Hans-Dieter Kreikamp (Hg.): Die Ära Adenauer 1949-1963 (= Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe; Bd. XI), Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003, 309 S., ISBN 978-3-534-12335-3, EUR 79,00
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Die Freiherr-vom-Stein-Gedächtnisausgabe ist eine renommierte Reihe, die in kaum einer historischen Seminarbibliothek fehlt und jeweils zentrale Quellen einer Periode für den akademischen Unterricht präsentiert. Im vorliegenden Band kommen wichtige Protagonisten der Ära Adenauer zu Wort, finden sich Schlüsseltexte für das Verständnis der Frühgeschichte der Bundesrepublik, werden weltanschauliche Positionen jener Jahre ebenso dokumentiert wie Grundentscheidungen und wichtige Wendemarken. Genannt seien etwa die Rede Bundeskanzler Konrad Adenauers auf dem Gründungsparteitag der CDU in Goslar (1950), seine Wahlkampfrede 1957, in der er bei einem Wahlsieg der SPD den Untergang Deutschlands prophezeite, oder seine Bewertung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages (1963), die Ansprache des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher (1951) mit deutlichen antikommunistischen Aussagen, Ludwig Erhards Appell, Maß zu halten (1955), dessen berühmte Rede "Wohlstand für alle" (1957), das Godesberger Programm der SPD (1959) oder ihr Bekenntnis zu Westintegration und NATO-Bindung, das Herbert Wehner am 30. Juni 1960 vor dem Deutschen Bundestag ablegte und der Kanzlerkandidat der SPD, Willy Brandt, 1961 bestätigte.
Interessante Gegenwartsbezüge ergeben sich bei der Lektüre der Rede von Bundestagspräsident Hermann Ehlers (CDU), gleichzeitig Synodalmitglied der Evangelischen Kirche in Deutschland, "Zur geistigen Struktur unserer Zeit", in der er 1954 die verderbliche Wirkung der Massenmedien anprangerte, für ihn alles Fluchtwege einer falsch verstandenen Freiheit. Bemerkenswert sind auch die antikapitalistischen Aussagen des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold (CDU), dessen beide Beiträge auf der Grundlage der christlichen Soziallehre die Ideenwelt der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft jener Jahre innerhalb der Union repräsentieren, an deren Spitze Arnold 1958 trat.
Da ansonsten alle im Bundestag vertretenen Parteien berücksichtigt sind, die FDP unter anderem mit Texten von Theodor Heuss und Reinhold Maier, vermisst man wenigstens einen Beitrag aus den Reihen der CSU. Dabei wäre sicher in erster Linie an Franz Josef Strauß zu denken. Die Spiegel-Affäre, in deren Verlauf der damalige Bundesverteidigungsminister zurücktreten musste, wird im übrigen durch Conrad Ahlers berühmten Spiegel-Artikel "Bedingt abwehrbereit" (1962) sowie einen Kommentar Karl-Hermann Flachs, des späteren FDP-Bundesgeschäftsführers, in der Frankfurter Rundschau dokumentiert.
Insgesamt bietet das Buch 34 Quellen, in der Mehrzahl Reden. Ein Teil davon liegt bereits seit längerem in Redensammlungen gedruckt vor, andere stammen aus Beständen des Bundesarchivs, in dem der Herausgeber tätig ist. In 15 Fällen werden die Texte nur in Auszügen publiziert.
Die mangelhafte Präsentation der Quellen mindert den Wert des Bandes erheblich. Bereits die Einleitung macht keine Aussagen zur Quellenauswahl, zu den Editionsgrundsätzen oder zur Kommentierung. Zudem wird nicht immer die neueste Literatur verwendet. Symptomatisch ist, dass das Literaturverzeichnis den Oldenbourg-Grundriß von Rudolf Morsey "Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969" in der ersten Auflage von 1987 zitiert, der in 4. Auflage vorliegt (2000). Wenn die Flucht aus der DDR vor dem Mauerbau erwähnt wird, wäre in der Fußnote auf die erschöpfende Arbeit von Helge Heidemeyer "Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949 - 1961" (1994) zu verweisen. Zum Elysée-Vertrag erwartet man als Literaturhinweis Ulrich Lappenküpers "Die deutsch-französischen Beziehungen 1949 - 1963" (2001). Für die Krise des Parlamentarischen Rates im Frühjahr 1949 (115) ist nicht mehr Karlheinz Niclauß' "Demokratiegründung in Westdeutschland" (1974), sondern Michael F. Feldkamp, "Der Parlamentarische Rat 1948 - 1949" (1998), einschlägig. Kreikamps Urteil über das Scheitern der Entnazifizierung wird in der Forschung mittlerweile differenzierter bewertet. Zu seinen Ausführungen zum Thema Vergangenheitsbewältigung vermisst man Hinweise auf einschlägige neuere Arbeiten, etwa von Norbert Frei ("Vergangenheitspolitik", 1999) oder Peter Reichel ("Vergangenheitsbewältigung", 2001). Im übrigen stutzt der Leser ein wenig, weil diese durchaus zentrale Thematik der Ära Adenauer in der Einleitung zwar angesprochen, jedoch keine entsprechende Quelle in den Band aufgenommen wurde. Grundsätzlich bleibt die Einleitung, die sich um die Verortung der Dokumente in der Ära Adenauer bemüht, vielfach zu allgemein.
