Rezension über:

Elmar Rettinger: Die Umgebung der Stadt Mainz und ihre Bevölkerung vom 17. bis 19. Jahrhundert. Ein historisch-demographischer Beitrag zur Sozialgeschichte ländlicher Regionen (= Geschichtliche Landeskunde; Bd. 53), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, 507 S., 2 Abb., 75 Graphiken, 6 Karten, 157 Tabellen, ISBN 978-3-515-07115-4, EUR 76,00
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Rezension von:
Werner Marzi
Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Stephan Laux
Empfohlene Zitierweise:
Werner Marzi: Rezension von: Elmar Rettinger: Die Umgebung der Stadt Mainz und ihre Bevölkerung vom 17. bis 19. Jahrhundert. Ein historisch-demographischer Beitrag zur Sozialgeschichte ländlicher Regionen, Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2002, in: sehepunkte 4 (2004), Nr. 6 [15.06.2004], URL: https://www.sehepunkte.de
/2004/06/4704.html


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Elmar Rettinger: Die Umgebung der Stadt Mainz und ihre Bevölkerung vom 17. bis 19. Jahrhundert

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Rettingers Studie, die überarbeitete Fassung einer 1995 an der Universität Mainz angenommenen Dissertation, wendet konsequent die Fragestellungen und Methoden der Historischen Demografie an und konkretisiert sie an einem konkreten Fallbeispiel exemplarisch. Um ein erstes Urteil vorwegzunehmen: Diese Untersuchung bedeutet Grundlagenforschung par excellence. Wer den "Rettinger" durcharbeitet, absolviert neben einer interessanten Lektüre zugleich en passant einen Kurs in angewandter Historischer Demografie.

Zum Aufbau und Inhalt der Studie: In der Einleitung referiert der Verfasser den Forschungsstand der Historischen Demografie, zeigt ihre bisherigen Ergebnisse auf, reflektiert ihre Grenzen und Möglichkeiten und diskutiert die Quellenlage. Da es kaum zeitgenössische Aufzeichnungen aus dem ländlichen Milieu gibt, kommt den Kirchenbüchern eine besondere Bedeutung zu. Rettinger wertet Kirchenbücher von 12 Pfarreien beziehungsweise 16 politischen Gemeinden aus. Für vier dieser Pfarreien wurden zudem in penibler Kleinarbeit Familienrekonstitutionen erstellt. An weiteren Quellen wurden Bevölkerungszählungen und punktuelle Aufzeichnungen - der Pfarrer und Beamten vor allem - herangezogen, sowie, falls vorhanden, die Verzeichnisse der Schatzungspflichtigen, der Stimmberechtigten zur Zeit der französischen Herrschaft, Gemeinderechnungen, Kriegkostenrechnungen, Manumissions -und Leibeigenenlisten, Musterungslisten und Bürgeraufnahmen.

Rettinger ermittelt zunächst in sieben Kapiteln die Voraussetzungen und Bedingungen der Region, die er historisch-demografisch untersucht. Beschrieben und erläutert werden deren natürliche Grundlagen, ihre Besiedlung und die Verkehrswege, das Verhältnis von Gemeinde, Landeshoheit und Verwaltung und die Bedeutung der Dorfbefestigung für die Sicherheit und Selbstbestimmung der Dörfler. Besonders aufschlussreich sind die Ausführungen zur Kirchenorganisation und zum Verhältnis der Konfessionen zueinander, vor allem die Hinweise auf den Zusammenhang von Konfession und Mentalität, die gleichsam im Voraus die Ergebnisse der eigentlichen demografischen Untersuchung erahnen lassen. Ausführungen zur Bedeutung der Schule und des Gesundheitswesens, der Stellung der demografisch kaum relevanten Landjuden, der wirtschaftlichen Beschaffenheit und politischen Verfasstheit der Region und der sich daraus ergebenden Berufs- und Sozialstrukturen runden die ausgewogene Beschreibung der ausgewählten historischen Landschaft ab. Die ländliche Region "Umgebung der Stadt Mainz" kann zusammenfassend bestimmt werden als eine Landschaft mit günstigen natürlichen Voraussetzungen, die aber als Brückenlandschaft zugleich durch einen regen Durchgangsverkehr mit allen Vor- und Nachteilen geprägt wurde.

