Stefan Seitschek / Sandra Hertel (Hgg.): Herrschaft und Repräsentation in der Habsburgermonarchie (1700-1740). Die kaiserliche Familie, die habsburgischen Länder und das Reich (= bibliothek altes Reich (baR); Bd. 31), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2020, VIII + 478 S., 32 Abb., ISBN 978-3-11-066673-1, EUR 79,95
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Karl VI. regierte knapp drei Jahrzehnte als Erwählter Römischer Kaiser und als Herrscher über die Zusammengesetzte Monarchie der österreichischen Habsburger (1711-1740), nachdem er zuvor mehrere Jahre als spanischer Gegenkönig "Karl III." in Barcelona geweilt hatte. In seiner Zeit erreichten die Besitzungen der Österreichischen Habsburger ihre größte Ausdehnung. Zugleich war er der letzte männliche Habsburger, der zur Vermeidung eines Sukzessionskonflikts schon 1713, als er noch kinderlos war, vorsorglich die Pragmatische Sanktion erließ, dessen Bestrebungen, seiner ältesten Tochter Maria Theresia eine reibungslose Nachfolge zu ermöglichen, im Österreichischen Erbfolgekrieg aber krachend scheiterten. Mit Blick auf die Krise der Monarchie am Ende seiner Herrschaft gilt Karl eher als ein glückloser Herrscher. Aber gerade die Spannung zwischen äußerer Machtentfaltung und verheerenden Niederlagen, zwischen Glanz und Dekadenz würden nahelegen, dass dieser Kaiser durch die Forschung erhebliche Aufmerksamkeit gefunden hätte.
Dem ist aber mitnichten so. Vielmehr ist der Herausgeberin und dem Herausgeber beizupflichten, wenn sie in ihrem "Vorwort" (eigentlich eine substanzreiche Einleitung) konstatieren: Karl VI. "taucht vorwiegend als Vater Maria Theresias und Verfechter der Pragmatischen Sanktion auf" (31). Es besteht also reichlich Forschungsbedarf. Daher ist das Erscheinen dieses Bandes zu begrüßen, dessen Beiträge größtenteils auf die Vorträge zurückgehen, die auf einer einschlägigen internationalen Konferenz im März 2019 gehalten wurden. Vor dem Hintergrund der skizzierten Forschungslage ist es nicht von Nachteil, dass gleich zwei Forschungsberichte am Anfang stehen: einer im Rahmen des Vorworts und einer von Leopold Auer. Als eine gravierende Forschungslücke benennt Auer das Fehlen einer wissenschaftlichen Biografie Karls VI. Eine unabdingbare Voraussetzung, um diese Lücke füllen zu können, sei "die Aufarbeitung der eigenhändigen schriftlichen Äußerungen Karls VI., seiner Korrespondenz, seiner eigenhändigen Resolutionen auf Vorträge und seines Tagebuchs" (54).
Der Beitrag von Leopold Auer steht am Beginn der ersten Sektion "Die kaiserliche Familie". Außerdem berichtet hier János Kalmár über die Erziehung Karls. Er konzentriert sich dabei auf das Personal, gibt aber auch einige Informationen zu den Erziehungsinhalten. Gleich zwei Texte haben Gesandtenberichte als Quellengrundlage: neben dem Beitrag von Charlotte Backerra über die Wahrnehmung des Kaiserpaars aus britischer Sicht der Aufsatz zur wechselseitigen Wahrnehmung der Höfe Karls VI. und des Preußenkönigs Friedrich Wilhelms I. von Frank Göse, der in seinem Fazit das große Potential dieser Quellengattung für die Hofforschung hervorhebt (113). Der letzte Aufsatz der Sektion stammt von Michael Pölzl, der neue Erkenntnisse zur Regentschaft der Kaiserinmutter Eleonore Magdalena im Jahr 1711 und zu Karls Schwägerin Amalia Wilhelmina beizutragen hat.
Die zweite Sektion "Höfe und Residenzen" beginnt mit einem großangelegten Überblick von Virginia León Sanz über die Zeit Karls als spanischer Gegenkönig in Barcelona. Susanne Fritsch-Rübsamen und Andreas Weigl zeigen in ihrem Beitrag über Wien in den ersten vier Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, dass die kaiserlichen Bestrebungen, eine effiziente Kontrolle über die Angelegenheiten der Haupt- und Residenzstadt zu erhalten, nur begrenzte Erfolge zeitigten und vielmehr zu einem Kompetenzwirrwarr führten - was einmal mehr ein entlarvendes Licht auf das Absolutismus-Paradigma wirft. Elisabeth Garms-Cornides greift mit "Karl VI. und 'seine' Spanier" ein Thema auf, das die Forschung schon mehrfach beschäftigt hat. Man merkt dem Beitrag nicht an, dass er auf einem mehr als 20 Jahre alten Vortragsmanuskript beruht (Anm. 1). Vielmehr kann die Verfasserin u.a. durch die Auswertung von Testamenten wesentliche neue Erkenntnisse zur Situation der Exil-Spanier in Wien beisteuern. Pia Wallnig schließlich untersucht den vizeköniglichen Hof in Neapel, insbesondere während der Amtszeiten der beiden letzten Vizekönige der österreichischen Epoche (1707-1734), Aloys Thomas Raimund Graf Harrach und Giulio Conte Visconti Borromeo Arese.
