Harm von Seggern: Herrschermedien im Spätmittelalter. Studien zur Informationsübermittlung im burgundischen Staat unter Karl dem Kühnen (= Kieler Historische Studien; Bd. 41), Ostfildern: Thorbecke 2003, 557 S., ISBN 978-3-7995-5941-6, EUR 48,00
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In seiner vorliegenden Kieler Dissertation hat sich Harm von Seggern eine einfache, aber faszinierende Frage gestellt: Wer innerhalb der Führungsschicht wusste wann, woher und wie schnell, was im Land vor sich ging? Hinter der trügerischen Banalität der Fragestellung verbergen sich mindestens drei höchst ehrgeizige Ziele: In methodischer Hinsicht geht es darum, der Geschichte des Nachrichten- und Botenwesens, bislang allzu oft ein populär- und halbwissenschaftlich geprägtes Feld, ihren legitimen Platz als Teil der Sozialgeschichte des Spätmittelalters zu erschreiben. In konzeptioneller Hinsicht zielt von Seggern auf ein bewusst verengtes Bild einer Kommunikations- und Mediengeschichte, in der "Kommunikation" als weit gefasster Sammelbegriff für symbolische Praktiken, die Ausbreitung von Wissensbeständen, die Herstellung von Öffentlichkeiten oder von Konsens ersetzt wird durch die konkrete Übermittlung von benennbaren Nachrichten als administrative und soziale Organisationsleistung. Zum Dritten sollen diese Ansätze historisch nutzbar gemacht werden, indem zunächst die administrative Durchdringung des burgundischen "Staates" anhand seiner Herrschermedien überprüft und schließlich der Mediengebrauch in diesem Sinne als Basis eines Gesellschaftsmodells skizziert wird. Zweieinhalb dieser drei Ziele, soviel sei vorweggenommen, hat er mit Bravour erreicht.
Vor Beginn der eigentlichen Untersuchung steht eine aus der Literatur gearbeitete Bestandsaufnahme, die den bisherigen Wissensstand über die Techniken der Informationsübermittlung im Spätmittelalter, vom Ausrufen über Signalfeuer bis zum berittenen Eilboten, detailliert und sehr ausführlich absteckt (Kapitel 2). Dieser Abschnitt dürfte als Kompendium auch außerhalb des Kontextes der folgenden Untersuchungen einen hohen Nutzwert behalten.
Das Kernstück der Arbeit ist eine Studie des Nachrichtenflusses zwischen dem Hof Karls des Kühnen (1467-1477) und der Grafschaft Holland als burgundischem Territorium. Dabei greift der Autor auf die Mechanismen der Informationsübermittlung hauptsächlich über die Rechnungsüberlieferung zu, in der sie sich - vereinfacht gesagt - als Botenlohn niederschlagen. Die Zeitabschnitte 1468-69 und 1473-74 sind dabei als "Kreuzjahre", in denen sich die Rechnungen der burgundischen Zentralverwaltung, des Rats von Holland als regionaler Regierungsbehörde sowie der holländischen Städte ergänzen, besonders berücksichtigt worden.
Kapitel 3 untersucht zunächst mit statistischen Methoden den Umfang und die Dichte dieses Nachrichtenaustausches. Zwischen Holland und dem Hof war er, außer in akuten Krisenzeiten, überraschend spärlich. Die Integration Hollands in den burgundischen Staat war, mit diesem Maßstab gemessen, nur schwach, das bisherige Bild der weit fortgeschrittenen Staatlichkeit Burgunds muss, so von Seggern, zumindest überdacht werden.
Das Botenwesen selbst wird im darauf folgenden Kapitel strukturell und prospografisch aufgeschlüsselt: Insgesamt über 200 Personen von sehr verschiedener Stellung, mit unterschiedlichen Einkommen und Aufstiegschancen kann der Autor nachweisen, von denen allerdings nur ein sehr kleiner Teil zum eigentlichen Hof gehörte.
Kapitel 5 zeigt, wie in Burgund das Problem der Multiplikation und Synchronisierung von Herrscherbefehlen gelöst wurde, einmal anhand einer Münzordonanz und dann anhand der Mobilmachung für die Neusser Belagerung im Herbst und Winter 1474: Schritt für Schritt, Botenreise für Botenreise werden diese "Reihenbriefaktionen" (227) nachgezeichnet.
Kapitel 6 vergleicht die Bekanntmachung zweier dynastischer Großereignisse: Während der Tod Philipps des Guten sofort unter Amtsträgern und Ständen im ganzen Land mitgeteilt wurde, bedurfte die Hochzeit Karls mit Margaretha von York keinerlei obrigkeitlicher Nachrichtenarbeit: Die aufwändigen Vorbereitungen besaßen genug Eigendynamik, um das Ereignis ganz von selbst bekannt zu machen.
Auch Kapitel 7 blickt über die holländischen Verhältnisse hinaus, und vergleicht die Verbreitung der Nachricht von der gescheiterten Königskrönung Karls in Trier in zwei Richtungen: Während sich die Neuigkeit im Reich ungehindert und rasch ausbreitete, fehlt in Burgund sehr lange jeder Hinweis auf Karls demütigende Niederlage. Dabei ist jedoch keine bewusste obrigkeitliche Nachrichten-Blockade zu beobachten, sondern eher eine ängstlich vorauseilende Selbst-Zensur: Da man für das Verbreiten der schmachvollen Nachricht Huldverlust befürchten musste, wurde sie von den auf burgundischer Seite Beteiligten nur unter der Hand, unter Vermeidung der schriftlichen und amtlichen Kanäle, weitergegeben. Von Seggern kann zeigen, dass diese selbst auferlegte Nachrichtensperre den gesamten burgundischen Verwaltungsapparat für viele Wochen nachgerade lahm legte.