Die Landschaft war auf die Stadt Mainz hin ausgerichtet, die Hauptstadt des Erzbistums und des Kurstaates. Die von Rettinger untersuchten Orte waren alle mit Ausnahme des kurpfälzisch-kalvinistischen (bis 1732 pfalz-zweibrückischen) Essenheim kurmainzisch und katholisch. Essenheim hatte seit dem Anfall an Pfalz-Neuburg drei Konfessionen. Dies ist auch für die Bevölkerungsgeschichte relevant, da sich hier unterschiedliche Mentalitäten, besonders im generativen und medizinischen Verhalten, auf engstem Raum beobachten lassen, eine Chance, die Rettinger durchgängig nutzt. Die beschriebenen Landgemeinden waren fast ausschließlich agrarisch geprägt. Typisch war die Form des Familienbetriebes, der kaum Dienstpersonal aufwies, da die Höfe durch Realteilung in kleinere Einheiten aufgesplittert waren, anderseits ermöglichten die guten Böden und das milde Klima eine intensive Nutzung und sicherten den bäuerlichen Familien auch bei kleinen Betriebsflächen die Subsistenz. Allerdings war über die Hälfte der Bevölkerung darauf angewiesen, Land hinzuzupachten oder eine nichtagrarische Tätigkeit auszuüben, meist als Kleinhandwerker und Tagelöhner. Die Bodennutzung war durch Mischformen geprägt. Eine besondere Stellung hatte der Weinbau, der, dort, wo er gewinnoptimierend betrieben wurde, besonders arbeitsintensiv war, der jedoch aufgrund saisonaler Bedingungen keine "Gesindegesellschaften", sondern "Tagelöhnergesellschaften" schuf.

Insgesamt war die Sozialstruktur durch eine breite Mittelschicht geprägt. Der immer wieder kolportierte Ausspruch "Unter dem Krummstab lässt sich gut leben" scheint sich auch für das Mainzer Umland zu bewahrheiten, da sich die Belastungen, bedingt vor allem durch die geringeren Militärausgaben, in Grenzen hielten. Und die Residenzstadt bot vielfältige Absatz- und Arbeitsmöglichkeiten. In Friedenzeiten war die Lebenssituation somit durchaus erträglich. Aber das Durchgangsland im Weichbild der Residenz- und Festungsstadt war auch geprägt durch Heerzüge, Fourage, Kontributionen, Spann- und Schanzdienste einfordernde Truppen, durch Einquartierungen, litt auch unter den von Kriegsvölkern eingeschleppten ansteckenden Krankheiten. All dies schlug sich in den Heirats-, Geburts-, Sterbe- und Migrationsraten nieder. Die Festung Mainz war bei Freund und Feind ein ständig begehrtes Objekt, und alle wollten an die Ressourcen der Landbevölkerung. Außerhalb seiner Festung aber hatte der Kurfürst kaum die Macht, die Untertanen zu schützen.

In den beschriebenen sozial-, wirtschafts-, konfessions- und ereignisgeschichtlichen Kontext bettet Rettinger seine historisch-demografischen Untersuchungen ein. Das ausgebreitete Demonstrationsmaterial ist beeindruckend: 74 Grafiken, 6 Karten, 157 Tabellen. Diese grafisch-statistische Verdichtung allein ist auch eine wissenschaftliche und didaktische Leistung, der man nur mit außerordentlichem Respekt begegnen kann. Jede Tabelle, Karte, Grafik steht in einem Kontext, ist mit dem temporären und strukturellen Elementarhorizont verbunden und eingelagert in einen evaluierbaren und transparenten Interpretationsrahmen. Thematisiert werden nach Reflexionen über die "natürliche" Bevölkerungsbewegung und sowie die Problematik der Bevölkerungszahlen und -schätzungen überhaupt die zentralen Untersuchungsgegenstände der Historischen Demografie: demografische Krisen, Vitalstatistiken, Natalität, Nuptialität, Mortalität.

