Rezension über:

Helmut Altrichter (Hg.): Adenauers Moskaubesuch 1955. Eine Reise im internationalen Kontext (= Rhöndorfer Gespräche; Bd. 22), Bonn: Bouvier 2007, 296 S., ISBN 978-3-416-03162-2, EUR 18,00
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Rezension von:
Andreas Hilger
Hamburg
Empfohlene Zitierweise:
Andreas Hilger: Rezension von: Helmut Altrichter (Hg.): Adenauers Moskaubesuch 1955. Eine Reise im internationalen Kontext, Bonn: Bouvier 2007, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 6 [15.06.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/06/13718.html


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Helmut Altrichter (Hg.): Adenauers Moskaubesuch 1955

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Der Besuch Konrad Adenauers in Moskau im September 1955 hat deutliche Spuren in der bundesdeutschen Erinnerungslandschaft hinterlassen: Noch 1976 hielten rund drei Viertel der Bundesdeutschen die vermeintliche "Heimführung" der letzten verurteilten Deutschen der Kriegs- und Nachkriegsjahre aus sowjetischem Gewahrsam für die wichtigste Leistung des ersten Bundeskanzlers (23). In der öffentlichen Wahrnehmung bzw. Erinnerung rückte - und rückt bisweilen bis heute - der Umstand, dass es sich bei einem Drittel der knapp 10.000 Heimkehrer um verurteilte Zivilisten aus der Sowjetischen Besatzungszone bzw. der DDR handelte, ebenso in den Hintergrund wie die 1955 erfolgte Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der UdSSR. Auch der fünfzigste Jahrestag des Besuches fand, nun schon in der neuen Bundesrepublik, seine wissenschaftliche und gesellschaftliche Würdigung. [1] Der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus muss es dabei auch angesichts eigener Traditionen [2] fast schon naturgemäß am Herzen gelegen haben, ihre 22. Rhöndorfer Gespräche im September 2005 dem Thema zu widmen. Der vorliegende Band vereint die Texte der durchweg fundierten, in der Regel vor allem diplomatiegeschichtlich argumentierenden Vorträge über internationale Perspektiven, des anregenden öffentlichen "Adenauer-Vortrags" von Gerd Ruge sowie die Protokolle lebhafter Zeitzeugenrunden und Diskussionen. Auf diese Weise eröffnet die Lektüre nicht nur den Blick auf die unterschiedlichen außenpolitischen Bewertungen der Zeitgenossen inner- und außerhalb der Bundesrepublik oder Moskaus, sondern auch auf die facettenreiche deutsch-sowjetische und internationale Wahrnehmungsgeschichte des einwöchigen Aufenthalts der westdeutschen Delegation in der UdSSR.

Die einleitende Einbettung der Reise in die europäische Entwicklung mit ihren östlich-westlichen Konfliktlinien (Helmut Altrichter) - die Pariser Verträge, die Beendigung des Kriegszustandes, Regierungswechsel in Frankreich, Großbritannien und nicht zuletzt in der UdSSR, die Gründung des Warschauer Paktes, die Genfer Konferenzen sowie die neue sowjetische Beweglichkeit in Österreich und Jugoslawien - führen die aufgewühlte Atmosphäre der Jahre 1954/1955 deutlich vor Augen. Der sowjetische innenpolitische Kontext der bilateralen Verhandlungsstrategien für September 1955 wird hier wie in den folgenden Vorträgen eher en passant abgehandelt, obwohl er - Stichworte Entstalinsierung und Auflösung des Gulags - gerade für die Entlassung der Kriegsgefangenen von besonderer Bedeutung war (80, 82, 254). Generell fällt, nicht zuletzt wegen der weiterhin schwierigen Aktenlage, der Blick hinter die sowjetischen Kulissen von Reisevorbereitung und Gesprächsregie vergleichsweise schwer. Um noch einmal auf die Entlassung der Kriegsgefangenen zurückzukommen: Hier werden weitere Untersuchungen nicht mehr dem "ob" der Entlassung nachzuspüren haben, sondern der konkreten Terminierung durch die Moskauer Führungsspitzen. Die kritische Aufnahme der Entlassung der Gefangenen durch sowjetische Bürger auf der einen sowie potenzielle langfristige Auswirkungen selbst der vorsichtigen sowjetischen Öffnung gegenüber Kontakten mit dem westlichen Ausland und seinen Menschen auf der anderen Seite verweisen aber eindringlich auf eine multidimensionale historische Wirksamkeit des Gipfels, die erst noch erforscht werden muss (53, 56). Der ambivalente Vorbildcharakter des deutsch-sowjetischen Verhandlungsergebnisses für die Normalisierung der japanisch-sowjetischen Beziehungen Ende 1956 weist ebenfalls über den gängigen Interpretationsrahmen der Moskaureise hinaus (Christian Oberländer).