Der letzte Abschnitt (Kapitel 8) schließlich ändert nochmals den Blickwinkel und fasst Herrschermedien als die Informationsquellen, die dem Herrscher zur Verfügung stehen. Anhand ausgewählter Fallbeispiele werden unter anderem die Berichterstattung durch den Rat von Holland, Gesandtschaften der Städte und Stände sowie die Rolle von Bittgesuchen an den Herzog abgehandelt.
Der gesamte "empirische Teil" (24) der Arbeit ist in großer Konsequenz und Genauigkeit aus den Quellen heraus gearbeitet und überwältigend ausführlich dokumentiert. Das Quellenzitat überwiegt dabei gegenüber der Paraphrase, das Auszählen und Vergleichen von Samples gegenüber der Gesamtschau, wobei methodische Schwierigkeiten und Unwägbarkeiten ehrlich und nachvollziehbar mitdokumentiert werden. Es ist dem Autor hoch anzurechnen, dass er sich um eine anschauliche grafische Umsetzung quantitativer Quellenauswertung bemüht hat, die Reise- oder Kurstafeln etwa (vergleiche 110-112) bringen als Ergänzung zur narrativen Darstellung der Wege von Boten und Nachrichten einen deutlichen Mehrwert an Übersichtlichkeit und Nachvollziehbarkeit. Nur selten stört die Detailfülle der Darstellung den Lesefluss, etwa wenn noch innerhalb der abschließenden Zusammenfassung der Ergebnisse neue Fallbeispiele angeführt werden (384-386).
Abschließend versucht der Autor, die Ergebnisse in ein soziologisches Gesellschaftsmodell zu überführen und setzt damit einen den Rezensenten wenig überzeugenden Schlussstrich. Er baut dabei auf das schon einleitend (43) vorgestellte Modell einer Hierarchie der "medialen Zeichen" und ihrer Nutzung auf, das die Kriterien der physischen Raumüberwindung und des Organisationsgrades zum Maßstab nimmt (ebenda). Die mündlich übermittelte Nachricht steht damit als "Gespräch" auf unterster Stufe, mit größtmöglichem Abstand zur schriftlichen Nachricht ("schriftlicher Text"). Angereichert mit den Untersuchungsergebnissen, wird dieses Schema eingebaut in ein Modell der sozialen Schichtung, das auf dem Theorieentwurf des Soziologen Gerhard Lenski beruht. Setzt das erste Modell den Einsatz von schriftlichen Kommunikationsmedien a priori gleich mit einem hohen Organisationsgrad in der Informationsübermittlung, so wird im zweiten der Zugang zu und der direkte Kontakt mit schriftlichen Herrschaftsmedien zum Prüfstein der Zugehörigkeit zu den "regierenden Klassen" (392). Nun ist die Schriftlichkeit aber weder das einzige noch das bestimmende Merkmal vieler der beschriebenen Herrschaftsmedien. Entscheidend erscheint vielmehr, dass verschiedene Herrschaftsmedien Schriftlichkeit in verschiedenem Ausmaß und auf verschiedene Weise einsetzen. Der Versuch, die Schriftlichkeit der Herrschermedien an sich zum Ausgangspunkt eines Modells sozialer Gliederung der spätmittelalterlichen Gesellschaft zu machen, greift deshalb meines Erachtens zu kurz. Es drohen so Unterschiede wieder verwischt zu werden, die die vorhergehenden empirischen Untersuchungen gerade in großer Detailschärfe herausgearbeitet haben.
Als nur ein Beispiel kann der Medien-Charakter der Gesandtschaften aufgegriffen werden, die vom Autor als eine der Nachrichtenquellen des Herrschers beschrieben werden (262-267). Eine Gesandtschaft beruht nun aber - so ließen sich die Ausführungen des Autors weiterentwickeln - entscheidend auf formalisierter Mündlichkeit (das Vorsprechen des Gesandten), die von Schriftlichkeit (Gesandteninstruktionen, Kredenzbriefe) eingerahmt wird. Das Senden von mehr oder weniger bevollmächtigten Vertretern (anstatt etwa eines Mitteilungsbriefes) ließe sich sogar als der bewusste Verzicht auf Schriftlichkeit beschreiben. Es handelt sich also um eine kommunikative Praxis, die sich in der Pragmatik der Medienverwendung von der rein brieflichen Korrespondenz ganz erheblich unterscheidet; ein Unterschied, der sich vermutlich gewinnbringend herausarbeiten ließe. Es stehen inzwischen durchaus erprobte analytische Konzepte zur Verfügung, die dies leisten können: Man denke an die aus der Sprachwissenschaft kommende Unterscheidung zwischen der medialen und der konzeptionellen Dimension sprachlicher Botschaften, man denke an das von Michael Clanchy vorgestellte und von Thomas Hildbrand aufgenommene prozessuale Schema von "making - using - keeping" von Schriftdokumenten. Auch die Münsteraner Forschungen unter dem Leitgedanken der "pragmatischen Schriftlichkeit" haben für die Verwaltungsschriftlichkeit des Spätmittelalters Einschlägiges erbracht. Dies bleibt aber auch der einzige ernsthafte Kritikpunkt an einem handwerklich bestechenden, methodisch klug konzipierten, innovativen und hoch willkommenen Buch.
Julian Holzapfl