Der Beitrag von Susanne Fritsch-Rübsamen und Andreas Weigel hätte auch im dritten Teil verortet werden können, der der "Herrschaftspraxis" gewidmet ist. Stattdessen beginnt die Sektion mit einem Aufsatz von András Forgó zur politischen Kommunikation auf dem ungarischen Landtag von 1722/23, auf dem die Annahme der Pragmatischen Sanktion als ein Akt der Versöhnung des Hauses Habsburg mit den Ungarn inszeniert wurde. Sabine Jesner widmet sich "Amtskommunikation und Personalwesen" in einem während der Regierung Karls VI. neuerworbenen Territorium, dem Banat. Neues Licht wirft Stefan Meisterle auf die abgelegenste Besitzung Karls VI., "Kaiserlich Ostindien", das trotz der Aufhebung der Ostende-Kompanie durch den Zweiten Wiener Vertrag von 1731 fortbestand und erst in den Anfangsjahren Maria Theresias abgewickelt wurde. Stefan Seitschek widmet sich in seinem umfangreichen Beitrag der Geheimen Finanzkonferenz und damit einem Themenfeld, das in der bisherigen Forschungsliteratur üblicherweise als einer der größten Schwachpunkte der Regierung Karls VI. firmiert, eben der Finanzpolitik. Der Autor kommt für seinen Gegenstand zu einem differenzierteren, wenn auch vorläufigen, Ergebnis. Man darf auf die weiterführenden Studien gespannt sein, die er am Ende in Aussicht stellt. Auch der letzte Aufsatz der Sektion ist den Finanzen gewidmet. Manfred Zollinger gibt einen Überblick über "Lotterien in der Habsburgermonarchie" in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das der Verfasser mit gutem Grund als das eigentliche Jahrhundert der Lotterien charakterisiert (329).
In der vierten und letzten Sektion, "Repräsentation und Herrschaft", wird einmal mehr das hohe Niveau erkennbar, das die Forschung zur Herrschaftsrepräsentation der österreichischen Habsburger erreicht hat. Friedrich Polleroß widmet sich den Porträts Karls VI. Sandra Hertel weist die große Bedeutung der Insignien in der Herrschaftsrepräsentation Karls VI. nach. Neben der Reichskrone, die den höchsten, nämlich den kaiserlichen, Rang Karls repräsentierte, besaß auch die rudolfinische Hauskrone einen hohen Stellenwert, da sie ebenfalls den habsburgischen Anspruch auf die Kaiserwürde dokumentierte und zugleich "all jene Würden und Titel" vereinte, "die die Habsburger im Verlauf der Frühen Neuzeit anhäufen konnten" (397). Somit entsprach sie in geradezu idealer Weise den Zielen, die Karl mit der Pragmatischen Sanktion verfolgte. Einen fundierten Überblick über Münzen und Medaillen im Dienst der Herrschaftsrepräsentation Karls VI. gibt sodann Anna Fabiankowitsch. Die Sektion wird beschlossen von einem Beitrag von Andrea Sommer-Mathis und Danièle Lipp, die mit neuen Erkenntnissen zum Musiktheater am Hof "Karls III." in Barcelona aufwarten und damit zu einer Form der Herrschaftsrepräsentation, die bei den Habsburgern eine herausragende Bedeutung besaß.
Außerhalb der Sektionen steht in einem "Epilog" ein Beitrag von Thomas Wallnig, der am Beispiel der Habsburgermonarchie einige Folgen des "digital turn" für die Geschichtswissenschaft aufzeigt. Naturgemäß kann er zum gegenwärtigen Zeitpunkt mehr Fragen formulieren als Antworten geben. Mit seiner Warnung, dass "die Errungenschaften der kulturwissenschaftlichen Wende nicht einem neuen Datenpositivismus geopfert werden" sollten (472), benennt er eine der zentralen Herausforderungen für eine adäquate Integration der digital humanities in den Methodenkanon der Geschichtswissenschaften.
Der Band markiert einen erheblichen Erkenntnisfortschritt zur Geschichte Kaiser Karls VI. Über die Grenzen der Sektionen hinweg lassen sich manche Querverbindungen und Akzente erkennen. So liegt ein Akzent auf der Zeit vor dem Regierungsantritt Karls als Kaiser (Beiträge Kalmár, León Sanz und Sommer-Mathis / Lipp). Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt des Bandes ist bei den Frauen im Umfeld Karls VI. angesiedelt. Offensichtlich ist dieser Fokus beim Aufsatz von Michael Pölzl. Doch auch Charlotte Backerra beleuchtet ausdrücklich nicht nur Karl VI., sondern "[d]as kaiserliche Paar aus britischer Sicht", ebenso wie es Pia Wallnig um das vizekönigliche Paar, also auch um die Vizekönigin, geht. Damit machen sich die beiden Autorinnen das Konzept des Herrschafts- bzw. Amtspaars zu eigen. Ebenso spielt in Virginia León Sanz' Überblick zu Karls Zeit in Barcelona seine Frau Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel eine wichtige Rolle, und auch in anderen Beiträgen werden Frauen in viel stärkerem Maß berücksichtigt, als das vermutlich vor wenigen Jahrzehnten der Fall gewesen wäre. Dass die zweifellos berühmteste Frau im Umfeld Karls VI. - seine Tochter Maria Theresia - in dem Band zwar durchaus präsent ist, aber in den meisten Aufsätzen eine vergleichsweise randständige Rolle einnimmt, ist angesichts der zahlreichen Neuerscheinungen zu ihrem 300. Geburtstag zu verschmerzen.
Die vierte Sektion und der "Epilog" sind reich bebildert. Bedauerlicherweise fehlt ein Register. Aber das ist aus meiner Sicht auch schon das gravierendste Monitum, das gegen diesen ertragreichen Band zu formulieren wäre.
Matthias Schnettger