Biografien alphabetisch aneinander und verweist auf ihre laufenden Nummern sowie die betreffenden Präsentationsberechtigungen. Das folgende "Sachregister" ist kein "Sachregister im landläufigen Sinne", sondern es erschließt eine Auswahl von "aus sozial- und verfassungsgeschichtlicher, speziell präsentationsrechtlicher Sicht relevanten Phänomene[n]", die in den Biografien fassbar sind (XXXIII). Register im eigentlichen Sinne fehlen - angesichts der Fülle der dargebotenen Informationen lässt sich die Aussage der Verfasserin nachvollziehen, dass dafür ein weiterer Band erforderlich gewesen wäre. Dankenswerterweise wird dieses Manko jedoch durch die beiliegende CD-ROM aufgefangen. Auf ihr sind sämtliche Biografien in Volltext enthalten und können so per Suchprogramm erschlossen werden.
Die einzelnen Biografien sind nach einem identischen Schema aufgebaut. Dadurch werden sie leichter vergleichbar und zugänglich für übergreifende Fragestellungen. Der Kopf der Biografie gibt Namen, gegebenenfalls Adelstitel und akademische Grade sowie den Status am Reichskammergericht an. Es folgen die Lebensdaten und Angaben zur Familie (Eltern, Großeltern, Standeserhöhungen, Ehefrauen, Kinder). Den anschließenden, ausformulierten Abschnitt zum Sozialprofil betrachtet Jahns als das eine "Herzstück" der Biografien (XVII), das andere bilden - naturgemäß - die Ausführungen zur Repräsentation und zur Karriere beim Kammergericht, denen Angaben zur Ausbildung sowie zur Vor- (und gegebenenfalls Nach-) Karriere vorangehen. Im Rahmen der "Repräsentationsgeschichte" werden "alle Besonderheiten herausgearbeitet und interpretiert, so die Hintergründe beim Zustandekommen der Präsentation, vor allem aber die Probleme, die sich einem glatten Verfahrensablauf in den Weg stellten" (XX). Die abschließenden Punkte - Berichte über etwaige weitere Präsentationen und Bewerbungen auf andere hohe Posten, eine Würdigung für besonders profilierte Assessoren sowie ein Schriftenverzeichnis beziehungsweise der Verweis auf ein Werkverzeichnis - sind nicht in allen Biografien enthalten.
Ganz unterschiedliche Persönlichkeiten werden dem Leser hier vorgestellt. Zum Beispiel Franz Georg Leykam: Als dieser 1753 von Maria Theresia als Kandidat für die kurböhmische Assessorenstelle präsentiert wurde, erhob sich in Wetzlar erheblicher Widerstand gegen die Zulassung des Sohnes eines Mainzer Lohnkutschers, für Sigrid Jahns ein Beispiel "krassesten Standesdünkels und pervertierten Elitedenkens" (186). Angesichts der empörten Reaktion des Wiener Hofes wurde Leykam dann doch zugelassen und konnte 1758 seinen Sitz im Kameralkollegium einnehmen. Als er 1766 Wetzlar verließ, war das Bedauern über den Fortgang des "viri meritissimi" allgemein (187), der im kaiserlichen Dienst dann noch bis zum kaiserlichen Konkommissar beim Reichstag aufstieg. Eine ähnlich steile Nachkarriere erlebte auch Franz Joseph von Albini, zunächst in kurmainzischen / fürstprimatischen Diensten und schließlich 1815/16 als österreichischer Präsidialgesandter beim Deutschen Bundestag in Frankfurt (776 f.).
Keinesfalls aber stellte das Reichskammergericht für die Assessoren üblicherweise nur eine Durchgangsstation dar. Auch für so prominente Juristen wie den ehemaligen Marburger Professor Johann Ulrich von Cramer bildete Wetzlar den Endpunkt ihrer Karriere. Allerdings war Wetzlar für Cramer nur die zweite Wahl. Lieber hätte er 1745 eine Stelle im Reichshofrat Franz' I. eingenommen, wie schon 1742 bis 1745 unter seinem Vorgänger Karl VII. Da er sich in der österreichischen Erbfolgefrage jedoch zugunsten der wittelsbachischen Ansprüche engagiert hatte, gelangte in Wien nicht er, sondern Heinrich Christian von Senckenberg zum Zuge, der seinerseits für den Reichshofratsposten auf die Realisierung einer Präsentation in Wetzlar (durch die evangelischen Stände des Fränkischen Kreises) verzichtete (661 f.). Diese "Karrierewünsche beziehungsweise Karriereentscheidungen" macht Jahns zu Recht als "Indikatoren für die unterschiedliche Attraktivität [der] beiden formal gleichrangigen Reichsgerichte" in den 1740er-Jahren aus: Den "Weg von Wien nach Wetzlar" (662) nahm im Untersuchungszeitraum kein einziger Jurist - Cramer als der einzige gewesene Reichshofrat am Reichskammergericht hatte ja am Münchner beziehungsweise Frankfurter Hof des Wittelsbacher Kaisers amtiert und erscheint somit in doppelter Hinsicht als Ausnahme.
Der Wert der Arbeit liegt nicht zuletzt auch darin, dass neben den aus anderen Kontexten schon mehr oder weniger bekannten 'Spitzenkräften' des Reichskammergerichts auch die weniger profilierten Assessoren in den Blick geraten, über die es sonst kaum Informationen gibt. Auch hier sind manche Besonderheiten zu beobachten, so die Tatsache, dass sich der österreichische Präsentatus Heinrich Ludwig Karl Gebler (1724-1782) 1775 bei seiner Präsentation sechs Jahre jünger machte, um nicht altershalber ausgeschlossen zu werden. Kurios erscheint der Fall des kurbrandenburgischen Präsentatus Karl Christoph Albert Heinrich von Kamptz, dessen Vokation zwar schon 1805 beschlossen wurde, dessen Abreise nach Wetzlar sich jedoch bis in den Sommer 1806 verzögerte, sodass er erst am 18. August am Sitz des Gerichts eintraf, zwölf Tage, nachdem Franz II. in Wien die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches niedergelegt hatte. Auch wenn er also niemals am Reichskammergericht amtiert hatte, erhielt er Bezüge aus der Sustentationskasse für die ehemaligen Assessoren, bis er 1811 in preußische Dienste eintrat (365 f.). Nicht zuletzt werden auch die Gründe für das Scheitern von Präsentationen fassbar, wie 1745 beim kurbrandenburgischen Präsentatus Thomas Heinrich von Huß, dessen Proberelation derart mangelhaft war, dass er nicht einmal zu einem zweiten Versuch zugelassen wurde (305).
Diese wenigen Beispiele mögen andeuten, welch gewaltigen Fundus an Informationen die beiden Bände beinhalten. Schon die Einzelbiografien werfen erhellende Schlaglichter auf das Ganze, zumal die Verfasserin immer wieder Verknüpfungen zu den Lebensgeschichten anderer Assessoren wie auch zur allgemeinen Reichsgeschichte herstellt. Mit umso größerer Spannung erwartet der Leser das Erscheinen des ersten Teils des Gesamtwerks, der die eigentliche Auswertung der im zweiten Teil präsentierten Daten (sowie auch das Literaturverzeichnis) beinhalten wird.
Matthias Schnettger