Von besonderer unmittelbarer Bedeutung für die westdeutsche und sowjetische Gesprächsdiplomatie waren 1955 aber natürlich die Haltungen der westlichen Siegermächte und bis zu einem gewissen Grade auch der Staaten des Warschauer Pakts, nicht zuletzt der DDR. Die informativen Darstellungen französischer, britischer und amerikanischer Erwartungen und Beobachtungen zeigen spezifisch nationale Kriterien und Ranglisten, die im westlichen Bündnis vorherrschten. Sie werfen dabei auch aufschlussreiche Seitenblicke auf die nicht unproblematischen Beziehungen hochrangiger Diplomaten zu ihren Heimatzentralen, welche die Ausformulierung aktueller Politik wie deren spätere Interpretationen erschweren konnten. Ungeachtet dessen war den Westmächten zunächst einmal gemeinsam, dass sie von der Moskauer Einladung an Adenauer kaum wirklich überrascht waren. Wichtiger erscheint, dass die westlichen Staaten, vielleicht mit Ausnahme Frankreichs, die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die bundesdeutsche Öffentlichkeit und damit auch für die Bonner Politik unterschätzten. Schon deshalb legten sie in ihren Überlegungen größeres Gewicht auf deutschland- und sicherheitspolitische Aspekte. Die nationalen bzw. globalen Denkkategorien, von denen sich die ausländischen Beobachter leiten ließen, konnten dabei angesichts der jüngsten Erfahrungen nicht frei von Misstrauen gegenüber Deutschland sein. In Frankreich fürchtete man sich vor allem vor einem neutralen Deutschland. Hier maß man die neuen Ostkontakte Bonns am Maßstab der eigenen "doppelten Sicherheit", die ein geteiltes, überwiegend in das westliche Bündnissystem integriertes Deutschland vor Deutschland selbst und vor der UdSSR bot. Das Gespenst von Rapallo, einer deutschen Schaukelpolitik zwischen Ost und West, beeinflusste auch britische Einschätzungen der Reise. Der amerikanische Außenminister John Foster Dulles dagegen nahm bei aller Vorsicht, zu der gerade sein Botschafter in Moskau, Bohlen riet, den Schachzug des Kreml durchaus auch als Bestätigung seines "rollback" wahr: Als Beweis dafür, dass die Sowjetführung dank des westlichen Drucks erkannt habe, "dass sie sich besser zu verhalten habe." (209) Der endgültige Ausgang der Moskauer Gespräche hat in der westlichen Diplomatie geteilte Reaktionen hervorgerufen. Deutsche Informationen vor und während der Verhandlungsrunden hatten in Verbund mit eigenen Prioritäten dazu geführt, dass Paris, London oder Washington bzw. ihre Vertreter in Moskau andere Resultate der Verhandlungen erwartet hatten: Davon zeugen nicht zuletzt die erregten Reaktionen des französischen und des amerikanischen Botschafters in Moskau. Derlei Hintergrundgespräche legten aber im Grunde vor allem Differenzen innerhalb der deutschen Politik offen und das Endergebnis der Verhandlungen erwies sich durchaus nicht als außergewöhnlich. Mit guten Gründen nimmt etwa Hanns Jürgen Küsters an, dass auch Adenauer den "nahe liegenden Kompromiss" antizipiert hatte (38). Letztlich gaben sich die westlichen Außenministerien denn auch deutlich weniger beunruhigt als ihre Diplomaten vor Ort - ihre entsprechenden Resümees waren zugleich Vertrauensvoten für Adenauer selbst.

Während im Westen die Sieger die diplomatischen Schritte ihres Juniorpartners kritisch beäugten, mussten sich im Osten die Moskauer Satelliten Gedanken über den Kurswechsel der Führungsmacht machen. Die aufschlussreichen Beiträge von Mieczysław Tomala über die polnischen und von Michael Lemke über die ostdeutschen Perzeptionen beleuchten eindringlich diese Asymmetrie innerhalb der Blockbeziehungen. Polen interpretierte die neue Initiative im Licht seiner leidvollen Erfahrungen mit der komplexen, gefährlichen Dreiecksbeziehung mit Russland und Deutschland: Der "Geist von Rapallo" hatte hier eine existenzbedrohende Qualität, die auch die kommunistischen Internationalisten in Warschau umtrieb (242f.). Die eigene Existenz war für die frühe DDR ebenfalls keine Selbstverständlichkeit und sie war in hohem Maße vom Wohlwollen der UdSSR abhängig. Von daher suchte sie den Moskaubesuch Adenauers in den Kontext der Zwei-Staaten-Theorie zu rücken. Dass dabei die Entlassung der Gefangenen aber mit sowjetischer Billigung und Beihilfe im deutsch-deutschen Konkurrenzkampf als genuiner Erfolg Adenauers dargestellt werden konnte, deutete bereits 1955 die bleibende prekäre internationale und vor allem deutschlandpolitische Position Ost-Berlins an.

Die Einordnung des Adenauerbesuchs in den internationalen Kontext war das erklärte Ziel der Tagung (21) und dies ist im komparativen Zugriff sicherlich gelungen. Darüber hinaus regen die Beiträge, wie bereits erwähnt, zu neuen, erweiterten Untersuchungen globaler oder nationaler Aspekte des Besuches an. Hierbei wäre eine umfassende Analyse des Topos von der "Heimführung der deutschen Kriegsgefangenen" durch Adenauer sicherlich ein lohnenswertes Unterfangen.


Anmerkungen:

[1] Vgl. etwa Werner Kilian: Adenauers Reise nach Moskau, 2007 oder die Dokumentationen von SWR/ARD bzw. BR, "Heimkehr aus dem Osten" und "Heimkehr in die Fremde", Sendetermine u.a. 24.8. und 10.10.2005. Von russischer Seite: Vladimir B. Černoleckij / Anatolij V. Torkunov: Ustanovlenie diplomatičeskich otnošenij meždu SSSR i FRG: sbornik dokumentov i materialov, Moskau 2005.

[2] Vgl. Michael W. Krekel: Verhandlungen in Moskau. Adenauer, die deutsche Frage und die Rückkehr der Kriegsgefangenen, hg. von der Stiftung Bundeskanzler-Adenauer-Haus, Bad Honnef 1996.

Andreas Hilger