Auch die Quellennachweise sind nicht auf dem neuesten Stand der Literatur: Als Nachweis der Rede von Willy Brandt, "Regierungsprogramm der SPD" (Nr. 28), wird eine Bundesarchivsignatur angegeben, dabei liegt die Rede - ausführlich kommentiert - in dem von Daniela Münkel 2000 vorgelegten Band 4 der Berliner Willy Brandt Ausgabe vor, dort mit der richtigen Datierung: 28. April 1961. Das gleiche gilt für die erwähnte Rede von Hermann Ehlers, die 1991 in dem Band "Hermann Ehlers. Präsident des Deutschen Bundestages. Ausgewählte Reden, Aufsätze und Briefe 1950 - 1954" veröffentlicht wurde, im vorliegenden Band jedoch ebenfalls nach einer Bundesarchivsignatur zitiert wird.
Alle Quellen werden durch kurze Texte des Herausgebers eingeleitet. Als Inhaltsangabe gedacht, stehen diese jedoch grammatikalisch falsch im Indikativ und erwecken dadurch den Eindruck eines Kommentars. Was diesen "Regesten" hingegen völlig fehlt, sind genauere Angaben zum Sprecher/Autor sowie eine historische Einordnung und Bewertung der Quelle. Nur so ließe sich rasch entscheiden, in welchem thematischen Zusammenhang sich die Lektüre empfiehlt. Angaben über Ort und Anlass der Reden/Artikel sind stattdessen ganz knapp gehalten und werden in eine Fußnote verbannt. Bei Adenauers Ansprache (Nr. 2) am 20. Oktober 1950 heißt es da: "Die Rede wurde auf dem 1. Bundesparteitag der CDU in Goslar gehalten". Der Herausgeber erwähnt nicht, dass es sich um den Gründungsparteitag der CDU handelte. Zu Arnolds Referat (Nr. 4) auf dem CDU-Bundesparteitag am 20. Oktober 1951 in Karlsruhe findet sich der lapidare Hinweis: "Zum Stellenwert dieser Rede siehe: Hüwel, Karl Arnold, S. 236-238". Genau diese Einordnung hätte man sich vom Herausgeber im Regest gewünscht. Man kann bei einem solchen Band nicht die Maßstäbe einer wissenschaftlichen Quellenedition anlegen und erwarten, dass sich der Leser in der Sekundärliteratur selbst orientiert. Dazu noch ein weiteres Beispiel: Wenn es zur Rede Schumachers am 17. August 1951 (Nr. 3) in der Anmerkung heißt, er habe diese anlässlich der kommunistischen Weltjugendfestspiele in Berlin vor mehreren Tausend FDJ-Mitgliedern gehalten, so bedarf dies einer Erklärung. Schumacher sprach nicht bei einer offiziellen Veranstaltung in Ostberlin, sondern im Westen der Stadt, den mehrere hunderttausend FDJ-Mitglieder während der Weltjugendfestspiele besuchten.
Auch die Kommentierung der Quellen folgt keiner einheitlichen Linie. Manchmal wird ein angesprochenes Ereignis, eine Konferenz oder Rede kommentiert, dann wieder nicht. Anspielungen wie die Erich Ollenhauers auf das Ratifikationsverfahren zum Deutschland- und EVG-Vertrag in seiner Rede vor dem Wahlkongress der SPD am 10. Mai 1953 (Nr. 10, 108f.) oder die von Hermann Ehlers (Nr. 13, 147) angesprochene Barmer Bekenntnissynode 1934 müssten jedenfalls erläutert werden. Das gilt auch für die von Jakob Kaiser erwähnten Schauprozesse gegen Held und Rudert (166), die darüber hinaus im Personenregister fehlen. Sicher wäre es auch hilfreich gewesen, alle Redner oder Verfasser der Quellen jeweils zumindest mit einigen Zeilen vorzustellen. Die Reden von Arnold oder Ehlers sind leichter einzuordnen, wenn man weiß, dass Arnold eine wichtige Rolle bei der CDA spielte und Ehlers Synodaler war, Angaben, die dem Band nicht zu entnehmen sind. Gerade angesichts des stolzen Preises, den die Wissenschaftliche Buchgesellschaft für den Band verlangt, ist die Präsentation der Quellen lieblos und enttäuschend. Die Freiherr-vom-Stein-Ausgabe hat einen Ruf zu verlieren.
Karl-Ulrich Gelberg