Darüber hinaus werden unter sozialgeschichtlichen Aspekten demografisch untersucht: die ländliche Familie, mit den Schwerpunkten Heiratsalter und Geburtenzahl, innereheliche Fruchtbarkeit, Alter der Frau bei der letzten Geburt, Geburtenfolge, protogenetisches Intervall und pränuptiale Konzeptionen. Abgeschlossen wird die Familienstudie mit Fragen der demografischen Transition - das heißt des Verhältnisses von Geburtenfrequenz und Sterberate - und, damit verbunden, der Bevölkerungsanstieg im 19. Jahrhundert. Im Kapitel "Beiträge zu Sozialstruktur und Migration" ist die Verbindung von Sozialgeschichte und Historischer Demografie besonders eng. Aufgezeigt werden im Detail Aspekte der Berufsstruktur, die sozialen Beziehungen am Beispiel der Wahl der Taufpaten und Heiratspartner. Trotz einer schwierigen Quellenlage gelingt es Rettinger die Migration durch außerdemografische Quellen zu erschließen, eine Abwanderungsbilanz zu erstellen und die Zuwanderung mittels der Herkunftsbezeichnungen zu lokalisieren.

Ein kurzes Resümee zu den 16 untersuchten (davon 15 katholischen) Dörfern des Mainzer Umlandes: Die Bevölkerungsstruktur zeigt das für katholische Landregionen erwartete Bild: relativ hohes Heiratsalter von Männer und Frauen, hohe Durchschnittskinderzahl (7 pro Frau), keine Geburtenplanung und medizinische Vorsorge wie in dem protestantischen Essenheim. Die Existenz der Menschen war vor allem im ersten Lebensjahr bedroht. Natalität und Mortalität schufen einen hohen "Bevölkerungsumsatz" (so die "objektive" Sachsprache der Bevölkerungswissenschaftler!). In den untersuchten Dörfern bestand eine Korrespondenz zwischen Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur: Jede Arbeitkraft zählte im bäuerlichen Familienbetrieb. Daher waren kurze Wiederverheiratungsfristen üblich. Die drei "Geißeln der Menschheit" - Krieg, Hunger, Seuchen - betrafen die Dörfer im Einzugsbereich der Residenz- und Festungsstadt unterschiedlich. Im Ganzen wurde die Nahrungsmittelversorgung verbessert; direkte Zusammenhänge von Preissteigerungen und Mortalitätswellen lassen sich im Mainzer Raum nicht feststellen. Die lockere ländliche Siedlungsstruktur, die geringe Größe der Landgemeinden und die zunehmende allgemeine Verbesserung der Lebensbedingungen führten im 18. Jahrhundert denn auch zu einem deutlichen "Bevölkerungsüberschuss". Dennoch oder gerade deshalb blieb der ländliche Mainzer Raum noch im 19. Jahrhundert ein Abwanderungsgebiet. Ein Blick auf den demografischen Faktor von Stadt und Land lässt erkennen: Zwischen der katholischen Bischofsstadt und ihrem katholischen Umland bestanden hinsichtlich des nuptialen und generativen Verhalten der Menschen Parallelen. Allerdings war das Bevölkerungswachstum der Stadt nicht überschüssig. Ganz allgemein ist davon auszugehen, dass die Ernährungslage in den Dörfern auch in Krisenzeiten besser war als diejenige der Stadt und die geringere Bevölkerungsdichte auf dem Lande zugleich auch die Mortalität verringerte. In Kriegszeiten war die Mortalität auf dem Lande hingegen ungleich höher als in der Stadt.

Rettingers Untersuchung ist eine quellengestützte Basisstudie, die in eindrucksvoller Weise am Fallbeispiel "Umgebung der Stadt Mainz" paradigmatisch und modellhaft die Bevölkerungsentwicklung im Umfeld einer Residenz- und Festungsstadt nachprüft, in angemessener Form präsentiert und sprachlich luzide darstellt. Zu erwähnen sind noch der umfangreiche Anhang, der in chronologischer Anordnung eine spezifizierte Dokumentation der Bevölkerungszahlen und der vitalstatistischen Daten aufschlüsselt, sowie das benutzerfreundliche Personen- und Ortsregister. Auch das Literaturverzeichnis ist beeindruckend: Mehr als ein halbes Tausend Titel zählt allein die Sekundärliteratur.

Rettingers informatives, zunftmäßig strenges, gut lesbares und drucktechnisch vorzüglich ausgestattetes exemplarisches Werk zeigt möglichen Interessenten einen gangbaren Weg und müsste auch denen, die der Historischen Demografie mit Vorbehalten begegnen, den Respekt vor einer in jeder Hinsicht überzeugenden Leistung abnötigen. Hier wurden keine "Fliegenbeine gezählt", hier wurde elementare Sozialgeschichte geschrieben und das vie quotidienne erzählt.

Werner Marzi